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Schlußwort

Wir haben im Eingang von den Lehren der Geschichte gesprochen, um derentwillen es der Mühe wert sei, sich genaue Rechenschaft darüber abzulegen, wie der größte Staatsmann der neuesten Zeit Frieden geschlossen hat. Man wird uns nicht so verstehen wollen, als ob sich aus unserer Betrachtung so etwas wie eine Theorie der Friedensschlüsse nach Bismarck, ein Vademekum für Friedensunterhändler gewinnen ließe, oder gar, als ob man aus der Art, wie Bismarck es 1864, 1866 und 1871 gemacht, ersehen könnte, wie es in dem nächst bevorstehenden Falle gemacht werden müsse. Das geht schon darum nicht, weil Bismarck selbst jedesmal anders verfahren ist, so daß seine drei Friedensschlüsse gar nicht den gleichen Nenner haben. Um nur auf eins hinzuweisen: derselbe Mann, der 1864 noch nicht einmal in der Friedensurkunde eingestand, was er wollte, der 1866 die Welt mit der Gestalt, die er den Dingen gab, plötzlich überraschte, hat 1870 das Ziel fast vom ersten Tage an laut verkündigt. Wer darum etwa im Jahre 1916 einen Frieden zu machen und die Absicht hätte, sich nach Bismarck zu richten, der stände vor der Wahl, ob er sich den Wiener, den Nikolsburger oder den Versailler Bismarck zum Muster nehmen wollte. Deutlicher kann es kaum gemacht werden, daß die Geschichte kein Rezeptenbüchlein ist, daß die Erfahrungen der Vergangenheit, wie Schopenhauer überzeugend beweist, sich unmittelbar nicht verwerten lassen, weil die Wirklichkeit immer unter neuen, noch nicht dagewesenen Formen erscheint. Wohl gibt es Parallelen, Analogien, und es ist verführerisch, ihnen in Gedanken nachzugehen. Aber mehr als Ähnlichkeiten sind sie doch nie, und um aus der Vergangenheit eine Richtschnur zu gewinnen, deren Befolgung nicht ad absurdum führen soll, müßte mehr als bloß Ähnlichkeit, es müßte Gleichheit der Fälle bestehen.

Dennoch läßt sich aus der Vergangenheit lernen, aber in dem Sinne, wie es Jakob Burckhardt nennt: nicht um klüger zu werden für ein andermal, sondern um weise zu sein für immer. So kann man auch aus Bismarcks Beispiel Weisheit lernen, die nicht für diesen oder jenen Fall, sondern allgemein gilt. Es gibt auch allgemeingültige Wahrheiten, die sich aus seinen Friedensschlüssen erkennen lassen.

[100] Die erste und oberste ist scheinbar ein Gemeinplatz; man kann sie mit Shakespeares Worten ausdrücken: "Nichts ist ohne Rücksicht gut." Was 1866 zwingende Notwendigkeit war, den Besiegten zu schonen, um ihn versöhnen und zum Freunde gewinnen zu können, wäre 1871 Torheit gewesen; was 1864 höchste Klugheit war, das Problem ungelöst zu lassen, das wäre in jedem anders gearteten Fall gedankenloser Leichtsinn.

Jeder Friedensschluß hat einen Januskopf, er beendet einen Abschnitt und eröffnet einen neuen. Der Laie ist nur zu geneigt, vor allem das erste Antlitz zu sehen. Ihm erscheint der Friede als das Ende des Krieges. Wer schärfer blickt, wird das Wesentliche auf der anderen Seite erkennen. Die Partie geht ja stets weiter, es gilt also nur, die günstigsten Plätze zu besetzen für die Fortsetzung. Im Friedensschluß nimmt der Sieger seine Aufstellung für neuen Kampf. Darin liegt die Schwierigkeit, die einen wirklich gelungenen Frieden so selten macht. Das Fazit aus abgelaufenen Begebenheiten ausrechnen, kann jeder Schuljunge; den Ansatz für ein neues weltgeschichtliches Exempel richtig zu machen, gerät nur dem Meister. Dazu gehört die Fähigkeit, die unter allen menschlichen Gaben die höchste und seltenste ist und die die lateinische Sprache darum so tiefsinnig mit dem Begriff der Gottheit verbindet: Divination. Wer einen Frieden richtig schließen will, muß in der Zukunft mit politischem Seherblick lesen können. Bismarck konnte es wie wenige.

Die Friedensschlüsse von Wien und Nikolsburg beweisen es am besten, jener im kleinen, dieser im großen. Hatte er dort den Lauf, den die Dinge nehmen würden, für die nächsten Jahre vorausgesehen, so ahnte er ihn hier für Menschenalter. Darum schloß er 1864 einen Frieden, der gar kein Friede, nur ein Waffenstillstand war und den Keim eines neuen, größeren Krieges in sich trug, darum verzichtete er 1866 auf die volle Ausnutzung der kriegerischen Erfolge. Auch 1871 hat sein Zukunftssinn ihn nicht verlassen. Richtig sah er voraus, daß das folgende Menschenalter vor allem die Aufgabe haben werde, das Errungene zu verteidigen, und daß es darum nur darauf ankäme, sich für die Verteidigung so stark wie möglich zu machen. Worin er sich täuschte, war nur das Maß der zur Abwehr nötigen und der zurzeit auch erreichbaren Mittel. Aber auch der Grund dieses Irrtums ist lehrreich: das Bedürfnis, Herr der Lage zu bleiben, allein zu bestimmen, was sein soll. Um diesen Vorzug nicht zu verlieren, hat er 1866 wie 1871 seine Forderungen ermäßigt; nur über die Notwendigkeit dazu befand er sich das zweite Mal im Irrtum.

Einen Ausspruch besitzen wir doch von ihm, der einigermaßen wie ein allgemeiner Lehrsatz, wie ein Dogma des Friedensschlusses aussehen könnte. Man soll, so hat Bismarck einmal mit Bezug auf den Nikols- [101] burger Frieden gesagt, niemals nehmen, was man haben kann, immer nur, was man braucht. In diesen Worten liegt der ganze Unterschied zwischen dem denkenden Staatsmann, der zur Erreichung gewisser politischer Ziele zum Schwerte gegriffen hat, und dem primitiven Eroberer, der Krieg führt, weil er glaubt, siegen zu können. Dschingis Chan und Napoleon nehmen, was sie haben können, Friedrich der Große und Bismarck, was sie brauchen. [Scriptorium merkt an: die Sieger des Ersten Weltkrieges gehörten auch zur ersten Sorte...]

Innerhalb dessen, was man braucht, gibt es mancherlei Abstufungen. Nicht jedes Bedürfnis ist zwingend, für manches kann es Entschädigungen auf anderem Gebiet geben, auf anderes kann man unter Umständen ganz verzichten. Diese Stufen richtig abzuschätzen, um des Wünschenswerten willen das Notwendige nicht zu gefährden, das ist für jeden Unterhändler die wichtigste Kunst. Dafür wird Nikolsburg immer das unübertroffene Musterbeispiel sein. Niemals auch ist die Lehre klüger beherzigt und erfolgreicher angewandt worden, daß jedes Ziel durch zwei Linien, Richtung und Entfernung, bestimmt wird, daß in der Politik die Hauptsache ist, die Richtung zu finden und festzuhalten, und daß man um so eher darauf verzichten kann, auch die Entfernung sogleich zu treffen, wenn die Dinge durch ihr eigenes Gewicht in der gewiesenen Richtung fortgetrieben werden.

Was man brauche, war in Bismarcks Lage vielleicht weniger schwer zu erkennen als in mancher andern, und doch – so schwer ist diese Kunst – hat auch er sich einmal darin geirrt. Mit diesem einen Fehler weist er mahnend darauf hin, daß das Gebot des Maßhaltens nicht das einzige ist, dem es zu gehorchen gilt. Es hat auch eine Kehrseite: Nehmen, nur was man braucht, dieses aber ganz! Der Sieger, der den Frieden diktieren kann, hat die Zukunft in seiner Hand. Soll er sich hüten, ihr Schifflein schwerer zu belasten, als gut ist für die Fahrt, so soll er nicht minder bedenken, daß, was er von diesem einen Augenblick ausschlägt, keine Ewigkeit seinen Nachkommen zurückbringen wird.

Man hat in diesen Tagen die Frage gehört: Was täte Bismarck? Irgend jemand hat sogar unter diesem Titel ein Büchlein über Fragen der Gegenwart und Zukunft verfaßt, und ein ehemaliger deutscher Gesandter hat ein Vorwort dazu geschrieben. Verfasser und Vorredner haben, so muß man fürchten, weder Bismarck noch ihre und unsere Zeit verstanden, sonst hätten sie diese Frage nicht aufgeworfen. Was Bismarck tun würde, dürfen wir gar nicht fragen, weil es darauf eine Antwort nicht gibt, noch geben kann. So wenig es gelingen würde, auch nur einen einzigen fehlenden Vers von Dante, Shakespeare oder Goethe so zu ergänzen, wie der Dichter selbst ihn schuf, ebensowenig ist es möglich, zu sagen, was Bismarck in einer gewissen Lage getan hätte oder tun würde. Denn das ist ja das Kennzeichen des Genies, daß ihm Dinge einfallen, auf die kein anderer kommt. In unserem Falle [102] aber ist die Frage darum doppelt müßig, weil die Probleme, die heute ihre Lösung heischen, in der Welt Bismarcks noch gar nicht existierten. So genial und kunstvoll seine Arbeit auch war, er hat es doch immer nur mit Aufgaben zu tun gehabt, deren keine an Größe, Tragweite und Kompliziertheit sich auch nur von fern mit dem messen kann, was heute vor uns steht. Er hat Europa zur Bühne seiner Taten gehabt, unsere Geschichte spielt auf dem Erdball. Er lebte und dachte in dem Europa des Wiener Kongresses und des Fürsten Metternich; für uns gilt es, ein neues Europa aufzubauen. Er riß Zwischenwände ein, wir müssen neue Grundmauern legen. Er wäre nicht der große Meister des politischen Augenmaßes und Künstler der Wirklichkeit gewesen, hätte er über die Grenzen seiner Welt hinausgestrebt wie Napoleon; wir wären geistig blind und lahm, wie die Haugwitz und Konsorten, die den Staat Friedrichs des Großen ins Verderben stürzten, wenn wir die neue Welt, die sich uns auftut, nicht sähen und nicht zu gewinnen suchten. Auch ein Bismarck, der heute aufzutreten hätte, würde ein anderer sein als der, der vor 26 Jahren die Bühne der Weltgeschichte verließ, derselbe – das wird man mit Erich Marcks nicht stark genug betonen können – nur in einem: in dem rücksichtslosen Streben nach Deutschlands Macht und Ehre. Wie sich dieses Streben betätigen würde, das wäre sein Geheimnis, das Geheimnis des Genius. Darum ist es ein billiger, aber kein löblicher Kunstgriff, was man selbst getan sehen möchte für das auszugeben, was Bismarck täte.

Mit mehr Recht dürften wir wohl fragen: was täte Bismarck nicht? Darauf gibt es wenigstens die eine sichere Antwort: er würde sich nicht danach umsehen, was andere täten oder getan haben, er wüßte von allem Anfang, was er zu tun hätte. Bismarcks Friedensschlüsse sind die seinen nicht nur, weil er sie unterschrieben hat. Wissen, was man braucht, wissen, was man kann, wissen, was man will, und von dieser Erkenntnis geleitet jede Gunst des Augenblicks nutzen zu bleibendem Gewinn – das ist die große Lehre, die aus seinen Friedensschlüssen wie aus allen seinen Taten spricht. Sie klingt so einfach und ist doch so schwer zu befolgen, denn es ist nun einmal so, wie Goethe sagt, "daß alles Denken zum Denken nichts hilft, man muß von Natur richtig sein." Wie in Wissenschaft und Kunst, so trifft auch in der Politik das Richtige nur, wer von Natur richtig ist. Ein Friedensschluß ist ein Kunstwerk, und wie ein großes Kunstwerk einen großen Künstler, so setzt ein wirklich guter Friedensschluß eine überlegene staatsmännliche Persönlichkeit voraus. Die aber ist ein Geschenk des Himmels; man kann sie weder machen noch ernennen, man kann sie höchstens – finden.

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Bismarcks Friedensschlüsse
Dr. Johannes Haller