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Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil


Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin

Kapitel 2: Das Deutsche Reich
unter der Staatsleitung Bismarcks 1871 - 1890
  (Forts.)

[158] 2. Die politischen Gewalten im neuen Reich.

Die Norddeutsche Bundesverfassung von 1867 hatte sich vermöge ihrer elastischen Anlage ohne jede Schwierigkeit zur Reichsverfassung von 1871 erweitern können, indem sie die süddeutschen Staaten mit einer Abstufung von Reservaten in sich aufnahm. Nur das Ausmaß dieser Reservate, nicht aber Wesen und Fundament der Verfassung waren der Gegenstand der Versailler Verhandlung gewesen. Der äußere Rahmen des Reiches war durch die Erweiterung nicht berührt: das Haupt der Exekutive, der Kaiser - die Vertretung der Gliedstaaten im Bundesrat - und die Vertretung des Volkes in einem aus demokratischem Wahlrecht hervorgegangenen Reichstage. Entsprechend der Personalunion zwischen dem preußischen Könige und dem deutschen Kaiser war die Personalunion zwischen dem preußischen Ministerpräsidenten und dem Reichskanzler, als Fortentwicklung die Seele zu geben. Damit aber waren nur die äußeren Pfähle der Arena abgesteckt, in der sich die lebendige Entwicklung eines deutschen Nationalstaats fortan vollziehen sollte. Nachdem die formelle Lösung gefunden war, sollten die eigentlichen materiellen Aufgaben, der lebendige Inhalt der Verfassung, nunmehr erst sichtbar werden. Wie sollte das Reich, das sich zunächst nur in der Idee und einigen verfassungsmäßigen Institutionen darstellte, dieses Reich, das zunächst noch keine eigenen Mittel, keine eigene Verwaltung besaß und selbst der primitivsten Gemeinsamkeiten entbehrte, ein wahrhaft staatliches und nationales Leben entfalten? In welche Lebenssphären mußte der Einheitsgedanke übergreifen, um den Grund solcher Gemeinsamkeit zu legen und um ihretwillen den so tief verwurzelten historischen Sondergeist zu überwinden? Wie mußte sich das politische Leben in einem Bundesstaate gestalten, der sich von allen anderen Bundesstaaten dadurch unterschied, daß ein nach Macht und Größe zwei Drittel des Ganzen umfassender Gliedstaat mit der Führung der "verbündeten Regierungen" betraut war? Wie würde das Reich auf dem Wege seiner Entwicklung sich mit diesem führenden Gliedstaate und seinem ungebrochenen Lebenswillen, dem stärksten Vertreter des zu überwindenden Sondergeistes, auseinanderzusetzen haben? Wie würde sich dieser verwickelte Prozeß nun weiter verflechten mit jenen politischen Auseinandersetzungen, die das ganze euro- [159] päische Leben bestimmten und auch auf dem Boden des Deutschen Reiches nicht ausbleiben konnten, zwischen den historisch erwachsenen und den modernen Elementen des Staates, zwischen der Krone und der Volksvertretung, zwischen den Klassen der Gesellschaft?

Man braucht alle diese Fragen nur anklingen zu lassen, um sich sofort bewußt zu sein, die Reichsverfassung sei nichts als das Eingangstor zu einer Verfassungsentwicklung, deren Inhalte und Probleme sich nunmehr erst allen sichtbar darstellten. Jetzt stand man vor dem Ineinanderleben der einzelnen verfassungsmäßigen Organe, jetzt mußte das Funktionieren der Reichsmaschine praktisch erprobt, ihr planmäßiger Ausbau verwirklicht werden; jetzt mußte das Leben selbst, mit allen seinen Bedürfnissen, die Führung in einem Verfassungswerk übernehmen, um dessen Umrisse die Macht der Ideen so lange gerungen hatte. Kurzum, eine staatliche Wirklichkeit mußte sich erheben, für die es in der Geschichte kein Beispiel und in der Theorie keine vorbildliche Systemlösung gab. Und es konnte nicht anders sein, als daß die Persönlichkeiten, die den Institutionen das Gesicht geben, dabei entscheidend mitspielten.

Kaiser Wilhelm verkörperte die monarchische Idee vermöge der Würde des Alters, der Zuverlässigkeit seiner Gesinnung und Pflichttreue, der schlichten Vornehmheit seines Auftretens. So stellte seine Erscheinung, auch ohne den Vortritt der Ehren zu suchen, die Erhöhung des preußischen Königtums im Kreise der Bundesfürsten gleichsam sichtbar dar; unter den Königen war, da Ludwig von Bayern aus dem öffentlichen Leben beinahe ausschied, nur Albert von Sachsen ein Mann von eigenem Gewicht; auch Friedrich von Baden trat nunmehr von seiner früheren Stellung eines fürstlichen Fahnenträgers der nationalen Idee mehr und mehr zurück. Der deutsche Kaiser aber stieg mit den Jahren, wachsend in der vorbildlichen Reife seiner Amtsführung, zum Doyen der europäischen Monarchen auf, um vor aller Welt die Besonderheit des historischen monarchischen Pflichtenkreises eindrucksvoll darzustellen. Man wird vielleicht in späteren Zeiten sagen, daß er in einer Epoche, da der Höhepunkt dieser Staatsform schon überschritten war, noch einmal sie erhöht und dadurch ihr geschichtliches Dasein verlängert habe.

Der Kaiser war zugleich das Haupt des preußischen Militärstaats, mit dessen Mitteln die Reichsgründung vollzogen worden war. Es war nur natürlich, daß dieser Militärstaat, indem er in die Führung des Reiches hineinwuchs, vieles von seinem charakteristischen Gepräge auf die neue Schöpfung übertrug, von seiner Größe, die jetzt in der hellen Beleuchtung des Erfolges strahlte, und von seinen Schranken, die eher in eine abgelaufene Geschichtsepoche als in die Zukunft der Nation wiesen. Bismarck war auf dem Wege der Reichsgründung, zumal wenn Mars die Stunde regierte, auch mit den Häuptern dieses Militärstaats und ihrer traditionellen Denkweise zusammengestoßen. Es handelte sich in dem Konflikte des Winters 1870/71 nicht nur, wie man in der Regel annimmt, um einen [160] Ressortgegensatz in technischen Einzelfragen, wie der Frage der Beschießung von Paris, sondern um die höchsten Entscheidungen, um den Friedensschluß und seine Bedingungen: es ging letzten Endes um die Macht im Staate und vielleicht, ohne daß die Träger der Institutionen sich dessen voll bewußt waren, um die Stellung des alten Preußens im neuen Reich. Mochten auch persönliche Gegensätze, von starken Persönlichkeiten leidenschaftlich durchgefochten, den Kampf im Hauptquartier verschärfen, der Gegensatz der Institutionen und ihres Anspruchs auf die Gestaltung des Neuen reichte tiefer hinab, in die ewigen Probleme von Politik und Kriegführung, aber auch in das innerste Wesen eines Staates, der in Krieg und Frieden von seinen Königen aufgebaut worden war.

Während die Militärs, vor allem den französischen Kriegsschauplatz vor Augen, ihre ganze Energie auf die Ausnützung des Sieges gerichtet hielten, vertrat Bismarck mit derselben Wucht den Primat der Außenpolitik; er blickte über die militärischen Forderungen der Stunde hinweg in das Lager des neutralen und interventionslüsternen Europa, in die künftige Situation des Deutschen Reiches in der Zeit des Friedens. Es gelang ihm, bei seinem Monarchen, der in hohem Sinne beide Welten in seinen Entschlüssen vereinte, in der Hauptsache seinen Willen durchzusetzen und dem Generalstab den Friedensschluß aus der Hand zu nehmen. Eine Natur wie Waldersee mochte in Bismarcks Vorgehen die "Rache" des Ressorts gegenüber dem Generalstab sehen und sich noch später des Glaubens getrösten, daß der Kaiser seinem Kanzler dieses Durchgreifen "nie vergessen" habe. Es war begreiflich, daß eine militärische Generation, die auf der Höhe des Sieges sich der politischen Staatsräson zu beugen hatte, dieses Erlebnis nicht sobald vergaß, sondern im Kreise ihrer Institution vererbte, so wenig auch ein allem äußeren Machtglanz abholder Charakter wie derjenige Moltkes zu persönlichen und unsachlichen Rivalitäten neigte. Aber das Gefühl, von dem Allmächtigen gleichsam in die zweite Linie gedrängt und überschattet zu werden, blieb in dieser strengen und ehrgeizigen Auslese des preußischen Militärstaats zurück, und konnte eines Tages wieder stärker durchbrechen. Ein Zusammenstoß, den Bismarck gleich nach dem Kriege hatte, zeigte ihm diesen stolzen und empfindlichen Geist. Er hatte dem General von Manteuffel, dem Befehlshaber der Okkupationsarmee in Frankreich, den Vorwurf gemacht, daß er in seinen Verhandlungen mit Frankreich seine Kompetenz überschreite: er könne sein Amt nicht weiterführen, wenn die allein Erfolg versprechende Einheitlichkeit der Unterhandlung durchkreuzt werde. Der andere aber glaubte es seiner Generalsstellung schuldig zu sein, wenn er dem Kanzler kühl erwiderte, die Rücksichtnahme auf das Verbleiben oder Nichtverbleiben eines Ministers im Amte dürfe auf sein amtliches Handeln keinen Einfluß üben. Man sieht, daß für dieses Lager die staatsmännische Leistung der Reichsgründung nicht gerade erdrückend in die Waagschale fiel. Um so mehr vernimmt man den Ton einer selbstbewußten Gemeinschaft, die sich den König als den Ihrigen zurechnet. Bismarck wußte wohl, [161] weshalb er in seiner scharfen Antwort zu wissen gab, er habe sich genötigt gesehen, seinen Platz in der Nähe Seiner Majestät schleunigst einzunehmen.1

So blieb bei Bismarck aus jenen Kämpfen, in denen er häufig genug die Grenze seines Einflusses im alten Militärstaate empfunden hatte, ein gewisser Groll zurück. Hatte er doch noch während des Feldzuges dem alten Gegner Friedrich von Baden, mit dem er sich jetzt auf nationalem Boden zusammenfand, das bezeichnende Geständnis gemacht, er sei bisher militärfromm gewesen, aber fortan im Frieden werde das anders werden. Er sollte auf dem Wege des Reichsausbaus immer wieder auf das preußische und das militärische Element stoßen, die sich in der Person seines Monarchen vereinigten. Wenn er später die Gewohnheit annahm, die militärische Uniform statt des bürgerlichen Gewandes zu tragen, so geschah das nicht etwa aus militärischer Liebhaberei, sondern vielmehr in der politischen Berechnung, auf diese Weise seinem Monarchen zu jeder Stunde im militärischen Dienstkleide auf der Ebene des Verkehrs, die jedem Offizier den Zugang zu seinem Könige so leicht machte, zu begegnen und ihm damit das Gefühl zu nehmen, einem zivilistischen Berater gegenüberzustehen.

Dieses Bedürfnis lag vor allem dann vor, wenn es sich um die auswärtige Politik handelte, deren entscheidende Maßnahmen in gemeinschaftlichem Benehmen zwischen dem Kaiser und dem Kanzler getroffen wurden. Die entscheidende Einflußnahme auf die auswärtige Politik gehörte für Kaiser Wilhelm zur herkömmlichen monarchischen Amtsauffassung wie auch für seine fürstlichen Standesgenossen, den Kaiser Franz Joseph oder den Kaiser Alexander; selbst Königin Victoria legte den größten Wert darauf, allen konstitutionellen Gepflogenheiten zum Trotz auf diesem Gebiete höchst persönlich einzugreifen. Freilich hatte Kaiser Wilhelm unter den Monarchen seiner Zeit die mächtigste Persönlichkeit als außenpolitischen Berater an seiner Seite - und damit war für ihr Zusammenwirken, so harmonisch es durchweg verlief, ein besonderes Problem gegeben. Die Welt gewöhnte sich zwar immer mehr daran, überall Bismarcks Hand zu sehen. In Wahrheit war das Gewicht, das der Kaiser in die deutsche Außenpolitik warf, doch stärker, als die europäischen Diplomaten in der Regel annahmen; und der Kanzler selbst empfand auf Schritt und Tritt, daß er sich mit einem Willen von Sachkenntnis und Überzeugung laufend auseinanderzusetzen habe; er konnte wohl einmal nüchtern feststellen: "Auch unsere Politik wird ja doch ausschließlich und nach dem Charakter unseres Herrn, noch viel mehr im Detail, als die russische, nach Allerhöchsten Befehlen gemacht." Schon bald nach dem Kriege äußerte er vertraulich, zur Ausfüllung der Stellung und Geschäfte, die er habe, seien eigentlich drei Männer erforderlich: einer für die Behandlung des Hofes, ein zweiter für den Reichstag, ein dritter für die auswärtigen Angelegenheiten.

Kaiser Wilhelm I. mit Kaiserin Augusta in Ems 1883.
[240a]      Kaiser Wilhelm I. mit Kaiserin Augusta in Ems 1883.
[162] Kaiser Wilhelm brachte für die Aufgaben des Herrschers sehr viel mit. Die Erfahrung des Alters: bei dem Ausbruch des russisch-türkischen Krieges konnte er mit überraschendem Gedächtnis in analoge militärisch-politische Situationen vor fünfzig Jahren, im Kriege von 1828/29, zurückgreifen. Eine ungewöhnliche Geschäftskenntnis: mit vollendeter Sicherheit präsidierte er, so erzählt ein Beobachter, in den Sitzungen des Staatsministeriums; seine Sprache war knapp und klar, kein Mißverständnis zulassend und die Punkte, auf die es ankam, scharf hervorhebend.2 Er brachte schließlich Takt und Würde mit, die sich immer gleichbleibenden Tugenden einer beherrschten und liebenswürdigen Haltung, deren Stil schon einer vergangenen Epoche angehörte. Gewiß lebte er in mancher Hinsicht in seinem Bilde der Vergangenheit und blieb den Problemen der Gegenwart fremder; in den Randbemerkungen der siebziger Jahre nimmt man manchmal mit Überraschung wahr, daß ihm immer noch die Vorstellung eines an Bevölkerung und Truppenzahl überlegenen Frankreich vorschwebt. So tief der Kaiser die außenpolitische Autorität des Kanzlers respektierte, es gab eine Welt, in der er unbedingt seine eigenen Überzeugungen wahrte; er ließ sich nicht so einfach, wie etwa der Zar durch Gortschakow, "verwenden", war eher abgeneigt, wie Bismarck urteilte, "sich persönlich zum Organ der großmächtlichen Politik herzugeben"; niemals ließ er sich von einer Augenblicksstimmung hinreißen, sondern sein Urteil entsprang immer aus der Substanz eines in einem langen Leben gefestigten Wesens.3 Die Aufgabe Bismarcks war es, seine Überzeugung in laufender Auseinandersetzung mit dem Monarchen in allerhöchste Befehle umzusetzen und dann über dem Festhalten an der eingeschlagenen Linie zu wachen. Die Einheitlichkeit der äußeren Geschäftsführung stand ihm über allem. Er verlangte sie naturgemäß unbedingt von seinen Mitarbeitern, von den Botschaftern: "Kein Ressort verträgt weniger als das der auswärtigen Politik" - so formulierte er schon beim Beginn der Auseinandersetzung mit dem Grafen Arnim - "eine zwiespältige Behandlung; eine solche würde für mich in derselben Kategorie der Gefährlichkeit stehen, wie etwa im Kriege das Verfahren eines Brigadiers und seines Divisionärs nach einander widersprechenden Operationsplänen".4 Das Innehalten dieser Einheitlichkeit, so wie er sie verstand, vertrat er auch seinem Monarchen gegenüber mit unerbittlicher Schärfe. Als Kaiser Wilhelm bei seinem Empfange des französischen Botschafters in Metz im Mai 1877 sich über die englische Neutralitätsdepesche nach Ausbruch des Russisch-türkischen Krieges kritisch äußerte, nahm Bismarck die Gelegenheit wahr, um dem Monarchen in [163] ehrerbietiger Form vorzustellen, daß es ihm unmöglich sei, die Verantwortung für eine Politik zu tragen, die nicht die Seine wäre und auf deren Gang er keinen Einfluß auszuüben vermöchte: wenn die auswärtige Politik so rein persönlich betrieben werde, so könne er sich nicht mehr daran beteiligen, sondern müsse sein Rücktrittsgesuch erneuern. Der Kaiser suchte sich, fast in der Form der Verteidigung, zu verwahren: Briefe schreibe er nie ohne Bismarcks Wissen - aber den mündlichen Verkehr mit Fremden könne sich kein Monarch einschränken lassen; die Randbemerkung Bismarcks grollte wuchtig: "doch, durch die Staats-Raison" - und der Kanzler wisse doch sehr gut, daß er, der Kaiser, in diesem Verkehr immer vorsichtig und daß er jedenfalls sein langes Leben treu und zuverlässig gewesen sei - die Randbemerkung Bismarcks setzte ein unerbittliches "früher, ja" daneben.5

Er hatte dauernd mit diesem Willen zu rechnen. Die seelische und körperliche Kraft dieses Achtzigjährigen wurde selbst durch das Attentat von 1878 nicht gebrochen. Noch im folgenden Jahre warf er in einer außenpolitischen Lebensfrage, dem Abschluß des Deutsch-österreichischen Bündnisses von 1879, die höchste Energie und Zähigkeit seiner Überzeugungen ins Gefecht, und das letzte Aufgebot persönlicher Überredung, vereinter Einwirkung aller Instanzen, und die immer mehr zur ultima ratio werdende Drohung mit dem Abschied mußte in Bewegung gesetzt werden, um den innerlich widerstrebenden Willen des Monarchen und den Willen des Kanzlers zu vereinigen. Erst seit dem Beginn der achtziger Jahre begann die Kraft des persönlichen Eingreifens des Kaisers nachzulassen und allmählich mit der ganzen Vitalität des Greises zusammenzuschrumpfen, ohne jemals ganz zu schwinden.

Wenn der Kaiser seinem Kanzler schließlich doch immer wieder das Opfer des Intellekts brachte, selbst in Fragen höchster Entscheidung, so empfand seine hochstrebende und geistig lebendige Gemahlin Augusta von Sachsen-Weimar in der Begrenzung ihres eigenen Willens tief das Übergewicht, das die Autorität Bismarcks sich gegenüber der Dynastie erworben hatte; schon persönlich trug sie schwer daran, daß sie aus der Einflußstellung einer vertrauten Beraterin ihres Gemahls, die sie bis zu Bismarcks Amtsantritt innegehabt hatte, von dem Minister gleichsam verdrängt wurde. Wenn sie früher eher im nationalen und liberalisierenden Sinne die Wege des konservativen Junkers gekreuzt hatte, war sie jetzt von dem entgegengesetzten Lager aus, von föderalistischen und katholisierenden Neigungen her, die erklärte politische Gegnerin des Reichskanzlers. Wie sie in der inneren Politik der Eröffnung und Zuspitzung des Kulturkampfes heftig widerstrebte, so verwarf sie auch die Außenpolitik, die in der Mitte der siebziger Jahre den Kampf gegen monarchisch-klerikale Bündnisbildung auf der ganzen Linie aufnahm: ihr schien der hohe Beruf der neuen Monarchie geradezu in der [164] Führung der legitimistischen, konservativen, kirchlichen Kräfte Europas zu liegen. Bismarck mißtraute ihrem Einfluß auf den Kaiser, ihrem dynastischen Briefwechsel, dem ganzen Netz von außenpolitischen und innenpolitischen Beziehungen, das ihre Geschäftigkeit wob; sein Konflikt mit dem Grafen Arnim traf nicht nur den unbotmäßigen Botschafter, sondern zielte noch höher hinauf, eben in jene Welt des Hofes, die der Person des Kaisers am nächsten stand und sie immer wieder ihren unsichtbaren Einwirkungen aussetzte.

Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen mit Braut, Royal
Prinzessin Victoria von England.
[80a]      Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen
mit Braut, Royal Prinzessin Victoria von England.
Ganz anders, entgegengesetzt sogar, war die oppositionelle Stimmung begründet, die am kronprinzlichen Hofe gegen den Reichskanzler herrschte; aber sie verband sich letzten Endes doch wieder mit dem fürstlichen Selbstbewußtsein. Die alte Gegnerschaft, in der Kronprinz Friedrich Wilhelm und Kronprinzessin Victoria zusammen mit dem deutschen Liberalismus gegen Bismarck gestanden hatten, setzte sich wenig gemildert fort. Das Fürstenpaar lebte in dem Gefühl, dem Geiste der Zeit, in dem das neue Reich emporstieg, recht eigentlich wahlverwandt und doch von jedem wirksamen Einfluß auf die Gestaltung der Dinge weit entfernt zu sein. Nach außen zurückgedrängt durch die Stellung des Vaters, der fast eifersüchtig über der Ausschließlichkeit seines herrscherlichen Willens wachte, sah sich der Kronprinz obendrein überall in dem Schatten des Mannes, der, zwischen den beiden fürstlichen Generationen stehend, die Dinge lenkte, die er geschaffen hatte. Obgleich Friedrich Wilhelm von Hause aus den Unitariern näherstand und während der Reichsgründung sogar zu Zwangsmitteln gegen den fürstlichen Partikularismus geraten hatte, begann er schon bald über die Omnipotenz des Kanzlers zu klagen, die sogar an die Mediatisierung der kleinen deutschen Fürsten denke und mit der Macht der Krone rivalisiere. Seine temperamentvolle Gemahlin konnte wohl, halb im Scherze den Kanzler herausfordernd, ihm sagen, er wolle aus Deutschland eine Republik und sich selber zu ihrem Präsidenten machen; aber ihre Meinung ging ernstlich dahin, sie wundere sich, daß er nicht offen erkläre: solange wie ich lebe, sind sowohl die Verfassung als die Krone suspendiert.6 Der doppelte Vorwurf, die doppelte Front ist in ihrem Munde das Charakteristische. Solche Stimmungen des kronprinzlichen Paares hielten in den Briefen an die englischen Verwandten nicht zurück. Königin Victoria konnte, was sie an mißtrauischen Sorgen vor der unheimlichen Gewalterscheinung Bismarcks von ihren Ministern hörte, hier nur bestätigt sehen.

Dabei spielten in der Regel auch Gegensätzlichkeiten der großen Politik in diese Urteile hinein. Wenn Bismarck aus Gründen der Staatsräson den dynastischen Sympathien Kaiser Wilhelms für Rußland manchmal einen Dämpfer aufzusetzen hatte, so mußten die Beziehungen des kronprinzlichen Hofes nach Eng- [165] land hin und wieder die umgekehrten Bedenken erregen. Gerade wenn, wie es in den Jahren 1876 bis 1879 geschehen sollte, die englische und die russische Politik die Richtung gegeneinander nahmen und die deutschen Entschließungen sich auf der Linie London - Petersburg bewegen mußten, drohte unsachliche dynastische Vorliebe den abgewogenen Gang seiner Außenpolitik zu durchkreuzen, und sowohl von London wie von Petersburg her fanden politische Werbungen und Verstimmungen ihren Weg nach Berlin, in den Schoß der Dynastie. Hatte doch die Kronprinzessin mitten in der Krisis von 1875 kein Bedenken getragen, ihrer dafür sehr empfänglichen Mutter anzuvertrauen, wenn Deutschland ein Gegenstand allgemeinen Mißtrauens sei, so sei das unvermeidlich, solange Fürst Bismarck der einzige und allmächtige Leiter der deutschen Geschicke sei.7 Dieser Briefwechsel konnte zwar nicht gefährlich werden, weil er für die praktische Geschäftsführung nicht ins Gewicht fiel, aber er trug mehr als einmal dazu bei, die Atmosphäre zu trüben. Viel ernster als solche Privatbriefe, in denen die Stimmung leicht wieder umschlug, nahm Bismarck es natürlich, wenn Zar Alexander in seinem persönlichen Briefwechsel mit dem alten Kaiser die deutsche Politik unter ausgesprochener Diskreditierung des Reichskanzlers bekämpfte; der denkwürdige Frontalangriff vom August 1879 erschien ihm sofort als eine Staatsangelegenheit von höchster Bedeutung. Aber man sieht, auch die persönlich-dynastischen Gegensätze, die seine Stellung umtoben, zielten letzten Endes auf den Kern seiner Politik, und es ist menschlich verständlich, daß er in solchem Kampfe immer mehr dazu gelangte, seine Person mit der Staatsräson gleichzusetzen, wie nur Friedrich der Große es getan.

Es versteht sich, daß beide dynastischen Beziehungen für Bismarcks Führung der Geschäfte ein höchst wertvolles Aktivum der deutschen Politik waren und demgemäß eine jede zu ihrer Zeit in seinem diplomatischen Geschäft nützlich verwandt wurden, als Mittel für den höheren Zweck der Sicherheit des Reiches. Das Problem, das seit der Reichsgründung in der Tiefe der deutschen Außenpolitik ruhte, die Mittelstellung zwischen Rußland und England, war durch das Nebeneinander dieser dynastischen Beziehungen jedenfalls kompliziert, es konnte dadurch erleichtert, aber auch erschwert werden. Mit der Zeit übertrug die Virtuosität der Diplomatie Bismarcks das bewährte System der Gegengewichte auch auf dieses Mitspielen eines dynastisch-europäischen Elementes in den Staatsgeschäften. Wenn er sich überzeugte, daß es dem alten Kaiser zu schwer falle, seine persönlichen Gefühle hinter den Staatsnotwendigkeiten zurückzustellen, suchte er mit Vorbedacht das englische Gewicht in die Waagschale zu legen, um jedes unsachliche Verschieben des Schwergewichts auszugleichen. Sobald dann die Möglichkeit einer Thronbesteigung der nächsten Generation näherrückte, setzte er um so mehr alles daran, gerade die Erhaltung des Drahtes nach Peters- [166] burg zu pflegen, um die deutsche Politik beizeiten vor einem allzu einseitigen Kurs nach der anderen Seite zu bewahren: auch für diesen Fall mochte das Vorhandensein des russischen Rückversicherungsvertrages als brauchbares Gegenmittel bereitgestellt sein. Als dann aber die Ablösung durch eine dritte Generation sich fast unvermittelt am Horizont erhob, der sogar der Ruf einer unbedingt russischen Haltung voranging, war es für Bismarck wieder an der Zeit, überlegt und behutsam das englische Eisen ins Feuer zu schieben. Der einzelne Schritt des Kanzlers mochte, für sich betrachtet, nach rechthaberischer Herrschsucht oder gar nach Intrige aussehen, er war schließlich einzig und allein durch die Staatsräson diktiert. Wie schwierig die Befestigung des Reiches in der europäischen Dynamik der Mächte schon von Natur war, sie empfing durch die dynastische Mitwirkung noch ihre besondere Note der Komplizierung, die sich in die allgemeine Melodie des Ganzen einordnen mußte. Nach außen hin legte Bismarck um so mehr Wert darauf, die Sachlichkeit seiner Politik zu betonen. Dem russischen Minister Herrn von Giers versicherte er im November 1883, "daß Preußen und Deutschland zu große Mächte seien, um von anderen Einflüssen als dem eigenen Staatsinteresse geleitet werden zu können, und daß selbst persönliche Vorliebe und Abneigung des Monarchen daran nichts änderten". Nach beiden Seiten stand er auf der Wacht.

Die Außenpolitik des Reiches war zu alledem die Außenpolitik eines Bundesstaates. Auch die führenden Gliedstaaten hatten ihre dynastischen Beziehungen, die vorwiegend, wie bei dem Münchner und Dresdner Hof, nach Wien gerichtet waren; wenn sie auch nur in der zweiten Linie standen, so konnten sie seit dem Bündnis von 1879 doch im Sinne der amtlichen Reichspolitik wirksam werden.8 Aber längst vordem war das Vertrauen der Bundesfürsten zu der Geschäftsführung Bismarcks unbestritten. In dem Briefwechsel, in dem der Reichskanzler seit 1870 das persönliche Verhältnis zu König Ludwig von Bayern pflegte, wurde ihm immer wieder die volle Bewunderung über seine Leitung der Außenpolitik ausgesprochen.9 Typisch ist das Geständnis, das König Albert von Sachsen am 27. Januar 1878 dem preußischen Gesandten machte: "In der äußeren Politik folge ich dem Fürsten mit verbundenen Augen. Da will ich überhaupt gar nicht gefragt sein, und da ist auch der Ausschuß im Bundesrat für die auswärtigen Angelegenheiten höchst überflüssig. Die Führung der äußeren Politik versteht doch kein Mensch so gut als er."10 Welch ein denkwürdiges Dokument für die bedingungslose Hingabe desjenigen Souveränitätsrechtes, das einst das kostbarste [167] Juwel der fürstlichen Kronen gewesen war und so viel Unheil in der deutschen Geschichte angerichtet hatte! Welch ein Wandel der Zeiten, wenn man schon in Dresden die Rechte geringschätzte, mit denen Bayern bei seinem Eintritt in das Reich wenigstens die Form bundesstaatlicher Beteiligung an der Außenpolitik gerettet zu haben glaubte. Es waren zwei Äquivalente für den schmerzlichen Verzicht, die Bayern in den Versailler Verträgen festlegte: der Bundesratsausschuß für auswärtige Angelegenheiten, der unter seinem Vorsitz gebildet werden sollte und immerhin ein organischer Ansatz zu einer verfassungsmäßigen Entwicklung werden konnte, und das Gesandtschaftsrecht, das sich schon bald als inhaltloses Ehrenrecht enthüllte. Den Unitariern erschienen solche Konzessionen als schlimme Schönheitsfehler an der Reichseinheit,11 als mögliche Quelle künftigen Unheils, denn noch stand dieses Geschlecht unter dem lebendigen Eindruck der zweideutigen Rolle, die einst die fremde Diplomatie an den kleinen Höfen gespielt hatte. Vor allem nach außen hin war absolute Einheit notwendig. Wenn in den Jahren 1867 bis 1870 die französische Regierung in berechnender Weise versucht hatte, norddeutsche Bundesstaatsregierungen zu internationalen Tagungen zuzuziehen, so hatte das Motiv auf der Hand gelegen; aber es ereignete sich noch im Januar 1875, daß Rußland seine Einladungen zu der Brüsseler kriegsrechtlichen Konferenz auch an deutsche Mittelstaaten versandte, so daß es einer amtlichen Beschwerde in Petersburg bedurfte, um den Rückfall in eine vergangene Zeit aus der Welt zu schaffen. So hohen Wert die Reichsleitung Bismarcks später darauf legte, im innerpolitischen Geschäftsgange stets im Namen der Verbündeten Regierungen zu sprechen und die bundesstaatliche Etikette streng zu wahren, in dem außerpolitischen Verkehr mit den fremden Mächten war es die Kaiserliche Regierung, die das Wort führte. Aber Bismarck war Realist genug, dem natürlichen Gang der Dinge vertrauend, die bayrischen Reservate als ungefährlich hinzunehmen. Der Bundesratsausschuß für auswärtige Angelegenheiten gewann schon darum kein Leben, weil er, im Unterschied von den übrigen Ausschüssen, keinen Geschäftsbereich besaß, der eine laufende Mitwirkung erfordert hätte: durch die Nichtbeteiligung Preußens war er rettungslos trockengelegt. Erst nach der Krisis von 1875 erinnerten sich die süddeutschen Regierungen der Einrichtung, die noch nicht einmal aus der Taufe gehoben war, und klopften mehr oder weniger geschickt in Berlin an, ob es nicht an der Zeit sei, den Ausschuß einzuberufen. So erwog denn Bismarck, wie sich dem Verfahren eine positive Seite abgewinnen ließe. Er entwickelte dem württembergischen Ministerpräsi- [168] denten von Mittnacht den Gedankengang: die bundesstaatlichen leitenden Minister, deren persönliches Erscheinen er zur Bedingung machte, könnten ihm als Zeugen und Eideshelfer dienen, so wie das englische Parlament die englische Politik unterstütze. Machen könne man diese Politik, die wie ein Kaleidoskop sei, nicht zusammen; aber Mitteilungen zu machen, vielleicht in Quartalsterminen, würde ihm ganz erwünscht sein.12 Eine derart begrenzte Funktion, die dann ewig dazu verurteilt gewesen wäre, hinter den Ereignissen zurückzubleiben, konnte die Bundesratsmitglieder freilich wenig locken. Wohl aber konnte die Reichsleitung auch einmal von sich aus das Bedürfnis fühlen, in einem wichtigen Augenblick die "Zeugen und Eideshelfer" um sich zu versammeln. So hat Bismarck bei dem Abschluß des österreichischen Bündnisses auch den Bundesratsausschuß als eine ihm jetzt erwünschte Verstärkung seiner Position in Bewegung gesetzt. Auf seinen Wunsch versammelte sich der Ausschuß am 16. Oktober 1879, und im Namen des Reichskanzlers machte der Minister Graf Stolberg eine Reihe vertraulicher Mitteilungen über die gepflogenen Verhandlungen; von einer Berichterstattung an das Plenum wurde abgesehen und weitere Schritte schlossen sich nicht an. Eine Wiederholung dieses einmaligen Vorganges fand während Bismarcks Staatsleitung nicht statt.

Um den Bundesmitgliedern die Information zu geben, die sie ein gewisses Recht hatten zu fordern, gab es auch noch andere Wege. Dem König von Bayern gegenüber fuhr der Reichskanzler, der dem persönlichen Bedürfnis gern den Vortritt vor den rechtlich-unpersönlichen Ordnungen gab, fort, den Weg des vertraulichen Briefwechsels im Bedarfsfalle zu beschreiten. So kam auch während der zweiten Hälfte seiner Staatsleitung, in der das föderalistische Element einen gewissen Spielraum im Innern gewann, in der Außenpolitik eine bundesmäßig-kollektive Beteiligung um so weniger in Frage, als seine Autorität auf diesem Gebiete nun vollends auf die Höhe stieg. Dagegen beobachtet man, daß er in diesen Jahren in den Sitzungen des preußischen Staatsministeriums ausführlicher in die außenpolitische Lage einzugehen pflegte; daß von den unpolitischen Ressortchefs einer auch nur eine Frage an den auswärtigen Minister gerichtet hätte, verbot sich durch ein ungeschriebenes Gesetz.

Nicht viel anders gestaltete sich die Mitwirkung des Reichstages an der Außenpolitik. Der Reichstag hatte das natürliche Bedürfnis, sich nicht grundsätzlich von diesen Dingen ausschalten zu lassen. Nach dem Brauch anderer parlamentarischer Staaten wünschte er das Mittel der Interpellation und die Praxis der Blaubücher zu üben, wenigstens in außerordentlichen Fällen; wobei man sich darüber nicht ganz klar war, daß diese erprobten parlamentarischen Methoden gerade in ihrem Mutterlande von der Regierung in ihrem Interesse virtuos gehandhabt wurden. Nach englischem Muster den Geschäftsgang durch wohlberechnete neugierige Anfragen zu kontrollieren, lag dieser Reichstags- [169] generation, die das Übergewicht der Autorität des Reichsgründers lebhaft empfand, noch völlig fern. Nur die Zentrumspartei, in der sich das Lager der Besiegten von 1866 zusammengefunden hatte, liebte es, gelegentlich ihre Opposition auch auf die Außenpolitik auszudehnen; sie griff gern in die Vergangenheit zurück und benutzte etwa das Erscheinen von Lamarmoras Buch, um die Erinnerung an den Bruderkampf des Jahres 1866 aufzufrischen. Der Höhepunkt dieser Gegnerschaft fiel mit der antiklerikalen europäischen Außenpolitik Bismarcks zusammen. Als der Abgeordnete Majunke sie im Dezember 1874 scharf angriff, wurde sein Vorstoß - nachdem der Achilles sich grollend in sein Zelt zurückgezogen hatte - durch Rudolf von Bennigsens geschicktes Eingreifen in eine überwältigende Vertrauenskundgebung des Reichstags umgebogen.

Im Namen der regierungsfreundlichen Parteien geschah es, daß Bennigsen und Lucius, auf der Höhe der orientalischen Krisis, im Februar 1878, eine Interpellation an die Reichsregierung über die Lage richteten. Aber sie mußten erfahren, daß dieses Mittel dem Kanzler gegenüber nicht ganz einfach zu handhaben sei. Die Antragsteller hatten vorher in Varzin vertraulich angefragt, ob eine Interpellation nicht ungelegen komme; Bismarck hatte erst zustimmend geantwortet, meinte dann aber nach Überlegung, die Antwort würde ihm erleichtert werden, wenn er von feindlicher Seite angegriffen werden sollte. Als die von allen Parteien unterzeichnete Interpellation nicht mehr zurückgezogen werden konnte, erging er sich in unmutigen und drastischen Wendungen, da ihm der Wortlaut der Interpellation und vielleicht auch, wegen neuer Ereignisse, der gewählte Augenblick nicht passend erschien.13 Man sieht, wie sehr es ihm widerstrebte, aus der bis dahin sorgfältig innegehaltenen Stellung in der Hinterhand herauszutreten und vor den Augen Europas das Seil zu besteigen. Aber der "feindliche Akt" der Interpellation, dem er sich am liebsten entzogen hätte, wurde von ihm in ein beispielloses Meisterstück, außenpolitische Fragen in einer parlamentarischen Arena zu behandeln, verwandelt. Der Reichstag wurde ihm zu einer Versammlung von Zeugen und Eideshelfern, einer mächtigen Resonanz, die seiner Politik den moralischen Rückhalt der Nation und einen weitreichenden Widerhall verlieh, nicht mehr und nicht weniger. Aber der Reichstag erhob auch seinerseits nicht den Anspruch, diese Politik "mitmachen" zu wollen. Seine Mehrheit folgte, wie der König von Sachsen, dem Kanzler mit verbundenen Augen; soweit er damals auch das Feld seines innerpolitischen Tatendrangs dehnte, in der Außenpolitik wußte er sich klug zu beherrschen. Bismarck konnte selber das Seltene des Interpellationsherganges verbindlich dahin erläutern: "So ist das einmal ein Beweis persönlichen Vertrauens, welches man mir geschenkt hat, und zweitens ein Beweis, daß zwischen der Politik, wie sie geführt [170] ist, und der Ansicht der Mehrheit der Landesvertretung volle Übereinstimmung geherrscht hat, die zu einer Dissonanz keinen Anlaß gegeben hat!"

Es war in der Natur der Dinge begründet, daß auch in anderen Staaten, selbst in solchen des rein parlamentarischen Systems, sich immer wieder eine Konzentration des außenpolitischen Willens in wenigen Händen und eine Geheimhaltung der außenpolitischen Geschäftsführung, selbst vor dem Parlamente, durchsetzte. In Deutschland war das Verhältnis von Autorität und Sachkenntnis, wie es sich seit der Reichsgründung herausgebildet hatte, so eindeutig bestimmt, daß eine parlamentarische Tradition außenpolitischen Interesses lange Zeit ganz hintangehalten wurde. Wir sehen, daß Bismarck schon nach mehr als einer Seite die Einheitlichkeit seiner Politik gegen dynastische Sonderwünsche, dilettantische Neugier und unvermeidliche Indiskretionen zu verteidigen hatte: seiner herrenhaften Natur würde es nicht entsprochen haben, seinen Anteil an dem im ständigen Fluß befindlichen Spiel der Mächte wie ein Zauberkünstler, der auch das Inwendige des Apparates zeigt, in parlamentarischen Kommissionsverhandlungen auf den Tisch zu legen. Zumal in den Jahren nach dem Eintritt des Reiches in die Staatengesellschaft und in der Epoche der heraufziehenden Orientkrise, in allen diesen Phasen eines wechselseitigen Sichabtastens der Mächte untereinander, würde sich eine andere Praxis der Geschäftsführung unter allen Umständen verboten haben. Nur ein ganz geschlossener und nur sich selber verantwortlicher Wille vermochte das sachlich im Orient nicht interessierte Reich so lange aus den Entscheidungen herauszuhalten, bis alle anderen ihre Stellung genommen hatten, um dann erst in die Hinterhand des Spieles zu gelangen und die Grundlagen einer deutschen und europäischen Sicherheitspolitik zu legen. So vereinigte sich alles, um an dem Kreuzweg so vieler Instanzen und in der Mitte so vieler Friktionen, die der verfassungsmäßige und der tatsächliche Apparat erzeugte, eine Omnipotenz des leitenden Willens in der Außenpolitik hervorzubringen, die in den achtziger Jahren immer höher ansteigend, in ihrer Geschlossenheit und Dauer ohne Beispiel in Europa war.

Daß diese Entwicklung, so wie die Menschen und die Institutionen waren, eine Notwendigkeit war, läßt sich nicht bestreiten. Daß sie ebenso unvermeidlich auch gewisse Kehrseiten erzeugte, wird erst im weiteren Verlaufe der Dinge offenbar werden. Sowohl in den Spitzen des Staates als auch in den breiteren Schichten des Volkes gewöhnte man sich daran, daß die Außenpolitik in den besten Händen liege und dem Einen zu überlassen sei. Gewiß wurde auch im englischen Ministerium das innere Kabinett, das um die Geheimnisse der Außenpolitik wußte, mit der Zeit zu einem kleinen Ausschuß in einem Kreise höchst oberflächlich unterrichteter Fachminister, aber die Einsamkeit und Höhe des Jupiter tonans, von der aus Bismarck etwa im preußischen Staatsministerium oder vor dem Reichstag den Schleier gelegentlich lüftete, schuf doch eine allzu große Distanz. Im Ministerium erschien er wie ein Staatsmann in einem [171] Kreise hoher Beamter, bei denen nach deutschem Brauch Ressortgeist und Spezialistentum die Vorhand vor dem großen Zusammenhang und dem politischen Instinkt besaßen.14 Im Reichstage hielt sich vollends das außenpolitische Urteil in bescheidenen Grenzen. Man lernte wenig auf dem Instrumente spielen, mit dessen Hilfe sich der äußere Lebenswille großer Völker mit den inneren Bewegungen in Verbindung setzt. Auch die publizistische Beteiligung, in die Bismarck frühzeitig mit virtuoser Kunst einzugreifen gelernt hatte, überschritt selten ein höheres Niveau und war häufig auch dilettantischen, manchmal sogar verantwortungslosen Bemühungen zugänglich. So blieben die Massen des gebildeten Volkes in diesem Teile ihrer politischen Erziehung allzusehr zurück und lebten im Grunde, wie einst im absoluten Staate, in einer bequemen Entfernung von den Lebensfragen der Nation. Wo man aber über diesen Kreis hinaustrat, war der gute Wille in der Regel stärker als Sachkunde, Takt und Instinkt.

Bismarck war als Politiker gewöhnt, die außenpolitische Staatsleitung, statt sie zu isolieren, nur im Zusammenhange mit der inneren Staatsleitung anzusehen. Er war sich bewußt, daß das eine immer in das andere hineinspiele, und daher am besten von einem Willen nach einem einheitlichen Plane gelenkt werde. In der kurzen Episode, in der er sich von den preußischen Staatsgeschäften zurückgezogen und auf die Reichsleitung beschränkt hatte, am 13. Dezember 1872 schrieb er darüber an Roon: "Eine Trennung der auswärtigen Politik des Reichs von den innern Reichsgeschäften erscheint mir überhaupt sachlich unausführbar aus dem doppelten Grunde, daß das Deutsche Reich erst vor kurzem seine Stellung unter den Mächten eingenommen hat, und daß seine Mitglieder, während sie nach außen ein geschlossenes Ganzes bilden, untereinander in gewissen Beziehungen von internationalem Charakter stehen."15 Der innenpolitische Prozeß der Vereinheitlichung des Reiches stand für ihn in unlösbarer Verbindung mit der Führung der Außenpolitik; er gewöhnte sich immer mehr daran, diese Verbundenheit aller Dinge untereinander, in der ein Schlag tausend Verbindungen schlägt, als die Berechtigung der einheitlichen Führung anzusehen. Von der unangefochtenen Position der einheitlichen Außenleitung griff er in das allmählich sich reicher entfaltende innere Leben des Reiches über.


1 [1/161]Manteuffel an Bismarck 13. August 1871; Bismarck an Manteuffel 14. August 1871. Große Politik 1, 61 ff. ...zurück...

2 [1/162]Chr. v. Tiedemann, Sechs Jahre Reichskanzlei, S. 95. Eine Probe dort die Verhandlung über die Frage der deutschen Beteiligung an der Weltausstellung in Paris. ...zurück...

3 [2/162]Eine der originellsten Charakteristiken, die Kronprinz Rudolf von Österreich am 11. 3. 1888 anonym veröffentlichte im Neuen Wiener Tageblatt: Freiherr Oskar v. Mitis, Das Leben des Kronprinzen Rudolf, S. 378 ff. ...zurück...

4 [3/162]Aufzeichnung von 1872. Gr. Pol. I, 158. ...zurück...

5 [1/163]Staatssekretär v. Bülow an Kaiser Wilhelm I 15. 5. 77; an Bismarck 17. 5. 77. Große Politik I, 318 ff. ...zurück...

6 [1/164]General von Stosch an G. Freytag, 2. 1. 1868 (Stosch, Denkwürdigkeiten S. 136). Kronprinz Friedrich Wilhelm an Schweinitz 25. 1. 1872. Bismarck zu Graf Alexander Keyserling Okt. 1872. Kronprinzessin Victoria an Königin Victoria Oktober 1881, Ponsonby, Letters of Empress Frederick 191. ...zurück...

7 [1/165]Kronprinzessin Victoria an Königin Victoria 5. 6. 75. Königin Victoria an Kronprinzessin Victoria 8. 6. 75. Ponsonby, 138 ff. ...zurück...

8 [1/166]Darauf wies man 1879 auch von österreichischer Seite hin. Andrássy betonte Bismarck gegenüber, auch nach der Meinung Erzherzog Albrechts werde die Festigkeit des Deutschen Reiches, und namentlich die Zuverlässigkeit von Bayern und Sachsen, durch das Zusammenhalten von Deutschland und Österreich für alle, auch die schwersten Eventualitäten sichergestellt. ...zurück...

9 [2/166]So 16. Juli 1876. Ged. u. Er. 1, 360. ...zurück...

10 [3/166]Hans Goldschmidt, Das Reich und Preußen im Kampf um die Führung. Berlin 1931, S. 233 f. ...zurück...

11 [1/167]Ein merkwürdig verspäteter Nachklang solcher Sorgen in dem übertriebenen Urteil von O. Lorenz, Kaiser Wilhelm und die Begründung des Reichs (1902), nach dem Preußen "seine Überlieferung, in welcher der Name Friedrichs des Großen in ehernen Lettern zu lesen stand, für immer preisgegeben hatte und mit sanfter Verbeugung vor der dünkelhaften Souveränität dreier vor den Weltmächten so gut wie nichts bedeutenden Könige auf seine eigene, blutig erstrittene Großmachtstellung verzichtete". ...zurück...

12 [1/168]Freiherr von Mittnacht, Erinnerungen an Bismarck, S. 36. ...zurück...

13 [1/169]Frhr. v. Lucius v. Ballhausen, Bismarck-Erinnerunnen S. 126 f. Chr. v. Tiedemann, Sechs Jahre Reichskanzlei, S. 227. Über den Verlauf der Interpellation siehe Seite 209 f. ...zurück...

14 [1/171]Vgl. Bismarck an Mittnacht 5. Dezember 1883. "Seit man im preußischen Staatsministerium wisse, daß aller Wahrscheinlichkeit nach auf des Fürsten Antrag jeder Minister werde entlassen werden, herrsche im Staatsministerium eine Disziplin, wie sie nie bestanden habe." ...zurück...

15 [2/171]H. Goldschmidt, Das Reich und Preußen im Kampf um die Führung (1930), S. 161 f. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte