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X. Die Anschlußfrage als Wirtschaftsproblem

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Die Industrie
Bundeskanzler a. D. Ernst Streeruwitz (Wien)

Lage der Industrie • Leistungswert einer Industrie • Grundlagen aus der Vorkriegszeit • Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich • Industrie der Nachkriegszeit • Die industrielle Wirtschaft Deutschösterreichs durch die Friedensverträge ins Mark getroffen • "Made in Germany" • Die Annexion der deutschen Kolonien • Der Zusammenschluß als Ausweg • Österreichs industrieller Geist kann sich mit der Selbständigkeit des Staates nicht abfinden • Hemmungen • Beiderseitiges Größenverhältnis • Donauföderation • Angeblich geringere Arbeitsleistung in Österreich • Stellung einzelner Industrien zur Frage des Zusammenschlusses • Berg- und Hüttenwesen • Maschinenindustrie • Metallindustrie • Automobilindustrie • Elektroindustrie • Baustoffindustrie • Textilindustrie • Papierindustrie • Lebensmittelindustrie • Energieexport • Chemische Industrie • Holzausfuhr • Zusammenfassung • Mahnung an das Deutsche Reich.

Von zwei Grundsätzen hat – im Gegensatz zu manchen einschlägigen Betrachtungen – jede ernste Erörterung über die Stellung der Industrie zum Anschluß ihren Ausgang zu nehmen. Sie hat aus Tatsachen im Wege von Schlußfolgerungen reale Ergebnisse zu suchen und sich gefühlsmäßiger Denkeinschläge zu enthalten. Anderseits ist durch die Sammlung von Einzelheiten einschließlich sogenannter verläßlicher Ziffern und durch Wiedergabe der Stellungnahme einzelner Betriebszweige ein richtiges Urteil nicht zu gewinnen. Die Industrie ist mit der Gesamtwirtschaft des Landes und diese mit der der Nachbarstaaten aufs engste verflochten; ihre Lage wird durch die Entwicklungsphasen und Konjunkturen des ökonomischen Weltgeschehens stärkstens beeinflußt. Wir leben in einer Störungsepoche unbestimmter Dauer. Die Sachkultur ist der inneren Zivilisation, der Lebensanspruch unserer Zahlungsfähigkeit, die Technik ihrer wirtschaftlichen Organisation weit vorausgeeilt und es ist nicht abzusehen, wann und wie die "Synchronisierung und Parallelschaltung der geistigen und materiellen Kraftzentren" zu einheitlich geordneter Funktion gelingen wird.

Der theoretische Leistungswert einer Industrie beruht auf der Größe und Güte des vorhandenen Apparates. Für den je- [349] weiligen Erfolg sind die Arbeitsbedingungen, dann die Versorgung mit Roh- und Hilfsstoffen, schließlich die Aufnahmsbereitschaft des maßgebenden Marktes entscheidend. Die neuzeitliche Entwicklung des Verkehrs hat die Voraussetzungen für die arbeitsteilige, gütertauschende Weltwirtschaft geschaffen; Voraussetzungen wohlgemerkt! Denn infolge der erwähnten "Voreilung" des Fortschrittes gegenüber seiner zweckdienlichen Auswertung sind wir von einer zufriedenstellenden Durchorganisation der neuen großen Gemeinschaft noch weit entfernt. Es tritt hinzu, daß der Weltkrieg das Wachstum der industriellen Produktion in Übersee hochgetrieben, in Europa gelähmt oder einseitig gestaltet, der Gewaltfriede den organischen Aufbau des Kontinents zerrissen, den Kreislauf der Wirtschaft aus gewachsenen "Blutgefäßen" in ein falsch konstruiertes, stümperhaft, vielfach bösartig bedientes Röhrensystem abgelenkt hat. Unter diesen Verhältnissen wird jede Vorhersage über die spätere Gestaltung wirtschaftlicher Probleme unsicher, wenn man versucht, vom Denken und Abschätzen in großen Zügen auf das Errechnen von Einzelheiten überzugehen.


 
Die Grundlagen aus der Vorkriegszeit

Erst jetzt erkennen wir mit voller Klarheit die außerordentlichen wirtschaftlichen Vorteile, die sich für die alte Monarchie aus ihrer geschichtlichen Entwicklung und aus ihrem geographischen Aufbau ergeben haben. Sie ist eine Art wirtschaftliche Festung größten Formats gewesen, in der primitive und vorgeschrittene Länder, Bergland und Flachland, Gebiete der Urproduktion und solche industriellen Charakters zu naturgegebener Autarkie vereinigt waren. Die alte Monarchie hat ihr wirtschaftliches Gedeihen in einer gewissen Selbständigkeit vornehmlich ihrer historischen Aufgabe im Südosten Europas als weitem inneren "Kolonisationsgebiet" bei immer wieder erfolgter Ergänzung desselben durch neu einverleibte Länder verdankt. Einheitlich und geradlinig war diese Entwicklung von der Berufung deutscher Kolonisten in das Sudetengebiet bis zur Kultivierung alten Türkenlandes im Südosten. Ganz anderer Art waren die Notwendigkeiten und Möglichkeiten der reichsdeutschen Wirtschaft. Nach Jahrhunderten der Zerrissenheit mit nur bescheidenen Ansätzen gesamtwirtschaftlichen Aufbaues hat die Herstellung der Reichseinheit [350] im Jahre 1871 dann mit einem Schlag alle latenten Kräfte zu einem gewaltigen Aufschwung entfesselt, in dessen Verlauf der berechtigte, aber den anderen Mächten ungewohnte Anspruch Deutschlands auf Weltgeltung Neid und Gegnerschaft ausgelöst hat. Österreich war also für die Industrie vor dem Krieg das Land des aus den Verhältnissen gegebenen, planmäßigen, konservativen Aufbaues auf der Grundlage gesicherten inländischen beziehungsweise nachbarlichen Absatzes, Deutschland hingegen das mit lange verhaltenen Energien gesättigte, in statu nascendi höchst leistungsfähige Land der stark aktiven Wirtschaftspolitik mit forcierter Nachholung seines Zurückbleibens durch beschleunigte Industrialisierung gerade in einer Zeitperiode, deren Fortschritt in Technik und Verkehr solche Bewegung nach Umfang und Stärke zwangsläufig fördern und vervielfältigen mußte. So wäre die Lage auf beiden Seiten gewesen, wenn die Salzburger Union Verhandlungen vom Jahre 1918 über die enge wirtschaftliche Bindung von Deutschland und Österreich nicht durch Zusammenbruch und Gewaltfrieden in ihren Grundlagen zerstört und sohin undurchführbar geworden wären.


 
Die Industrie in der Nachkriegszeit

Die alte Monarchie ist in Trümmer geschlagen, den "Auchsiegern" vom alten Land gegeben worden, was ihnen nehmenswert geschienen hat. Der Rest – eine Großstadt, ein Hochgebirge und ein mäßiges Stück Flachland – ist zur Eigenstaatlichkeit verurteilt, in seiner "Unabhängigkeit" vertraglich gesichert, mit dem Namen "Österreich" etikettiert und dann sich selbst überlassen worden. Durch diese Neuformung in den Friedensverträgen ist die industrielle Wirtschaft Österreichs ins Mark getroffen worden. Die innere Ausgeglichenheit des alten, auf natürlicher Grundlage gewachsenen, selbständigen und zu besonderer Selbständigkeit befähigten Wirtschaftsgebietes ist dem neuen Lande nicht mehr gegeben. Die horizontale Verteilung der Produktion ist gestört, die vertikale Gliederung der Industrie zertrümmert worden. Jahrhundertelange Gemeinschaft ist der Aufrichtung von Zollschranken und Verboten seitens der Nachfolgestaaten gewichen – im krassen Gegensatz zu den im Irrglauben an die Einsicht der Partner noch jahrelang festgehaltenen, freihändlerischen Tendenzen in Österreich. Seine Industrie hat früh- [351] zeitig mit Tatkraft und Geschick Anpassung an die neuen Verhältnisse gesucht. Die Umstellung würde in einer noch größeren Anzahl von Fällen gelungen sein, wenn nicht der Mangel an Kapital im Gefolge der Währungszerstörung und die unerträglich hohen Zinsen des Leihgeldes der technischen Erneuerung hinderlich gewesen wären. Der vielgenannten Rationalisierung hat das unentbehrliche Korrelat des Massenabsatzes gefehlt. Der österreichische Industrielle hat vielfach nur die Wahl zwischen einer bei steigenden Lasten arg gedrosselten Erzeugungsmenge einerseits und gefährlicher Verschuldung für Investitionen anderseits gehabt. Er mußte das Werk lebenslänglicher Aufbauarbeit schrumpfen und vergehen sehen, wenn er sein Geschäft in konservativer, Gefahren ausweichender Art betrieben hat, oder er lief Gefahr, nach kurzer Scheinblüte in Überschuldung zusammenzubrechen, wenn stärkere Willenskraft ihm den Weg nach vorwärts gewiesen hat. Ich will mit dieser Feststellung nur gewisse Fehlurteile über den österreichischen Industriellen richtigstellen, nicht aber mich in die Erörterung der viel zitierten, aber begrifflich unklaren "Lebensfähigkeit" einlassen. Der Gedanke des Zusammenschlusses ist für mich nicht vom Standpunkt der Brotportion, sondern von dem der Wiederaufrichtung des deutschen Volkes zu behandeln.

Anders, aber gleich stark wie in Österreich ist im Reich die Industrie von der Katastrophe betroffen worden. "Made in Germany" war kein leeres Wort, es war die stolze Marke des mächtig entwickelten, zur Weltgeltung gelangten deutschen Exportes nach allen Erdteilen gewesen. Der Krieg hat die Arbeit von zwei Menschenaltern vernichtet: Erst durch Blockade, Beschlagnahme privaten Vermögens und Verfolgung der Deutschen in der ganzen Welt, dann durch Wegnahme des Heeres und der Flotte und Auferlegung vieljähriger Tributpflicht. Der Raub des deutschen Kolonialgebietes wird in seinen Folgen für die deutsche Rohstoffversorgung und die industrielle Produktion zurzeit noch gar nicht voll erkannt. Zu viel Hände feiern im Reich. Die Wirtschaft eines großen, eng wohnenden, technisch überragend befähigten und arbeitsamen Volkes braucht – mögen auch die Erfolge in der Wiederaufrichtung der Großschiffahrt und des Freihandels bedeutend sein – eigenes Überseeland als gesichertes Absatzgebiet für seine Industrie, als Reserveraum für seinen Menschenüberschuß, als Aufbauland für seine zivilisatorische Betätigung und als Attribut seines Ansehens [352] in der Welt. Sein Mangel ist weniger erträglich als je in einer Zeit, in der die Selbstversorgung überseeischer Rohstoffgebiete mit Fertigwaren rasche Fortschritte aufweist, in der die Vereinigten Staaten sich gegen industrielle Importe durch Hochzölle absperren, in der Asien gegen Europa Front macht mit dem Ergebnis einer 10%igen Abnahme des europäischen und einer 35%igen Zunahme des amerikanischen und asiatischen Welthandelsanteiles.


 
Der Zusammenschluß als Ausweg

Wenden wir uns nun der wichtigen Überlegung zu, wie die österreichische und die deutsche Wirtschaft im Zeitpunkt des Zusammenschlusses möglicherweise aussehen werden, so begeben wir uns schon auf das Gebiet von Vorhersagungen, deren Sicherheit angesichts der Annulierung bisher bewährter wirtschaftlicher Grundsätze und des elementaren Aufstieges neuer Wirtschaftsformen und Methoden recht gering geworden ist. Verhältnismäßig einfach liegen die Dinge für Österreich. Ein Staat mit sechs bis sieben Millionen Menschen, gewaltsam abgerissen von den Fundamenten seiner politischen und wirtschaftlichen Vergangenheit, noch vor kurzem das Haupt- und Mittelland eines zehnmal größeren Reiches, eingeengt und von allen Seiten abgesperrt, hat auf diese Art keineswegs jene Aussichten, die den Fähigkeiten seiner Bevölkerung und den trotz Verarmung immer noch ansehnlichen Werten und Möglichkeiten seiner Lage, seines Bodens und seines Produktionsapparates entsprechen. Mit der Aussicht, durch Selbstversorgung mit Nahrung und bestmögliche Deckung des eigenen Fertigwarenbedarfes unter stärkstem Zollschutz, durch die Ausfuhr gewisser, von Weltmarktpreisen minder abhängiger Spezialartikel und durch Fremdenverkehr und Zwischenhandel dauernd ein enges und bescheidenes Leben zu fristen, wird sich der immer noch von der Erinnerung an eine größere Vergangenheit getragene industrielle Geist Österreichs niemals abfinden können. Ihm bleibt in seiner Gesamtheit – ohne Rücksichtnahme auf das Für und Wider vom Standpunkte einzelner Geschäftszweige – als einzig gangbarer Ausweg der Anschluß an ein größeres Wirtschaftsgebiet. In dieser grundlegenden Frage vermögen wir aber weder in der Wiederherstellung der mutwillig zerschlagenen Einheit von gestern, noch auch in der Schaffung unorganischer, [353] künstlicher Gebilde nach der Art von Paneuropa die Lösung zu finden. Die Tendenz solcher Vorschläge ist doch nur die Verewigung uns zugefügten Unrechtes und die Beruhigung drückender Sorgen unserer Kriegsgegner um die Stabilität des Friedens von 1919. Durch Überkleisterung der Oberflächenrisse wird eine Behebung der gefährlichen inneren Spannungen niemals möglich werden. Die österreichische Industrie ist sich darüber klar, daß sie nicht Zeit hat zu warten, bis diese nebelhaften Pläne feste Formen annehmen und daß gerade für sie Erfolgsarbeit nur in einem wohlgeordneten, dauernd befriedeten Mitteleuropa denkbar ist. Der deutsche Industrielle aber wird sich sagen müssen, daß der Weg zu den Ländern im Südosten Europas die Donau abwärts über Österreich geht und daß die künftige Wiederaufrichtung der Wirtschaft des Orients und ihre Heraufbringung auf das mitteleuropäische Niveau eine Fülle von zusätzlicher Zukunftsarbeit bringt, die im Sinne vorangegangener Darlegungen weit draußen in der Welt zu suchen gerade im gegenwärtigen Zeitpunkt recht unsicher erscheint.


 
Hemmungen

Österreich hat im Jahre 1929 Waren für 350 Millionen Schilling, darunter Fertigwaren für 200 Millionen Schilling, nach Deutschland exportiert und Waren im Werte von 700 Millionen Schilling, darunter Fertigwaren für 500 Millionen Schilling, aus Deutschland eingeführt. Dieser rege Warenaustausch, der sich allerdings nicht gleichmäßig auf die verschiedenen Warengruppen erstreckt, bietet an sich das Bild schon bestehender wirtschaftlicher Verflechtung, welche die künftige engere Bindung wirksam vorbereitet. Allerdings mit dem durch Vergleich obiger Ziffern sich zwangsläufig ergebenden Vorbehalt einer starken Korrektur für Österreich, sei es direkt im Güteraustausch zum Reich oder indirekt durch Eröffnung neuer Absatzgebiete als Folge des Zusammenschlusses.

Mögen aber die Gedankengänge im großen eindeutig sein und den Wunsch rechtfertigen, über Zwischenstufen und Einzelschicksale hinwegzugehen, wir dürfen dieser Versuchung nicht erliegen. Auch aus kleinen Empfindlichkeiten und Befürchtungen kann ein mächtiger Strom des Widerstandes entstehen. Ebensowenig können wir nach so schweren Verlusten um ferner Ziele willen die [354] gegenwärtige Existenz und Arbeitsmöglichkeit von Deutschen in den beiden Ländern leichtfertig preisgeben. Es ist nicht gleichgültig, wenn wieder einmal ein Industrieort im Reich vermehrter Arbeitslosigkeit preisgegeben wird oder ein Alpental in Österreich verödet. Und an diesem Punkt muß deutlich ausgesprochen werden, daß schon die beiderseitigen Größenverhältnisse der Wirtschaften eine gewisse Unterscheidung bedingen. Man wird im Reich aus der Mentalität heraus müssen, daß jedes, auch das kleinste deutsche Interesse exzessiv geschützt, daß jedes von Österreich angestrebte lebenswichtige Zugeständnis durch oft schwer tragbare Gegenzugeständnisse erkauft werden kann und daß große Möglichkeiten für die Zukunft der deutschen Wirtschaft ohne Schmälerung von Einzelinteressen zu erreichen sind. Die österreichische Industrie hat sich mit dem schicksalmäßigen Abbau auf gewissen Gebieten, der heute schon in vollem Gang ist, abfinden müssen. Sie ist klarsehend genug, um nicht der falschen Hoffnung auf das Wunder einer Wendung im Rahmen von heute zu leben. Sei auch ein gewisser verstärkter Wettbewerb der deutschen Industrie auf dem bisher zollgeschützten österreichischen Inlandsmarkt bei Aufhebung der Zollgrenzen sicher zu erwarten, der Nachteil wird durch die Einfügung der österreichischen Produktion in die vielfach größere deutsche Wirtschaft mit allen Vorteilen des zusätzlichen Inlandsmarktes und des erleichterten Zutrittes zu den Weltmärkten kompensiert werden. Für den Osthandel beider Länder sind Erschwerungen nicht zu erwarten. Deutschland wird über Wien den nahen Orient mit stärkerer Wirkung bearbeiten können. Für Österreich wird als Teil eines Staates mit 70 Millionen weitgehend industrialisierter Bevölkerung die gegenwärtige Empfindlichkeit gegen Agrarimporte aus dem Osten gemildert und dadurch die Regelung der Handelsbeziehungen erleichtert sein. Wir können schließlich auch im Rahmen der durch die Friedensverträge gegebenen Sachlage keine unüberwindlichen Hindernisse für den allerengsten wirtschaftlichen Zusammenschluß unserer beiden Staaten ersehen.

Stärker und schneller als alle Schlagworte von Zollabbau, Zollfrieden, Verbotbeseitigung hat sich bei uns der Gedanke durchgesetzt, daß in Abänderung der bisherigen mechanischen Anwendung des Meistbegünstigungsgedankens doch in absehbarer Zeit Sonderabmachungen zwischen benachbarten und wirtschaftlich aufeinander angewiesenen Staaten ver- [355] langt und durchgesetzt werden können. Gewisse Strömungen im Sinne der Wiederherstellung alter Gemeinsamkeit unter dem Schlagwort der Donaukonföderation erwecken berechtigtes Mißtrauen. Man muß die Frage aufwerfen, welche Motive maßgeblich sein mögen, um diese Wünsche von heute mit den Taten von gestern vereinbarlich zu finden, und man fürchtet, zum Schaden durch die vollzogene Trennung nunmehr neuen Nachteil durch Preisgabe seither aufgewendeter Bemühungen und Kosten hinzutreten zu sehen.

Für die Entwicklung der Industrie wird in der Folgezeit noch eine Reihe von Einflüssen von Bedeutung werden, die sich aus der zwangsläufigen Änderung der gesamten wirtschaftlichen Struktur ergeben: Die horizontale und vertikale Massierung der Industrie zum Großbetrieb, der in seinen Zielen noch nicht klar zu übersehende Kampf zwischen freier und gebundener Wirtschaft, das Streben nach dem Gleichgewicht zwischen asozialem Individualismus und falschsozialem Aufzehrungs- und Verteilungsstreben. Die zweckdienliche Lösung dieser Probleme wird durch die Vergrößerung des Wirtschaftsgebietes in keiner Richtung gehemmt oder geschädigt, vielmehr in jeder Richtung gefördert werden.

Noch ein Moment bedarf freimütiger Klarstellung unter Freunden. Es fehlt leider auch bei wirtschaftlichen Verhandlungen nicht an Stimmen aus dem Reich, welche den Anschluß mit recht eigentümlichen Hinweisen auf angebliche Minderwertigkeit des österreichischen Partners bekämpfen zu sollen glauben. Solche mehr in eigener Überheblichkeit als in Kenntnis der Verhältnisse begründete Vorurteile zu widerlegen, erscheint mir ebenso undienlich, wie ich es vermeide, gewisse Krisenerscheinungen ernster Natur im Reich, die keineswegs rein objektiv sind, zu beleuchten. Die Frage des Vergleiches der beiderseitigen fiskalischen und sozialen Belastungen der industriellen Produktion erscheint zumindestens ebenso kontrovers wie die Erfolgaussichten in Österreich und Deutschland, diesbezüglich eine Abbürdung herbeizuführen. Die von österreichischer Seite zuweilen ausgesprochene Befürchtung wegen der Heranziehung zu deutschen Reparationsleistungen ist sachlich und formal unbegründet. Österreich selbst ist von ähnlichen Leistungen endgültig frei, so daß sich auch in umgekehrter Richtung Weiterungen nicht ergeben können. Im übrigen [356] werden diese Dinge im Laufe des nächsten Dezenniums Änderungen unterliegen, welche heute noch nicht zu übersehen sind, deren Richtung und Ziel aber nicht zweifelhaft sein können. Die von deutscher Seite zuweilen behauptete geringere Arbeitsleistung in Österreich und das umgekehrt gewiß als Moment der Produktionskostenerhöhung nicht zu unterschätzende höhere Lohnniveau in Deutschland stehen sich in gewissem Sinne ausgleichend gegenüber. Solche Unterschiede sind übrigens auch heute schon im Reich selbst vorhanden. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen in großen Ländern sind niemals einheitlich gewesen und sie werden es auch in Zukunft nicht sein, ob die Wirtschaftseinheit mit Österreich vollzogen sein wird oder nicht.


 
Die Stellungnahme einzelner Industrien zur Frage des Zusammenschlusses

Ein Großteil der vielfältigen und stark gegensätzlichen Betrachtungen zu diesem Gegenstand in Deutschland und Österreich beruht auf der Vorkriegsideologie und den sachlichen Grundlagen der Vorkriegswirtschaft. Die großen Umwälzungen weltpolitischer und weltwirtschaftlicher Natur werden nicht entsprechend gewürdigt und es wird der Fehler begangen, aus den Erscheinungen der Umsturzperiode voreilig neue Grundsätze aufzustellen. Wir vermögen an dieser Stelle nur ganz im großen für einzelne Gebiete beispielsweise Angaben zu machen.

Als Typus einer Industrie, deren gegenwärtige Verfassung unseren Absichten entgegenkommt, ist die österreichische Berg- und Hüttenindustrie anzusehen. Die Ausscheidung der großen Kohlenvorkommen aus dem neuen Österreich bedingt unabänderlich eine starke Abhängigkeit vom Ausland, die bei verminderter Lieferungsbereitschaft unserer außerdeutschen Versorgung bis zur Krise verstärkt werden würde. Umgekehrt bietet auch bei vorsichtiger Schätzung der Ausbau unserer Wasserkräfte die Sicherheit von Gegenleistungen an Deutschland. Die deutsche Eisenindustrie ist in ihrer Rohstoffdeckung durch die Friedensverträge derart eingeengt worden, daß der bezügliche österreichische Anteil an der künftigen Einheitswirtschaft mit einem vollen Viertel als recht ansehnlich bezeichnet werden kann. Daß gerade auf diesem Gebiete ein enges privatwirtschaftliches Einvernehmen bereits besteht, ist eine erfreuliche Tatsache.

[357] Zu den Industrien, welche dem Zusammenschluß mit Sorge entgegensehen, gehört die größte und auch nach der Arbeiterzahl bedeutendste österreichische Industrie, die Maschinen- und Metallindustrie. Eine unvermittelte Zollunion ohne langjährige Vorbereitung oder ohne längere Belassung einer Zwischenzollinie würde für Österreich unerträglich sein, weil Deutschland mit seiner hochentwickelten und spezialisierten Erzeugung, auf ein großes, bedarfsreiches Absatzgebiet gestützt, einen vernichtenden Wettbewerb zu führen vermöchte. Wir sind aber der Meinung, daß in der Zusammenwirkung zwischen einem schon in Gang befindlichen, natürlichen Schrumpfungsprozesse in Österreich und gemeinsamer Neuaufbauarbeit der Übergang sich seinerzeit ohne unnötige Opfer wird vollziehen lassen. Der Erfolg des österreichischen Automobil- und Motorräderexports in Deutschland geben der Erwartung Raum, daß die guten österreichischen Fabriken sich den gebührenden Anteil am deutschen Konsum sichern würden, ohne den Absatz der Erzeuger im Reich ernstlich zu schädigen. Die Gefahr für beide droht hier von amerikanischer Seite durch weitgehende Preisunterbietung insbesondere in billigen Wagen.

Außerordentlich schwierig ist die Beurteilung des Anschlusses für die große elektrotechnische Industrie in Österreich. Es handelt sich in diesem Falle um den Schutz bedeutenden investierten Kapitals und um die Erhaltung der Beschäftigung einer großen Anzahl qualifizierter Arbeitskräfte, deren anderweitige Unterbringung im Falle von Zusammenlegungen nicht leicht möglich erscheint. In diesem Falle müßte die Erhaltung der österreichischen Arbeitsstätten verläßlich gesichert werden, was auf Grund der schon bestehenden starken Bindungen zwischen der deutschen und der österreichischen Industrie möglich werden könnte. Betreffend die Erzeugnisse der Baustoffindustrien dürfen, soweit die hohen Frachtkosten nicht an sich eine gewisse Rayonierung bedingen, bei der Einfachheit des Artikels Kontingentierungsvereinbarungen keinen unüberwindlichen Hindernissen begegnen.

In der Textilindustrie sind die wichtigsten Zweige durch die neue Grenzenziehung für Österreich in geradezu verhängnisvoller Weise betroffen worden. Einer Überschußerzeugung von Garnen aus Baumwolle, Wolle, Hanf und Jute steht ein offenkundiger Mangel an Webstühlen gegenüber, während umgekehrt die deutschen Webereien starke Garnkonsumenten sind. Die übergroße österreichische [358] Druckerei- und Färbereiindustrie würde in der Erschließung des deutschen Marktes ihre Rettung vom Niedergang erblicken, ohne daß angesichts der großen absoluten und relativen Aufnahmsfähigkeit des deutschen Marktes die dortige Industrie in Nachteil käme. Sie würde für die Hinnahme des österreichischen Wettbewerbes auch durch das nähere Herankommen an die wichtigen östlichen Textilmärkte mehr als entschädigt werden. Die österreichische Konfektion hält sich für befähigt, die Einpassung in den deutschen Markt zu ertragen und sie erwartet sich Vorteile für die Wiedergewinnung verlorener Absatzgebiete. Die österreichische Papierindustrie ist nicht ohne Befürchtungen wegen starken Abströmens und wegen Verteuerung ihres Hauptrohstoffes, des Holzes, nach Deutschland bei Öffnung der Grenzen. Dieser aber jetzt schon in großem Maße eingetretene Nachteil dürfte durch die Erweiterung des zollgeschützten Absatzgebietes im Anschlußfall angeglichen sein. Die Lebensmittelindustrie, welche weitgehend auf den Besonderheiten lokaler Geschmackswünsche beruht, hat wesentliche Störungen nicht zu befürchten. Unsere Molkereiprodukte würden ohne Zweifel vermehrten Absatz finden, ohne daß deutsche Interessen gefährdet wären. Betreffend den zeitweiligen Schutz der mit großen Opfern aufgebauten österreichischen Zuckerindustrie müßten allerdings Sondermaßnahmen Platz greifen. Die Öl-, die Speisefett- und die Margarinefabriken Österreichs sind hinsichtlich der Frachtlage für das Rohprodukt gegenüber der deutschen Konkurrenz im Nachteil. Anderseits ist die Organisation dieser Industrien international derart vorgeschritten, daß sich annehmbare Lösungen würden finden lassen.

Die chemische Industrie hat auf den Wegen der Konzentration und der internationalen Verflechtung in Europa jetzt schon Fortschritte gemacht, wie keine andere Industrie. Der deutsche Einschlag in wichtigen Zweigen dieser Industrie in Österreich ist schon heute unverkennbar und der seinerzeitige Zusammenschluß dürfte eine ausreichende Vorbereitung vorfinden, zu der auch der Ausbau der österreichischen Wasserkräfte erheblich beizutragen vermöchte. Die Industrie der Toilettenseifen, Parfümerien und Waschmittel in Österreich erzeugt Markenartikel, welche den Wettbewerb mit den deutschen Produkten in gemeinsamem Zollgebiet nicht zu fürchten haben.

Die Bedeutung der österreichischen Holzausfuhr ist dadurch charakterisiert, daß sie im Jahre 1927 über ein Achtel der öster- [359] reichischen Ausfuhr ausgemacht und die gesamte Einfuhr an Kohlen, Erzen und Baumwolle oder vier Fünftel der österreichischen Getreideeinfuhr kompensiert hat. Der Wunsch der bayrischen Sägeindustrie, die österreichische Konkurrenz möge einen Rückbau vornehmen, ist angesichts dieser Ziffern undiskutabel. Verstärkte Interessenahme deutschen Kapitals an der auch von nichtdeutschen Staaten angestrebten Ausbeutung des alpenländischen Holzes wie auch an seiner industriellen Verarbeitung ist ein gangbarer Ausweg. Bezügliche Ablehnung würde von österreichischer Seite ebenso wenig Verständnis finden wie manche einseitige Auffassung betreffend den Ausbau und die finanzielle Führung des österreichischen Energieexportes nach Deutschland oder – um auf einem ganz anderen Gebiete gleiche Bestrebungen zu charakterisieren – der deutsche Wunsch, den österreichischen Import von Qualitätserzeugnissen der Strick- und Wirkwarenbranche auszuschließen und den eigenen Export von Strumpfwaren nach Österreich zu forcieren. Solche Gegensätze müssen im Kompensationsweg auf das zulässige Maß zurückgeführt werden.


 
Zusammenfassung

Es fehlt an Raum, die gegebenen Darlegungen durch Details und statistische Angaben zu unterstützen. Genaue Auskunft bieten die Ausweise der Handelsstatistik, die Publikationen der wirtschaftlichen Körperschaften, eine Reihe wertvoller Einzelschriften und schließlich die Protokolle internationaler Wirschaftsverhandlungen. Die Behandlung weiterer Geschäftszweige würde auch an der Gesamtbeurteilung des Zusammenschlusses vom Standpunkt der Industrie wenig oder nichts ändern können. Die Herstellung unserer wirtschaftlichen Gemeinschaft ist eine Angelegenheit von einer Reihe von Jahren. Im Zeitpunkt der Erfüllung unserer Wünsche wird vieles von dem nicht mehr Geltung haben, was wir heute ins Kalkül stellen. Andauernd sind Ereignisse und Entwicklungen möglich, welche vorherzusehen oder gar zu beeinflussen uns gänzlich versagt ist. Man denke nur an die Unsicherheit betreffend das russische Reich, an die großen Veränderungen im britischen Imperium und an die Emanzipierung des fernen Ostens. Unter diesen Umständen dient der Erkenntnis unserer Aufgaben und Ziele nicht das Einschätzen von Einzelheiten, sondern nur die großzügige Beurteilung des ganzen Geschehens unserer Zeit.

[360] Die Formung einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft benötigt Fristen, deren Länge davon abhängt, ob die einigenden Kräfte stark genug sein werden, ein Regime von Vertrauen, Recht und Billigkeit im Leben der großen Kulturvölker aufzurichten oder ob die Welt noch einmal – mit ganz unsicherem Ausgang für die einzelnen Mächte und für die Gesamtheit – zu großen Entscheidungskämpfen antreten muß. Wir Deutsche in allen Ländern, insbesondere aber im Reich und in Österreich, sind jedem Abenteuer abgeneigt. Wir können aber auch unserer dauernden Entrechtung, der Verurteilung zur Fronarbeit auf Jahrzehnte, der Unterdrückung unserer Minderheiten und schließlich der Vorenthaltung der uns nach Volkszahl und Volksart zukommenden Macht, der Versagung des uns gebührenden Platzes in der Weltwirtschaft nicht zustimmen. Daß wir Deutsche hüben und drüben die engste wirtschaftliche Vereinigung der beiden deutschen Staaten als Kern und Grundlage der gesamteuropäischen Zukunftsentwicklung ansehen, ist nicht zu ändern.

Es gibt keine wirtschaftliche Gesundung für Staaten und Völker im Niedergang und die schwierigen umfangreichen Probleme der industriellen Produktion sind nur zu meistern auf dem Boden einer geordneten Wirtschaft. Das Schicksal der deutschen und der österreichischen Industrie setzt sich aus tausend Einzelschicksalen verschiedener Art und Größe zusammen. Ihnen allen und der Gesamtheit wird nur dann und erst dann eine bessere Zukunft sicher sein, wenn über unseren Arbeitsstätten der Überbau eines machtvollen deutschen Einheitsstaates aufgerichtet sein wird. Daran mögen alle jene denken, die berufen sind, unsere Führer zu sein. Aber auch diejenigen mögen aus diesem Gedanken Hoffnung schöpfen, denen die drohende Sorge des Alltags den Blick auf den Boden heftet, so daß sie Nutz und Frommen höherer Zielsetzung gar nicht mehr sehen können. Nötiger als alle übrigen aber haben diese Mahnung jene nicht wenigen im Reich, die aus dem Elend deutscher Geschichte nicht lernen wollen, die uns Österreicher in gänzlicher Verkennung unseres Wesens und unserer Anschlußforderung als lästige Bittsteller an der Tür abweisen wollen. Die nicht anerkennen wollen, daß unser gesamtes deutsches Volk am Scheideweg steht zwischen der Wiederaufrichtung mit Hilfe des letzten deutschen Mannes und seinem Niedergang für alle Zeit.


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Die Anschlußfrage
in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung

Friedrich F. G. Kleinwaechter & Heinz von Paller