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Bd. 5: Der österreichisch-ungarische Krieg

  Kapitel 25: Der Zusammenbruch   (Forts.)
Staatsarchivar Oberstleutnant Edmund Glaise-Horstenau

[626] 7. Sonderfriedensangebot und Revolution.

Der neue Außenminister Graf Julius Andrassy war auf dem Ballplatz mit dem Programm erschienen, Österreich-Ungarn durch einen Sonderfrieden zu retten. Erwägungen verschiedener Art hatten zu diesem Entschluß geführt. Innerpolitisch war es namentlich Ungarn, das damals - in den Tagen von Debreczin - als einziger Hort der Dynastie galt und wo der Ruf nach dem Sonderfrieden gleichzeitig der stündlich am Boden gewinnenden Revolution das wirksamste Agitationsmittel bot. Wollte man das Königtum retten, sagten sich die Ratgeber der Krone, dann mußte der Harrassprung gewagt und auf den Sonderfrieden hingearbeitet werden.

Noch entscheidender aber waren für Andrassy im Zusammenhalt mit der Antwort Wilsons, die der Minister nicht günstig beurteilte, die Nachrichten, die seit Wochen von den in der Schweiz weilenden österreichisch-ungarischen Diplomaten kamen, und das Bild, das er selbst Mitte Oktober bei einem kurzen Schweizeraufenthalt von den internationalen Verhältnissen gewonnen hatte. Die Lage Deutschlands wurde in der großen Schweizer "Friedensbörse" für verzweifelt betrachtet. Der oberste Rat von Versailles habe die Absetzung des Kaisers und der Hohenzollern beschlossen. Das deutsche Volk werde, wie immer die Dinge liefen, einen schrecklichen Frieden erhalten, entwaffnet, verstümmelt werden. Die Donaumonarchie werde Deutschlands Schicksal nicht beeinflussen, nicht aufhalten können. Für sie aber stehe - ließ sich täglich, freilich nur höchst inoffiziell, die französische, die englische, irgendeine neutrale Gesandtschaft vernehmen - die Frage so: Wolle sie an der Seite des Bundesgenossen dessen unvermeidlichen Niederbruch mitmachen, der ihr selbst die völlige Auflösung bringen werde - oder wolle sie sich in der letzten, allerletzten Stunde durch eine entschiedene Trennung von Deutschland vor dem sicheren Verderben retten? In Frankreich gäbe es eine starke austrophile Partei, Männer wie Pichon, Tardieu, Berthelot, Briand, Denys Cochin ständen an ihrer Spitze. Auch in London wünsche man nicht den Zerfall Österreichs und die Balkanisierung Mitteleuropas. Kaiser Karl genieße hier wie dort großes Vertrauen. Aber die Stunden seien gezählt; wenn das Habsburgerreich nicht ehestens die deutschen Ketten abwerfe, werde es unrettbar in den Abgrund mitgerissen werden.

Inwieweit diese Verlockungen auf Rechnung Northcliffes zu schreiben sind, ist zur Zeit noch nicht festzustellen. Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, daß es unter den Politikern der Westmächte wirklich viele gab, die als gute Kenner Mitteleuropas das Chaos vermeiden wollten, das ein Zusammenbruch Österreichs mit sich bringen mußte. Selbst die Clémenceau nahestehende Information stellte Anfang Oktober längere, im Ergebnis verneinende Untersuchungen darüber an, ob Tschechien und Jugoslawien als selbständige Staaten [627] lebensfähig seien.18 Offenkundig bildete sich da in der österreichischen Frage ein Gegensatz zwischen der Politik von Paris und London einerseits und jener von Washington andererseits heraus, und es sei nun - meinten die Ratgeber in der Schweiz - Österreichs Sache, seine Freunde bei der Entente durch entschlossenes Abschwenken von Deutschland zu stützen und zu vermehren.

So lange Wilsons Antwort noch nicht da war, behielten in den leitenden österreichisch-ungarischen Kreisen jene Persönlichkeiten die Oberhand, die an der Seite Deutschlands mit zusammengebissenen Zähnen bis ans bittere Ende gehen wollten. Seit aber der Präsident Österreich sein wahres Gesicht zeigte und die innerpolitische Entwicklung erschreckend dem vollen Zusammenbruch entgegensteuerte, neigte sich die Wagschale der außenpolitischen Erwägungen, unbekümmert um Burians Vertrauen, die Lage methodisch meistern zu können, nach der entgegengesetzten Seite hin. Was hatte Deutschland, fragte man sich, noch von einem Bundesgenossen zu erhoffen, dessen Völker größtenteils schon im Lager der Entente standen? Was konnte man vom Flankenschutz einer Armee erwarten, die kein Vaterland mehr besaß? Durfte Österreich-Ungarn den einzigen Weg einer etwaigen Rettung, der sich noch bot, unbenutzt lassen - nur einer Bündnispolitik zuliebe, die auch für den anderen Teil jeden sachlichen Wert verloren hatte? Hatte nicht gerade Preußen in einem früheren Jahrhundert als Bundesgenosse Österreichs unter weit weniger zwingenden Verhältnissen die Bahn eines Sonderfriedens betreten? Und war es nicht das Wiener Kabinett, das in den letzten zwei Jahren wiederholt und erst wieder Ende September in Berlin hatte warnen lassen, daß Österreich-Ungarn eines Tages nicht mehr weiter können werde?

In diesen Erwägungen, deren ethische Beurteilung nicht Sache der vorliegenden Darstellung sein kann, wurzelte das Sonderfriedensangebot, das Andrassy, am 26. in Wien angekommen, vorbereiten ließ. Am Abend dieses Tages kündete Kaiser Karl seinem Bundesgenossen telegraphisch den "unabänderlichen Entschluß" an, "innerhalb 24 Stunden um einen Separatfrieden und um einen sofortigen Waffenstillstand anzusuchen". Selbst die "innigsten, bundesbrüderlichen und freundschaftlichen Gefühle" müßten gegenüber der Pflicht, den Staat zu retten, in den Hintergrund treten.19 Kaiser Wilhelm depeschierte 24 Stunden später aus Potsdam seine schmerzlichste Überraschung zurück. Die Aussichten der laufenden Verhandlungen seien "nicht ungünstig", müßten aber ins Gegenteil umschlagen, wenn die Gegner erführen, daß das Band der Mittelmächte zerrissen sei.

Der Entwurf der Note an Wilson bereitete dem Ballplatz Schwierigkeiten. Auf der einen Seite sagte man sich, daß der Schritt nur dann [628] seinen Zweck erreichen konnte, wenn der Wille zum Sonderfrieden, zur ungesäumten Trennung von Deutschland möglichst klar ausgedrückt wurde. Zum anderen unterlag es aber keinem Zweifel, daß die neue Politik bei den Deutschösterreichern die heftigste Ablehnung erfahren werde. Wohl waren auch sie kriegsmüde bis zum Äußersten, und ihr augenblicklich führendes Blatt, die Arbeiter-Zeitung, hatte am 24. Oktober geschrieben, weder Berlin noch Budapest dürfe sich darüber täuschen, daß Österreich in jedem Fall gezwungen sei, den allerbaldigsten Frieden anzustreben. Trotzdem war angesichts der wachsenden antidynastischen, revolutionären Strömung, die sich durch die als Flucht ausgelegte Kaiserreise nach Ungarn nicht vermindert hatte, sehr zu besorgen, daß die Lösung der tausendjährigen Bande zum großen deutschen Volkskörper bei den Deutschösterreichern einen Schrei der Entrüstung hervorrufen werde.

Gesandter v. Wiesner riet im Redaktionsausschuß, man möge in der Note an Wilson offen sagen, daß Österreich den Sonderschritt tue, weil der Bund der Feinde dies so wünsche. Solche Aufrichtigkeit werde in Deutschösterreich am ehesten verstanden werden. Aber die Sorge, daß dadurch der Schritt bei der Entente an Nachdruck verlieren könnte, führte schließlich zu der Erklärung, daß die Wiener Regierung bereit sei, "ohne das Ergebnis anderer Verhandlungen abzuwarten, in Verhandlungen über einen Frieden zwischen Österreich-Ungarn und den gegnerischen Staaten und über einen sofortigen Waffenstillstand an allen Fronten Österreich-Ungarns einzutreten..."

Am 28. Oktober früh, noch ehe die Note abgesandt wurde, kam der Kaiser aus Gödöllö nach Wien zurück. Er führte einen aufsehenerregenden Gast im Hofzuge mit, den Grafen Karolyi. Vergeblich hatte sich der Herrscher in den letzten Tagen bemüht, die Regierungskrise in Ungarn zu entwirren. Ein Politiker reichte dem anderen in Gödöllö die Türklinke. Neben Karolyi und dem Demokraten Jaszy erschienen auch zum erstenmal Sozialdemokraten vor dem König in Audienz. Immer stärker wurde der Druck von links. Am 25. traten unter Führung Karolyis im Hotel Astoria radikale Politiker zu einem revolutionären Nationalrat zusammen, der offen darauf ausging, das Parlament zu verdrängen und die Führung an sich zu reißen. Karolyi selbst streckte begehrlich die Hand nach dem Portefeuille des Ministerpräsidenten aus. Aber sein Anhang gab nur unter der Bedingung seine Einwilligung, daß der Graf sich auf ein radikales Programm festlegte. Für ein solches war der König noch nicht zu haben. Um Zeit zu gewinnen, nahm er Karolyi nach Wien mit. Inzwischen konnte der von der Front herbeigeholte Erzherzog Josef in Budapest eintreffen und dort als Homo regius und wirksames Gegengewicht gegen Karolyi die Entwirrung der Krise in die Hand nehmen. Aber Karolyi kehrte, zunächst um seine stolzen Hoffnungen betrogen, gleichzeitig mit dem Erzherzog nach Budapest zurück und wurde dort von der Straße mit demonstrativem Beifall empfangen.

[629] Neben der ungarischen Regierungskrise war während des Aufenthaltes in Gödöllö auch eine österreichische zu lösen gewesen. Die Versuche, mit den "mündig gewordenen" Völkern zu irgendeiner friedlichen Auseinandersetzung zu kommen, mußten fortgeführt werden. Das Kabinett Hussarek entbehrte der Eignung hierzu. Als Nachfolger des Ministerpräsidenten kam, mochten immerhin noch andere Kandidaten genannt werden, nur mehr der Pazifist Lammasch ernstlich in Betracht. Auch das Gefühl des Mißtrauens, das der Kaiser den staatsmännischen Eigenschaften des gelehrten, aber weltfremden Mannes entgegenbrachte, konnte daran nichts ändern. Lammasch verkörperte als Mann der Wissenschaft, als Kämpfer für den Frieden und angesichts seiner Verbindungen im feindlichen und neutralen Ausland - Verbindungen, deren tatsächliche Bedeutung freilich gewaltig überschätzt wurde - politische und moralische Werte, die man nicht mehr länger ungenützt lassen wollte. Beraten von dem bekannten Staatsrechtslehrer Professor Hans Kelsen, hatte Lammasch zuerst die Absicht, überhaupt kein Ministerium mehr zu bilden, sondern bloß ein "Exekutivkomitee". Dieses sollte sich aus Vertretern der in den Nationalstaaten entstehenden Nationalregierungen, deren Bestellung ohnehin nicht mehr zu verhindern war, zusammensetzen, die bisherige Zentralverwaltung ruhig und planmäßig in die Verwaltung der neuen Staaten überführen, den Kriegszustand abwickeln und die Friedenskonferenz vorbereiten, bei der jedoch alle Nationalstaaten selbständig vertreten zu sein hatten. Lammasch hoffte, daß gerade eine so großzügige Anerkennung der neuen Verhältnisse das Zusammengehörigkeitsgefühl bei den Nationalstaaten wieder erwecken würde.20

Der Kaiser stimmte von Gödöllö aus dem Antrage zu mit der Abänderung, daß er sich die Ernennung der Nationalregierungen noch selbst vorbehalten wolle. Er gab sich, was den Grad der im Reiche eingerissenen Zersetzung anbelangt, noch Hoffnungen hin, die nicht mehr gerechtfertigt waren. Professor Lammasch trat nun mit dem Tschechen Kramarsch und dem Südslawen Koroschetz in Fühlung, die aber bei allem persönlichen Entgegenkommen keinerlei Neigung zeigten, an einer einem Ministerium auch nur entfernt ähnlich sehenden Einrichtung mitzuwirken. Sie befanden sich unmittelbar vor der Abreise in die Schweiz, wo sie, noch stark im Dunkeln tappend, das Nähere über die Zukunft ihrer Nationen zu erfahren hofften.

Damit war der Plan eines "Exekutivkomitees" der Nationalstaaten gescheitert, und Lammasch entschloß sich nun, die Bildung eines gewöhnlichen Kabinetts aus politisch möglichst unbelasteten Männern zu übernehmen. Der antimilitaristisch-demokratische Charakter des neuen Ministeriums kam u. a. [630] dadurch zum Ausdruck, daß "auf der Ministerbank kein Mann in militärischer Uniform saß". Das Kabinett, das am 27. seine Berufung erhielt, durfte immerhin bei den meisten Parteien, auch den slawischen und den sozialistischen, auf eine wohlwollende Duldung rechnen; auf mehr freilich nicht! Über das von dem geplanten "Exekutivkomitee" übernommene Regierungsprogramm ging die Revolution in ganz Österreich zur Tagesordnung über.

Am 28. vormittags brachten die Blätter das Sonderfriedensangebot Andrassys an Lansing. In den nächsten 24 Stunden fielen die Tschechen und die Südslawen offiziell von Österreich ab. In Prag übernahm der Nationalrat die Regierung, die Beamten legten den Eid in seine Hände ab. Auch die im Lande befindlichen tschechischen Ersatztruppen stellten sich der neuen Gewalt zur Verfügung. Die magyarischen Mannschaften verbrüderten sich mit den Tschechen. Gleicherweise verkündete der Agramer Sabor die jugoslawische Unabhängigkeit, indem er ebenso wie der Prager Nationalrat die Verwaltung und das Verfügungsrecht über die Truppen an sich riß. Hier wie dort und in allen Provinzstädten wurden die Wahrzeichen der alten Staatsgemeinschaften entfernt; Offiziere und Mannschaften mußten, ob sie wollten oder nicht, die nationalen Kokarden aufnehmen. Zwei Tage später trat in Sarajevo Generaloberst v. Sarkotić von der politischen Leitung des Landes zurück.

In Budapest war es am 28. zu einer großen revolutionären Demonstration gekommen, bei der die Polizei einen Mann getötet und drei Demonstranten verwundet hatte. Karolyi hatte sich der Straße völlig in die Arme geworfen. Noch mühte sich, von Erzherzog Josef unterstützt, Graf Hadik mit der Bildung eines "Kabinetts der linken Konzentration" ab. Da spielte in der Nacht vom 30. auf den 31. Oktober eine Soldatenrevolte dem Nationalrat die Gewalt über Budapest in die Hände. Am nächsten Morgen ernannte der König auf Antrag des Erzherzogs Josef den Grafen Karolyi mit unbeschränkten Vollmachten zum Ministerpräsidenten. Karolyi legte seinen Eid in die Hände des Erzherzogs ab. Sein Kabinett bestand durchweg aus Linksdemokraten und Sozialisten. Zum Kriegsminister wurde "im Einverständnis mit dem Soldatenrat", der sich gegründet hatte, der Artillerieoberst Bela Linder ernannt.

Am Abend dieses ereignisreichen Tages durcheilte Budapest die Nachricht, daß Tisza in seiner Villa durch drei Soldaten ermordet worden sei. Er starb, wie er gelebt hatte, als Held. Seine letzten Worte waren: "Ich bin getroffen, ich sterbe, es mußte so geschehen."

Am 1. November wurde in einer Sitzung des Budapester Nationalrates der Beschluß gefaßt, das "Regierungsprogramm" des Kabinetts Karolyi auf die Frage der Staatsform "auszudehnen"; das Volk sollte entscheiden, ob es eine Monarchie oder eine Republik haben wolle. Karolyi verlangte vom König durch den Fernsprecher die Enthebung vom Amtseid; der König willigte ein. In den Straßen von Pest erschallte der Ruf: "Hoch die Republik!"

[631] Auch in Wien, der alten Kaiserstadt, war schon vor zwei Tagen der gleiche Ruf ertönt. Die Andrassy-Note hatte gewirkt, wie es Kenner der Volksstimmung und der politischen Strömungen vorausgesehen hatten. Die Lösung der uralten Bande mit dem "Reich", wie man in Österreich seit alters her Deutschland kurzweg nannte - die Lösung dieser Bande gerade in einem solchen Augenblick, in dem ja die tausendjährige Vergangenheit und das geschichtliche Werk des deutschösterreichischen Stammes im Versinken waren, wirkte niederschmetternd auf alle Gemüter. Ein Mann von der Besonnenheit des österreichischen Gesandten in Madrid, des Prinzen Emil Fürstenberg, schrieb an Andrassy, daß es für "jeden Patrioten und rechtlich denkenden Österreicher und Ungarn, der noch einen Funken Ehrgefühl im Herzen hat", ein unerträgliches Gefühl sei, zum Verräter gebrandmarkt zu werden. "Wenn der durch eine Reihe von unfähigen und jämmerlich schwachen Regierungen künstlich heraufbeschworene Zusammenbruch der Monarchie auch nahezu alles vernichtet, was jedem Patrioten hoch und heilig war, so ist es doch Pflicht der heute an der Macht befindlichen Faktoren, dafür zu sorgen, daß wenigstens die Ehre derjenigen Konnationalen, welche bisher treu und ehrlich zum Herrscher, Vaterlande und zum beschworenen Bündnisse gehalten haben, gewahrt bleibe..." Der Botschafter in Berlin, Prinz Gottfried Hohenlohe, gab sofort seine Demission.

Die Gegner der Dynastie und der Monarchie hatten nun auch in Deutsch-Österreich leichtes Spiel. Am 30. Oktober trat im Wiener Landhaus die deutschösterreichische Nationalversammlung abermals zusammen. Sie beschloß, die ganze Staatsgewalt auf deutschösterreichischem Boden an sich zu ziehen. Die Frage der Staatsform blieb noch immer zurückgestellt. Aber in der Organisation der Obersten Staatsbehörden war eines monarchischen Staatsoberhauptes nicht mit einem Worte gedacht.21 Alle Gewalten wurden als vom Volke [632] kommend erklärt. Während der Sitzung der Nationalversammlung fand sich vor dem Landhause eine tausendköpfige Menge ein, aus deren Reihen stürmisch die Republik gefordert wurde. "Die, welche hierbei den Ton angaben," schreibt General v. Cramon (S. 195), "waren nicht Sozialdemokraten, sondern von ihren Führern zusammengetrommelte deutschnationale Bürger und Studenten. Und die Pfuirufe, die bald nachher auf dem Ballplatze zu Andrassy herausdrangen, zeigten die Zusammenhänge in ihrer ganzen Tragik." Als der Kriegsminister von einem Ministerrat in sein Bureau zurückfuhr, wurde sein Kraftwagen aufgehalten und ihm die kaiserliche Kokarde abgenommen. In allen Straßen der Stadt begann eine wilde Jagd nach den Rosetten auf den Offiziersmützen und nach kaiserlichen Ehrenzeichen. Studenten holten die schwarzgelbe Fahne vor dem Parlament herab. Am 31. übernahm die erste deutschösterreichische Regierung, ein Konzentrationskabinett aus den drei großen Parteien, die Leitung der Geschäfte.22

Der Kaiser erteilte den in der Heimat befindlichen Offizieren und Mannschaften, ohne sie förmlich des Eides zu entheben, die Erlaubnis, sich ihren Nationalräten für den Ordnungsdienst zur Verfügung zu stellen. Am Allerheiligentage nahmen in allen Wiener Kasernen Volksvertreter den Ersatztruppen das Gelöbnis auf den neuen Staat ab. Allzuviel Mannschaft war freilich nicht mehr da; sie hatte sich längst in die Heimat verlaufen. Auf sozialdemokratisches Drängen wurden Soldatenräte gewählt. Auch eine rote Garde bolschewikischen Geistes entstand und trieb allerhand Unfug.

Mit größter Spannung harrte Andrassy, der sich vor den Anfeindungen der Straße aus seinem Ringstraßenhotel in zwei Hofzimmer des Ballplatzes zurückziehen mußte, der Wirkung seines Friedensangebotes. Als sein Schwiegersohn Karolyi zum ungarischen Ministerpräsidenten ernannt wurde, reichte er zum erstenmal seinen Abschied ein. Denn Michael Karolyi - das war die Revolution in Ungarn, jene Revolution, zu deren Verhütung nicht zuletzt Andrassy das Bündnis mit Deutschland gelöst hatte. Der Kaiser hieß den Grafen, im Amte zu bleiben. Aber in den nächsten 48 Stunden brachen auch alle anderen Zukunftshoffnungen Andrassys zusammen. Die Entwicklung war in der Monarchie überall über die Grenzen hinausgeeilt, innerhalb [633] deren es noch ein Zurück hätte geben können. Und auch aus der Schweiz blieb die Rettungsbotschaft aus, obwohl ein Dutzend von Diplomaten fieberhaft arbeitete. In Genf hatten Kramarsch und Genossen von ihrem Außenminister Dr. Karl Benesch Bescheid darüber erhalten, wie, dem Wunsche Wilsons gemäß, die künftige Gestaltung Mitteleuropas aussehen werde. Masaryk hatte über die Austrophilen in Paris und London den Sieg errungen, da Wilson sich zu seinem Programm bekannte, jener Wilson, der in den Reihen der Entente allein über die starken Bataillone verfügte, die den Alliierten den Sieg über Deutschlands Heer zu verbürgen vermochten. Er und niemand anderer war in diesem Augenblicke der Arbiter mundi!

Am 2. abends schied Graf Julius Andrassy aus seinem Amte. An seinen Schreibtisch setzte sich, schon als deutschösterreichischer Staatssekretär des Äußern, Viktor Adler. Andrassy schreibt in seinem Buche23 bezeichnenderweise: "Ich nahm Abschied von Sr. Majestät. Mein Unternehmen war gescheitert, weil verspätet. Ich hatte der Sache nichts mehr nützen können und hatte nur mir selber geschadet, aber es freut mich dennoch, daß ich's versuchen konnte. Ich hätte mich ewig schämen müssen, wenn ich der Berufung nicht gefolgt wäre und nicht versucht hätte, die Katastrophe abzuwenden, die ich klar herankommen sah..."


18 [1/627]Auch dieses Zeitungsblatt wurde der österreichischen Gesandtschaft von den Franzosen bedeutungsvoll in die Hände gespielt. ...zurück...

19 [2/627]Im Wortlaut bei Nowak, a. a. O., S. 365. ...zurück...

20 [1/629]Siehe darüber in Lammasch und Sperl Heinrich Lammasch, Wien 1921, den Aufsatz von Dr. Josef Redlich, der aber die einzelnen Phasen der Kabinettsbildung nicht ganz scharf auseinanderhält. ...zurück...

21 [1/631]Die Besorgnis der leitenden Kreise, daß schon bei dieser Sitzung der Nationalversammlung die Republik ausgerufen werden könnte, führte zu dem vielbesprochenen Befehl der Heeresleitung, der angeblich verfügte, daß die Truppen in der Front eine Abstimmung über die Staatsform zu veranlassen hatten. Die am 29. Oktober auf Anregung der Militärkanzlei, ohne Wissen des Generalstabschefs ausgegebene Depesche lautete: "Bestrebungen der Nationalräte gehen dahin, die republikanische Staatsform in den zu schaffenden Gebilden zu propagieren. Hierüber wird aber die Armee im Felde nicht befragt, die die Männer vom 18. bis zum 50. Lebensjahre umfaßt und eigentlich die Völker repräsentiert. Telegraphische Kundgebungen von Truppen und Formationen aller Nationalitäten erwünscht, die ohne Zwang durch Offiziere sich für die Dynastie und Monarchie aussprechen, sie sofort an das Armee-Oberkommando weiterleiten, das für Weiterbeförderung sorgen wird. Sehr dringend sind solche deutscher Nation, da am 30. mittags entscheidende Sitzung des Nationalrates stattfindet." Dieser Befehl, der Kundgebungen für die Monarchie hervorrufen wollte, wurde allgemein als Anordnung einer förmlichen Abstimmung aufgefaßt. Viele Kommanden gaben ihn nicht weiter. Nach einer dem Verfasser gütigst zur Verfügung gestellten persönlichen Aufzeichnung des in Bosnien kommandierenden Generals Sarkotić war dort das Gesamtergebnis: 57 v. H. für die Monarchie, 43 für die Republik. Die für die Monarchie ungünstigsten Ziffern erzielte von den in Bosnien stehenden Ersatztruppen das Ersatzbataillon des III. Kaiserschützenregiments: Offiziere 92 v. H., Mannschaften 90 v. H. für die Republik. Vielfach herrschte freilich die primitive Vorstellung vor, daß nur, wer für die Republik stimme, gleichzeitig für den sofortigen Frieden sein Votum abgebe. ...zurück...

22 [1/632]Die nationale Presse Wiens griff den Kaiser wegen der Andrassynote besonders heftig an. Er tat hierzu beiläufig den Ausspruch: "Daß mir das von den Deutschen widerfährt, tut mir am meisten weh. Gerade ihnen zuliebe habe ich die Hände, die mir die Feinde entgegenstreckten, so lange zurückgewiesen, bis es zu spät war." ...zurück...

23 [1/633]Andrassy, Diplomatie und Weltkrieg, 1920, S. 318. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte