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VII. Die großdeutsche Kultureinheit   (Forts.)

 
Die großdeutsche Kultureinheit im Volksleben
Privatdozent Dr. Viktor Geramb (Graz)

Aufgabe der Volkskunde als Wissenschaft • Die deutsche Volkskunde • Heinrich Riehl • Kulturgemeinschaft im geistigen Volksleben • Märchen und Volkssage • Nationale Besonderheiten im Volksleben • Volksrätsel und Volkslied • Volksglaube • Sitte und Brauch • Sachgüter • Die Kulturgemeinschaft des deutschen Volkslebens.

Seit den Tagen der deutschen Romantik – und in einzelnen Köpfen schon vorher – läßt sich die Sehnsucht erkennen, das "Wesen unseres Volkstums", die "deutsche Volksseele", oder, wie Goethe sagte, "die Volkheit", deren man sich gefühlsmäßig in zunehmendem Maße bewußt ward, auch wissenschaftlich zu erfassen. Seit dieser Zeit gibt es eine Wissenschaft, deren Forschungsbereich das deutsche Volksleben ist und die man am besten mit dem gut deutschen Worte "Volkskunde" bezeichnet, das auch schon damals, und zwar in Österreich, geprägt worden ist.1

Im Laufe der Zeit haben sich die Methoden dieser Wissenschaft mehr und mehr geklärt und verfeinert und das eigentliche Arbeits- [246] zentrum der Volkskunde gegen verwandte Wissensgebiete wurde immer reinlicher abgegrenzt. Es ist uns heute klar, daß sich die Besonderheiten, die wir die "völkischen" nennen, die sich um den "Kern der Nation" kristallisieren, in denen sich der "Volksgeist" manifestiert, zwischen den beiden Polgebieten des Urmenschlichen, Primitiven einerseits und der hohen Individualkultur der großen Führerpersönlichkeiten anderseits erfassen lassen müssen. Bei den Deutschen wohl am ehesten in jenem Kulturbereich, den man als den "bürgerlichen" bezeichnet. Dieser Kulturbereich kann wissenschaftlich von zwei Seiten, von oben und von unten her betrachtet und erfaßt werden. Von oben her geschieht dies in unserem Falle durch die deutschen Geistes- und Kulturwissenschaften der deutschen Geschichte, der deutschen Philologie, der deutschen Kultur-, Kunst-, Religionsgeschichte, in denen die Führerpersönlichkeiten (Fürsten, Staatsmänner, Dichter, Künstler, Philosophen, religiöse Führer) tragend und herrschend sind; die wissenschaftliche Betrachtung von unten her aber, die im allgemeinen für das Gesamtmenschliche von der Ethnologie, Völkerpsychologie u. ä. Wissenschaften erfolgt, ist in unserem Falle (Erfassung des "spezifisch Deutschen") Aufgabe der deutschen Volkskunde. Sie hat vor allem den Lebensbereich jener "Mutterschichten" der deutschen Kulturnation zu erforschen, der den Keim- und Wachstumsboden für die Gesamtnation abgibt: Die deutsche Kulturwelt, in der nicht die Individualitäten, sondern die "primitiven Gemeinschaften"2 das tragende Element bedeuten. Das ist die Welt des deutschen vulgus, die sich in den naturnahen, "primitiver" gebliebenen Lebenskreisen unseres Bauerntums, in Teilen der bodenständigen Arbeiterschaft, in den Kindern aller Stände und in letzten Ausstrahlungen (z. B. im Affekt) schließlich und gelegentlich in jedem Deutschen äußert.

Natürlich ist auch dieser wissenschaftliche Betrachtungsbereich an sich keine haarscharf abzugrenzende, tote "Ganzheit", sondern als Teil eines lebendigen Organismus stets Einflußströmen von oben und von unten her ausgesetzt, ein "Kraftfeld des Wechselspieles" also zwischen dem von oben wirkenden "sinkenden Kulturgut" der Oberschichten und den seit Jahrtausenden bestehenden "Primitivkulturen", die vom anderen Polgebiet her, dem urmenschlichen, alt- [247] europäischen, indogermanischen usw., kurz von unten herauf wirksam sind. Man muß also von vornherein damit rechnen, daß die deutsche Volkskunde, ebenso wie die französische, russische, finnische usw. in jenen "Mutterschichten" ihrer Kulturnation sehr viele Lebensäußerungen feststellen wird, die noch nicht "spezifisch deutsch" (beziehungsweise französisch, russisch, finnisch usw.) geworden sind, sondern die noch in Zeiten zurückweisen, die vor dem Werden der deutschen (beziehungsweise französischen, russischen, finnischen usw.) Nation liegen, teilweise sogar noch im Urmenschlichen, wie z. B. deutsche Märchenmotive, die man fast bei allen Völkern wiederfinden kann.

Anderseits vermag aber gerade die deutsche Volkskunde, eben weil sie sich im Mutterboden der Gesamtnation bewegt, besser als jede andere deutsche Wissenschaft die Keimerscheinungen aufzuzeigen, die durch die darüberliegende deutsch-bürgerliche Schicht und durch die deutschen Führerpersönlichkeiten zu spezifisch deutschen Lebensformen gestaltet worden sind. Ja gerade in der Tatsache, daß die deutsche Mutterschicht nicht für sich besteht, sondern eben zur "Mutter" der Gesamtnation geworden und so auf das stärkste in deren Organismus eingebettet ist, liegt auch die wissenschaftliche Sonderstellung und Berechtigung der "deutschen Volkskunde" begründet. Das hat der alte Wilhelm Heinrich Riehl, dessen überragende Bedeutung heute mehr und mehr erkannt wird, schon vor mehr als 70 Jahren gesehen, wenn er sagte: "Die Volkskunde ist gar nicht als Wissenschaft denkbar, solange sie nicht den Mittelpunkt ihrer zerstreuten Untersuchungen in der Idee der Nation gefunden hat."3

Gehen wir nun in raschem Überblick die einzelnen Lebenserscheinungen dieser deutschen Mutterschicht daraufhin durch, so ist dabei als die nach außen hin am stärksten wirksame Bindung der Gesamtnation vor allem die Sprache zu nennen. Sie "ist ja wirklich die fast allein statistisch faßbare Tatsache jedes Volkstums, sie bleibt unzweifelhaft auch die wesentlichste Voraussetzung für seine Bildung deswegen, weil nur sie die Möglichkeit der unaufhörlichen, mühelosen Mitteilung alles desjenigen bietet, worauf die Einheit einer [248] Nation und das Bewußtsein dieser Einheit sich gründen".4 Die Sprache ist keineswegs nur Eigentum der Oberschichten, sondern sie erwuchs – soviel auch gerade die Oberschichten und die sprachschöpferischen Führerpersönlichkeiten an ihrer Fortgestaltung gearbeitet haben – doch mit und aus dem Humusboden des "Volkes" im Sinne vulgus. Seine dialektischen Sonderformen, die sich zusamt den Stammeseigentümlichkeiten aus der fortschreitenden Ausbreitung des Germanentums entwickelten und aus der einstigen urgermanischen Spracheinheit spalteten, haben trotz ihrer Verschiedenheiten doch gegenüber allen nichtdeutschen Sprachen bis heute ihre deutliche Zusammengehörigkeit bewahrt. Ein Steirer wird zwar einen Niedersachsen schwer, aber er wird ihn doch immer noch verstehen, während er etwa einen Franzosen absolut nicht verstehen kann. Wenn auch der eine "stoansteirisch" und der andere plattdeutsch redet, so reden sie doch beide "deutsch". Wir haben es besonders der Mittlerrolle des Frankenstammes und dessen ausgleichender Wirkung nach Norden und Süden zu danken, daß die Sprachspaltung in Ober- und Niederdeutsch nicht bis zum Zerfall fortschritt. Aber es haben dann, nachdem dies verhütet war, wie Friedrich Panzer in seiner außerordentlich tiefgründigen, feindurchdachten und schönen Rektoratsrede dargelegt hat, "alle deutschen Stämme nach- und miteinander auf dem Plane gestanden, das hohe Werk der neuhochdeutschen Gemeinsprache zu wirken. Dies eben machte sie auch von innen geeignet, die gemeinsame Sprache aller Volksgenossen zu sein." Und wenn wir keine anderen Gemeinsamkeiten unseres Volkslebens aufweisen könnten, als nur diese eine, so wäre sie allein schon ein überwältigender Beweis für die gesamtdeutsche Kultureinheit. Denn es ist – um wieder dem hier berufensten Forscher das Wort zu geben – "deutlich, daß in dem Meer der Gemeinsprache die Wesensart des gesamten Volkes schäumt und wogt. Wilhelm von Humboldt hat längst nachdrücklich betont, wie vollkommen Geist und Sprache eines Volkes ein und dasselbe sind"...

Damit ist aber auch die Kulturgemeinschaft aller Äußerungen des geistigen Volkslebens innerhalb unserer Nation gegeben. Ein deutsches Märchen – mögen seine Einzelmotive noch so vielen Völkern gemeinsam sein – ist eben schon dadurch, daß es in irgendeinem deutschen Dialekt erzählt wird, etwas anderes, [249] als ein indisches oder als ein Indianer- oder Negermärchen. Und dasselbe gilt für die weiten Gebiete der Volkssage, des volkstümlichen Sprichwortes, des Volksrätsels, des Volksliedes und des Volksschauspieles. Sie alle sind eingebettet in den Geistesstrom der deutschen Volkheit und ihres sichtbarsten Ausdruckes, der deutschen Sprache, in gemeinsam deutsche geistige Haltung und Willensrichtung, deren Verschiedenheit von jenen anderer Nationen viel wesentlicher ist, als die Verschiedenheit der Augen- und Haarfarben, der Schädelbildung und Rassenmischungen.

Diese geistige Eigenart läßt sich auch heute schon mit Hilfe der verfeinerten volkskundlichen Methoden wissenschaftlich aufzeigen, wiewohl wir hier überall erst in den Anfängen stehen. So sehr wir in unseren Märchen, Mythen, Sagen – wie in denen aller anderer Völker – Überreste eines in die ältesten Zeiten der Menschheit zurückreichenden Zauberglaubens und mythischer Primitivvorstellungen finden können, es gibt dennoch kaum etwas, das nationaler im tiefsten anmutet als etwa ein deutsches Volksmärchen. "Der Erdgeruch der vaterländischen Scholle, Wald und Feld und Dach und Berg, die liebe Heimat, wie sie unsere Seele aus Kinderzeit stille treu bewahrt, weht uns an aus unseren Märchen. Mundgerecht macht sich das Volk jedes Wort, jedes Lied, jedes Märchen."5 Einer unserer bedeutendsten lebenden Märchenforscher, Friedrich v. d. Leyen, hat klar gezeigt, wie verschieden die Gestaltung der Märchen aus den über die ganze Erde hin seltsam ähnlichen Märchenmotiven bei den verschiedenen Völkern erfolgt. Einzelne Völker, wie die Araber, Inder, Kelten zeigen ein besonders starkes, an Phantasie überreiches Verhältnis zum Märchen, andere stehen ihm nüchterner, kühler, sachlicher gegenüber. "Gerade die Verbreitung der Märchen, die verschiedene Entwicklung der gleichen Stoffe bei den verschiedenen Völkern, die Macht der gebenden, die Unmacht oder die anschmiegende und umbildende Kraft der empfangenden Länder decken für den Forscher eine Reihe literarischer Gesetze und eine Reihe nationaler Besonderheiten auf."6 So hat z. B. der baltische Märchenforscher August von Loewis of Mennar7 die Stellung des Märchenhelden in Tausenden von deutschen und [250] russischen Märchen untersucht und eine große Zahl von feinsten, aber typischen Unterschieden feststellen können. Die Liebe zum Schwankhaften fehlt im russischen Märchen z. B. ganz, dagegen ist im deutschen die Vorliebe zum dramatischen Dialog viel seltener. Die Detailmalerei der Milieuschilderung nimmt im russischen Märchen einen viel breiteren Raum ein als im deutschen. Der Müller, der Schneider, der Korbflechter usw. – kurz das kleinbürgerliche Element – spielt im gesamtdeutschen (nord-, wie süddeutsch-österreichischen) Märchen eine viel größere Rolle als im russischen, ebenso die hingebende Schilderung des armen Helden oder der Dienertreue und die Betonung des Innenlebens durch die Darstellung seelischer Konflikte; dagegen wieder die Herzenshöflichkeit, Achtung vor den Alten, Wertschätzung guter Erziehung und strenge Betonung des Kirchlichen im russischen Märchen weitaus überwiegt.

Alles das und noch viel anderes, z. B. die bekannt hohe Auffassung der Frau in allen germanischen Ländern, gilt auch für das gesamte übrige Gebiet der Volksdichtung. Robert Petsch hat z. B. in seinen grundlegenden Untersuchungen über das deutsche Volksrätsel8 klar gezeigt, wie sehr das deutsche Volk dem Heere der von ihm aufgenommenen Rätselmotive in der Wahl des Metrums, im Stil, in der Stoffwahl und in vielen Einzelheiten den Stempel seiner Eigenart aufgedrückt habe. Als Beispiel dafür sei nur angeführt, daß die Einkleidung des Rätsels in eine kleine Erzählung, die bei den Franzosen und Italienern nahezu ganz fehlt, das sogenannte "Rahmenelement", bei den Deutschen und Engländern von Süden nach Norden in zunehmendem Maße reichlichst verwendet wird, aber auch schon an der Südgrenze des Deutschtums, z. B. bei tirolischen und kärntnerischen Volksrätseln, ungleich häufiger vorhanden ist, als bei den nächstangrenzenden Italienern.

Ebenso hat Friedrich Seiler9 überzeugend dargelegt, wie sich "aus dem Reden und Schweigen der Sprichwörter eines Volkes... gewisse Schlüsse auf seinen Charakter ziehen lassen". Wie z. B. im römischen Sprichwort die Partei- und Sozialkämpfe der römischen Geschichte gänzlich verschwiegen, dagegen die Gegensätze zwischen Römern und "Barbaren" fortwährend betont werden; während das im deutschen Sprichwort gerade umgekehrt ist. Hier stehen die sozialen und wirtschaftlichen Innenkämpfe im Vordergrund, während [251] die Kriege gegen äußere Feinde im deutschen Sprichwort kaum irgendwelchen Niederschlag hinterlassen haben. Dafür haben die Deutschen in Nord und Süd viel mehr Sprichwörter über Gott und Gottes Walten, und der kindlichen Frömmigkeit und Gottesfurcht im deutschen Sprichwort haben die Römer nichts an die Seite zu setzen. Doch nicht nur was da ist, sondern auch was im Sprichwort fehlt, spricht oft sehr deutlich. Bei den Deutschen gibt es z. B. unzählige Sprichwörter, die vor Vertrauensseligkeit warnen, bei den Römern und Franzosen gibt es das nicht. Ebenso gibt es innerhalb der gesamtdeutschen Kulturgemeinschaft auffallend viele Sprichwörter, die vor der Trunksucht warnen, wie denn auch die deutsche Sprache weitaus die zahlreichsten Ausdrücke für Betrunkenheit besitzt.

Viel wäre in diesem Zusammenhang zu sagen über das große Gebiet des deutschen Volksliedes. Wir müssen es uns auch da mit ein paar Hinweisen genügen lassen. Wer je ein ungarisches oder slawisches Volkslied und unmittelbar darauf ein deutsches singen hörte, dem ist es ja wohl über jeden Zweifel hinweg völlig klar, wie gewaltig hier schon die musikalischen Unterschiede sind. Karl Voretzsch hat auf der Erlanger Philologentagung (1925) in einem tiefgründigen und überzeugenden Vortrag seine aus vieljähriger, gründlichster Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse über die Unterschiede zwischen dem deutschen und französischen Volkslied entwickelt, die sich namentlich im Rhythmus kundgeben. Ich selbst habe kaum jemals die mutterschichtliche Volkszusammengehörigkeit aller Deutschen so ergreifend erlebt, als bei einer Studienfahrt banatischer Bauernsöhne, die uns ihre schwäbischen Volkslieder vorsangen. Und wenn im Volksliede der Gottscheer bis heute das mittelhochdeutsche Gudrunepos nachklingt,10 so spricht das deutlicher als alle Worte von der großdeutschen Kulturzusammengehörigkeit auch in den vulgus-Schichten der Nation. Beim Volkslied zeigt sich auch besonders deutlich, wie der lebendige Strom solcher Gemeinschaft durch die Jahrhunderte in Einzelfällen wirksam gewesen ist. Ingenieur F. Kirnbauer hat in seinen (bisher unveröffentlichten) Forschungen über das Bergmannslied nachgewiesen, wie die Bergknappen aus dem Harz und aus Sachsen durch Jahrhunderte die Standeslieder der dortigen Bergleute z. B. in das Gebiet des steirischen [252] Erzberges, aber auch zu den deutschen Bergknappen im Banat oder in Siebenbürgen getragen haben, so daß dieselben deutschen Bergmannslieder vielfach noch heute überall gesungen werden, wo deutsche Knappen Schlegel und Eisen schwingen. Solche Beispiele, in denen verhältnismäßig jüngere Kulturäußerungen der Nation gleichsam als verbindende Klammern über die alte mutterschichtliche Primitivkultur aller Deutschen erstreckt erscheinen, ließen sich vor allem aus dem deutschen Handwerkerleben (Zunftgebräuche), wie aus dem Volksrecht in großer Zahl beibringen.

Weniger eindringlich äußert sich die Wesensart der Nationen in dem ungeheuren geistigen Lebensbereich, das wir unter dem Schlagwort "Volksglauben" zusammenfassen. Hier gibt es noch sehr viel Primitivgut, das auf die Zeit vor der Trennung der heutigen Nationen zurückreicht. Es ist aber doch auch hier wieder überaus bezeichnend, welch ganz andere Rolle z. B. die Hausgeister und Kobolde bei sämtlichen deutschen Stämmen spielen, als bei den benachbarten romanischen und slawischen Völkern. Wenngleich sie bei allen indogermanischen Nationen auf gemeinsame Wurzeln (Toten- und Ahnenkult) zurückgehen, so ist doch das heimelig trauliche Wesen der deutschen "Wichtelmännchen", "Heinzelmännchen", "Herdheimchen", "Butzemännlein", "Stallschratln" usw. etwas spezifisch Deutsches mit deutlichem Anklang an ähnliche Vorstellung im germanischen Norden (dem skandinavischen buk = Hofwichtl, dem dänischen Niss und Niels = Nickl).11 Der Unterschied dieser munteren, wie Hauskatzen gemütlich umherschnurrenden (und daher z. B. auch "Bullenkater" genannten) deutschen Haus- und Hofgeister ist besonders deutlich z. B. in Steiermark und Kärnten gegenüber dem slowenischen skratec oder im deutschen Ostpreußen gegenüber der litauischen lauma und dem russischen domovoi, die alle düsterer und unheimlicher aufgefaßt sind. Es hängt das sicher mit der deutschen Neigung zum Schwankhaften und zur trautsamen Heimeligkeit des Wohnens zusammen. Sehr lehrreich für die Kulturzusammengehörigkeit aller Deutschen ist die eingehende, streng wissenschaftliche Untersuchung über "Percht, Holda und verwandte Gestalten", in der z. B. der Glaube an die wilde Jagd, an die Seelenführerin der ungetauft verstorbenen Kinder, an die Spinnstubenfrau, an das Motiv vom Tränenkrüglein, angefangen von der Südgrenze des [253] deutschen Sprachgebietes (Sprachinseln, wie Gottschee, miteinbegriffen) in auffallender Zusammengehörigkeit und in inniger Verwobenheit durch das ganze deutsche Volksgebiet bis hinauf über die dänische Gemarkung klargestellt werden.12

Da Sitte und Brauch seinem Wesen nach nichts anderes als die kultische Formung des Volksglaubens bedeutet, so gilt alles Gesagte auch für dieses Gebiet. Es gibt tatsächlich Sitten, die man als ausgemacht deutsch ansehen muß, auch wenn sie sich, wie z. B. der Weihnachtsbaum, längst vom deutschen Volksboden aus weiter verbreitet haben. Ein viel höheres Alter als unser Weihnachtsbaum, der freilich zur schönsten und auch von den Nachbarvölkern immer noch als deutsch empfundenen Sitte geworden ist, kann das Sonnwendfeuer beanspruchen, für das ich alle quellenmäßig literarischen Nachrichten über seine Verbreitung zusammengestellt und dadurch gezeigt habe, wie dieser Brauch tatsächlich fast überall jenseits der Sprachgrenzen des deutschen Volksgebietes erlischt,13 wenngleich er in einer dereinst über viele Völker verbreiteten Idee (Sonnenzauber) wurzelt. Er ist im Laufe der europäischen Kulturentwicklung eben deutsch geworden und allen deutschen Stämmen eigentümlich geblieben. Und wenn man am Abend des 23. Juni mit einem Flugzeug hoch über alle die deutschen Lande fliegen könnte, so würde man die volkhafte Kulturgemeinschaft dieses Brauches in den Tausenden von Feuerpünktchen eindrucksvoll genug überschauen können.

Zu den Äußerungen des Volkslebens gehören neben der geistigen auch die Sachgüter: Siedlung, Haus und Hof, Gerät, Tracht und Volkskunst. Wir wollen sie hier nur ganz kurz streifen: Die germanische Form des Haufendorfes mit der sogenannten "Gewannflur" in streifenförmiger Gemengelage finden wir bei allen deutschen Stämmen, in Schleswig-Holstein ebenso wie in Kärnten und Steiermark. Die typisch deutsche Kolonial- und Markenform der Hufen- und Zeilensiedlung begegnet uns ebenfalls nicht nur im ganzen deutschen Osten (Preußen und Burgenland), sondern auch im Innern des Landes auf jüngeren Siedlungsflächen und im ganzen auslanddeutschen Siedlungsbereich, sowohl im Buchenland wie bei den Siebenbürger Sachsen. Haus- und Hoftypen sind in mehreren Grund- [254] formen über das deutsche Volksgebiet verbreitet, aber quer durch ganz Deutschland, von Frankreich bis Polen, zieht sich im breiten Gürtel der vierseitige "fränkische Hof", der wieder wie eine lebendige Volkstumsklammer auch das ganze österreichische Donauland, die Ostmarken im Burgenland und in der Oststeiermark, sowie die auslanddeutschen Siedlungen im Osten umfaßt. Allen deutschen Hausformen gemeinsam ist aber überdies noch die spezifisch deutsche Kultur des Hausens und Heimens, die Reinlichkeit und Traulichkeit der Wohnräume im Niedersachsenhaus ganz ebenso wie im tirolisch, bajuwarischen, im donauländischen Wachauer oder im deutschen Bauernhaus des Burgenlandes. Wer sich darüber rasch und eindrucksvoll unterrichten will, der lese Michael Haberlandts Werk Die indogermanischen Völker Europas14 in den Kapiteln durch, die das volkstümliche Haus in Ost- und Südost-, in Mittel-, Nord- und Westeuropa sowie auf den südlichen Halbinseln behandeln, und er wird gründlich darüber belehrt sein, wie hoch auch die mutterschichtlich deutsche Hauskultur über dem volkstümlichen Haus der Franzosen, Italiener, Balkanvölker, Finnen, Magyaren und Russen steht.

Am wenigsten läßt sich dagegen für unsere Betrachtung mit dem volkstümlichen Gerät, mit Trachten und mit der Volkskunst anfangen. Sie beruhen zum großen Teil noch auf vorgermanischen Primitivkulturen – namentlich was das Gerät und die Urmotive der Volkskunst anlangt –, während sie anderseits (in Tracht und Volkskunst) durch oberschichtliche Mode- und Stileinflüsse beherrscht erscheinen. Immerhin aber haben wir auch da, z. B. in der weiblichen Arbeitstracht des Leibkittels, Gemeinsamkeiten der fränkischen, allemannischen und bajuwarischen Stämme, in der Farbenwahl deutliche Unterschiede zwischen Deutschen und Slawen oder in der Volkskunst bei der Auswahl und Farbengebung, sowie bei der Gruppierung der Motive spezifisch deutsche Besonderheiten, die sich über alle deutschen Stämme erstrecken. Wie verschieden der Geschmack in der Formgebung der benachbarten Nationen ist, dafür besitzen wir sehr bemerkenswerte Beobachtungen des steirischen Grenzschulmeisters Karl Stöffelmeier in der Bergbauernschule St. Lorenzen ob Eibiswald.15 Die deutschen und slowenischen [255] Weiber tragen dieselben Kopftücheln, aber während die deutschen die scharfkantigen Bugfalten der in Schachteln zusammengelegten Kopftücher, wie sie diese vom Kaufmann beziehen, sogleich ausbügeln, so daß das Tuch weich um den Kopf fließt, bügeln die Slowenen diese Falten noch schärfer heraus, so daß ihre Tücheln in harten Knickfalten den Kopf umrahmen. Die Vorliebe für solches Plissieren und Steifen und dazu die Betonung der weißen Farbe läßt sich ebenso im böhmischen und sächsisch-preußischen Slawengebiet beobachten, wo die Unterschiede ebenfalls scharf nach den Volksgrenzen verlaufen.

Alle derartige Beobachtungen, die, wie gesagt, bisher erst in den Anfängen stecken, werden uns in viel reicherem Maße und in viel größerer Genauigkeit möglich werden, wenn das soeben begonnene deutsche Monumentalwerk Der Atlas der deutschen Volkskunde durchgeführt sein wird. An diesem von Deutschland und Österreich gemeinsam aufgenommenen, wissenschaftlich wie vaterländisch gleich bedeutsamen Werke arbeiten 40.000 über das ganze deutsche Sprachgebiet dicht verteilte Männer und Frauen opferfreudig mit. Es wird dabei nicht nur eine ungeheure Materialaufnahme des gesamten volkstümlich deutschen Kulturgutes in all seinem Reichtum und in seinen mannigfaltigen Lebensströmungen, sondern es wird dabei auch in bisher ungeahntem Ausmaße die Erkenntnis der gesamtdeutschen Kultureinheit im Volksleben gewonnen und vertieft werden, die hier nur flüchtig skizziert werden konnte.

Immerhin hoffen wir durch diese kurzen Ausführungen alle jene, die mit offenem Herzen und klaren Augen die deutschen Gaue durchwandern, vor allem die deutsche Jugend und alle jene, denen das Geschick weitere Reisen gönnt, anzuregen, auf diese bisher wenig beachteten Dinge schärfer und gründlicher hinzusehen und hinzuhorchen. Das Erwandern und Erleben des Volkslebens, wie es Ernst Moritz Arndt und sein großer Schüler W. H. Riehl gelehrt haben, wird ihnen dadurch als köstliches Geschenk zuteil werden. Wer z. B. vom Deutschen Reich durch Österreich nach Dalmatien und von dort wieder zurück reist, dem wird schon bei der bloßen Beobachtung aus dem Wagenfenster die klare deutsche Kultureinheit auffallen, die mit der Savegrenze urplötzlich in Trachten und Farben, in Hausformen und Zäunen, in Siedlungsanlagen und Feldwirtschaft, in der Form der Mühlen und in zahlreichen anderen Einzelheiten einer gänzlich veränderten Welt weicht. Man vergleiche etwa einen Wochenmarkt [256] in Graz mit dem in Agram! Und dieselben, wenn auch nicht überall in gleicher Schärfe erkennbaren Kulturgrenzen des deutschen Volkslebens werden auch auf einer Reise aus dem Deutschen Reich oder Österreich nach Polen oder Finnland einerseits und auf einer nach Italien oder Frankreich anderseits zutage treten, wenn man auch auf die feineren, im Baedeker freilich wenig bezeichneten Erscheinungen des Volkslebens hinzuhorchen versteht. Wer es kann, dem wird die Kulturgemeinschaft des deutschen Volkslebens in überzeugendster Weise offenbar, dem erklingt ebenso wie dem alten volkskundigen Wanderer Ernst Moritz Arndt mit leuchtender Gewalt in tiefster Seele der Sehnsuchtsruf: "Das ganze Deutschland soll es sein!"


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1Vgl. dazu Geramb: "Die Knafflhandschrift, eine obersteirische Volkskunde aus dem Jahre 1813" (Heft 2 der Quellen zur deutschen Volkskunde, W. de Gruyter, Berlin 1928). ...zurück...

2H. Naumann: Grundzüge der deutschen Volkskunde. 2. Aufl., Quelle und Meyer, Leipzig 1929. ...zurück...

3W. H. Riehl: "Die Volkskunde als Wissenschaft," Vortrag aus dem Jahre 1858, abgedruckt in den Kulturstudien (Cotta, Stuttgart 1862). Vgl. dazu jetzt den bedeutsamen Vortrag von H. Naumann: "Volkskunde und Deutschkunde," abgedruckt in der Zeitschrift für deutsche Bildung, 1929. ...zurück...

4F. Panzer: Volkstum und Sprache, Heidelberger Rektoratsrede 1926 (erschienen bei M. Diesterweg, Frankfurt a. M.). ...zurück...

5E. Bethe: Märchen, Sage, Mythus. Quelle und Meyer, Leipzig 1923. ...zurück...

6F. v. d. Leyen: Das Märchen. 3. Aufl., Quelle und Meyer, Leipzig 1925. ...zurück...

7A. v. Loewis of Mennar: Der Held im deutschen und russischen Märchen. Diederichs, Jena 1912. ...zurück...

8R. Petsch: Das deutsche Volksrätsel. Trübner, Straßburg 1917/18. ...zurück...

9F. Seiler: Deutsche Sprichwörterkunde. C. H. Beck, München 1922. ...zurück...

10A. Hauffen: Die deutsche Sprachinsel Gottschee. Bes. S. 245 ff. und S. 403 ff. Graz 1895. ...zurück...

11L. Weiser: "Germanische Hausgeister und Kobolde." Niederdeutsche Zeitschrift für Volkskunde, Bd. 4, 1926. ...zurück...

12V. Waschnitius: "Percht, Holda und verwandle Gestalten. Ein Beitrag zur deutschen Religionsgeschichte," Sitzungsberichte der K. Akademie der Wissenschaften, Wien, phil.-hist. Kl., 174. Bd., 1914. ...zurück...

13V. Geramb: Deutsches Brauchtum in Österreich. S. 53 ff., Graz 1924. ...zurück...

14M. Haberlandt: in Buschans illustrierter Völkerkunde. Stuttgart 1926. ...zurück...

15Karl Stöffelmeier: "Steirische Grenzbauern." Hessische Blätter für Volkskunde, Bd. 25, S. 99 f., Gießen 1927. ...zurück...

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Die Anschlußfrage
in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung

Friedrich F. G. Kleinwaechter & Heinz von Paller