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Bd. 3: Der deutsche Landkrieg, Dritter Teil:
Vom Winter 1916/17 bis zum Kriegsende

Kapitel 10: Das Ende des Krieges an der Westfront   (Forts.)
General der Infanterie Hans v. Zwehl

2. Der Zusammenbruch des deutschen Heeres.

Am 7. November wurde die Monarchie in München, am 9. in Berlin gestürzt, gleichzeitig dankten alle deutschen Fürsten teils freiwillig, teils gezwungen ab. - Der sich damit entwickelnde Zusammenbruch und die zur völligen Wehrlosigkeit führende, von den Volksbeauftragen angeordnete Auflösung des deutschen Heeres vollzog sich in einer so schnellen Art, daß sie die ganze Welt nicht minder überraschte, wie die überwiegende Zahl aller Führer an der Front. Aus England ist das Wort nach Deutschland herübergekommen, das deutsche Heer sei einem Dolchstoß in den Rücken erlegen,5 ein Bild, das von allen denen, die an dem Umsturz mitgewirkt hatten und dessen Nutznießer geworden sind, sei es, daß sie ihn planvoll angestrebt, sei es, daß sie ihn vorbereitet oder die Vorbereitungen aus Torheit geduldet haben, als eine grobe Unwahrheit, erfunden zur Vergiftung des inneren Friedens, bezeichnet und schroff abgelehnt worden ist. Und doch war es, wenn auch nur ein bildlicher Ausdruck, zutreffend.

Schon in der Vorkriegszeit hatten Sozialdemokratie und Linksliberalismus sich bei allen militärischen Aufwendungen in einer scharfen Opposition befunden und dadurch nicht allein den notwendigen Ausbau der Wehrmacht erschwert, sondern oft an der Herabwürdigung militärischer Einrichtungen, namentlich durch eine planmäßige Hetze gegen das Offizierskorps, gearbeitet. Auch geringe Vorstöße im Heere wurden verallgemeinert und zu heftigen Angriffen ausgenutzt. Dies Verhalten stand im schroffsten Gegensatz zur Haltung der französischen Volksvertretung, bei denen alle militärischen Forderungen immer auf fast einmütige Annahme rechnen konnten. - Bei Kriegsausbruch und während der ersten Kriegsjahre stellte sich indessen fast die ganze Presse, auch diejenige der Sozialdemokratie, auf nationalen Boden. Der Reichstag bewilligte die nötigen Kredite mit einer bis dahin kaum gekannten Einmütigkeit. - Aber schon Anfang Dezember 1914 lehnte der linke Flügel der Sozialdemokratie im Reichstage die Kriegskredite ab, was später zur Absprengung der radikalsten Elemente unter den Abgeordneten Haase, Barth, Liebknecht, Dittmann und Genossen führte.

Je länger der Krieg dauerte, um so leichter konnte der Radikalismus unter der Wirkung wirtschaftlicher Nöte, besonders des Lebensmittelmangels, sich geltend machen und damit auch dem Auslande zeigen, daß die deutsche Einheits- [610] front durchbrochen war, wo deshalb der Hebel der Zermürbung deutscher Kraft angesetzt werden mußte.

Nachträglich ist bei der hoffnungslosen Lage Deutschlands und der großen wirtschaftlichen Not in der Tagespresse wie in Flugschriften versucht worden, diese sozialistischen Bestrebungen teils als bedeutungslos, teils als unwahre Renommisterei Einzelner hinzustellen. Selbst ein Historiker vom Fach, der Universitätsprofessor Hans Delbrück, hat sich zu dieser Ansicht bekannt, ohne aber in eine Prüfung der das Gegenteil beweisenden massenhaften Kundgebungen einzutreten.6

Fördernd wirkte auf die unter der Arbeiterschaft entfachte Gärung auch der in Rußland unter Mitwirkung der Ententemächte ins Werk gesetzte Sturz der zaristischen Regierung, dessen katastrophale Folgen die unwissenden Massen nicht erkannten, indem man ihnen vorredete, es bestünde eine große Interessengemeinschaft des internationalen Proletariats. Es wurde die Vorstellung entwickelt, wenn nur Deutschland die Waffen niederlegte, wie es Rußland gegen den äußeren Feind getan hatte, müßten alle anderen Nationen diesen Beispielen folgen. Die Tatsachen sollten aber bald beweisen, daß die Proletarier der Ententeländer sich in ihren Massen auf einen streng nationalen Standpunkt stellten und keinerlei Anstalten machten, ihren politischen Gesinnungsgenossen in den Mittelmächten zu helfen.

Die Einleitung zu dem, was kommen sollte, bildeten Anfang 1918 größere Streiks mit dem wesentlichen Ziel, die Rüstungsindustrie lahmzulegen. Der Mittelpunkt der Bewegung lag in Berlin, griff aber in stärkerem Umfange über nach Kiel, Hamburg, Bremen, Nürnberg, Fürth, Magdeburg, Halle, in schwächerem nach dem rheinisch-westfälischen Industriegebiet sowie nach Danzig und Sachsen. Übrigens war der Osten und Schlesien nicht betroffen. In Berlin versuchte ein Arbeiterrat Einfluß zu gewinnen; er wurde aufgelöst. Entscheidende Folgen für die Rüstungsindustrie hatte der Streik nicht. Bis in den Herbst 1918 hinein hatte sich eine starke Verkennung dessen, was auf dem Spiel stand, breitgemacht. Noch Ende Oktober blieben Forderungen des Oberkommandos in den Marken, die sich auf durchgreifende Schutzmaßnahmen bezogen, unerfüllt. Die Verantwortung für Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung sollten zwar die militärischen Befehlshaber behalten, die Mittel zur Durchführung dieser Aufgabe [611] wurden aber stark beschnitten; denn der Reichskanzler Prinz Max von Baden hatte am 5. Oktober festgesetzt, "daß ein enges Verhältnis zwischen den Militär- und Zivilbehörden hergestellt würde, nach dem in allen nicht rein militärischen Angelegenheiten, also besonders auf dem Gebiet der Zensur und des Versammlungswesens, die Gesichtspunkte der zivilen Verwaltungsbehörden maßgebend zur Geltung kämen und daß die Entscheidung letzten Endes unter die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers gestellt wird".

Gefährlich wirkte die russische Propaganda zur Herbeiführung der Revolution; ebenso hat sich auch das übrige feindliche Ausland im gleichen Sinne lebhaft betätigt. Was England auf diesem Gebiete geleistet hat, geht aus dem Buche Crewe House, von dem Gehilfen des Viscount Northcliffe veröffentlicht, hervor.7 Es liegen auch zahlreiche andere Beweise dafür vor. Aufhetzende Flugblätter sind sowohl über Holland wie durch die Schweiz massenhaft eingeschmuggelt worden. An der Front wurden sie durch Flieger abgeworfen oder von den aus der Heimat eintreffenden Mannschaften massenhaft verbreitet. Die vom Ausland kommenden Flugblätter enthielten vielfach verlockende Schilderungen über die den Überläufern in Aussicht stehende glänzende Verpflegung und gute Aufnahme. Die Betrogenen haben ihre Gutgläubigkeit schwer büßen und damit gerechte Strafe für Verrat und Feigheit erdulden müssen, ganz besonders, wenn sie den Franzosen in die Hände fielen.

In der Marine hatten sich schon im November 1917 die Ansätze zu Meutereien größeren Stils unter moralischer Beihilfe sozialistischer Führer gezeigt. An der gebotenen Strenge bei der Bestrafung und an scharfen Gegenmaßregeln, vor allem gegen alle Mitschuldigen in der Heimat, fehlte es aber. Im Oktober 1918 kam es zu einer die Verwendungsfähigkeit der Flotte ausschaltenden Auflehnung, die den Stein der Revolution für ganz Deutschland vollends ins Rollen brachte. Das jahrelange Nichtstun in den Häfen, das enge Zusammenleben der Mannschaften auf den Schiffen mit der Schwierigkeit ihrer Beaufsichtigung, die Verwendung der besten Mannschaften auf den U-Booten, die Art des Mannschaftsersatzes hatten die Entwicklung der Zersetzung begünstigt, und Gegenmaßregeln hatten stets der nötigen Schärfe entbehrt.8

Beim Landheere machten sich die ersten, aber nur unbedeutenden Anzeichen beginnender Zersetzung im Sommer 1916, die bedrohlichen Erscheinungen erst gegen Ende August 1918 unter der Wirkung der schweren Kämpfe bei Arras - Montdidier sowie während der weiteren Rückzugsgefechte bemerkbar. Als besonders in ihrem Kampfwillen zerbrochen erwiesen sich viele Mannschaften aus den Lazaretten und Genesungsheimen sowie solche, die lange Zeit an der Ostfront der [612] harten Arbeit, wie sie an der Westfront die Regel bildete, entwöhnt waren. Auch die Rekrutendepots in Belgien waren zum Teil Brutstätten der Miesmacherei und Verhetzung geworden. Der heimatliche Ersatz wurde schließlich so schlecht, daß zahlreiche Truppen auf ihn verzichteten, um eine Verseuchung ihrer bewährten Soldaten zu verhindern.

Die sozialistischen, auf die Revolution hinarbeitenden Drahtzieher hatten ganz zutreffend erkannt, daß zur Vernichtung der Widerstandskraft des Heeres es vor allem darauf ankam, einen scharfen Gegensatz zwischen Mann und Offizier hervorzubringen. Dazu genügte es, in gleichem Sinne wie in der Vorkriegszeit weiter zu arbeiten. Im Kriege konnte man bequem bei der Magenfrage anknüpfen. Auch wenn es nicht zutraf, ließ sich leicht behaupten: die Offiziere schlemmen, fressen dem gemeinen Mann alles weg und dieser muß hungern. Einzelne Verstöße wurden verallgemeinert, es blieb unbeachtet, daß in allen Heeren der Offizier, wenn er etwas kaufen will, besser leben kann, wie der gemeine Mann. Ungleichheiten werden bestehen, solange man in der Welt der Unvollkommenheit leben muß: Wer den Salonwagen, in dem Kurt Eisner von München nach Berlin fuhr, sehen wollte, konnte sich gleich nach Beginn des Umsturzes leicht das Vergnügen auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin machen. - Hinzu kamen Schwierigkeiten mit den jugendlichen, unerfahrenen Leutnants, die befördert waren, nachdem die Berufsoffiziere in riesigen Zahlen und sehr viele aus den Reihen der erfahrenen Offiziere des Beurlaubtenstandes der grüne Rasen deckte. Das alles bot der Hetze breite Angriffsflächen. Ganz plötzlich sollte das Offizierkorps, das vier Jahre die Truppe zum Siege geführt, erbärmlich schlecht, verrottet sein! Die Verhetzung schuf weiter einen Gegensatz zwischen den einzelnen deutschen Stämmen, zwischen Nord und Süd; in Süddeutschland wurde der Glaube genährt, als ob der Krieg nur im Interesse des junkerlichen Preußentums verlängert würde. Der vielfach erhobene Vorwurf, vor allem habe die Etappe versagt, sie trage die Hauptschuld an der schlimmen Lage der Front im letzten Stadium der Kämpfe, trifft nur teilweise zu und ist stark übertrieben. Man darf nicht vergessen, daß sich in der Etappe fast ausschließlich sehr alte, nicht kriegsverwendungsfähige, sondern nur garnisonverwendungsfähige Etappen- (gv.) Leute befanden, die sich nach der Heimat zu Frau und Kind zurücksehnten und deshalb der verhetzenden Arbeit zugänglich waren. Die dortigen militärischen Führer aber waren fast sämtlich alte Offiziere der Inaktivität oder verabschiedete Offiziere des Beurlaubtenstandes. Vor allem aber hatten sich hinter der Front Tausende von Drückebergern angefunden, deren Untaten dann auf Rechnung der Etappe gesetzt wurden. Genauere Zahlen lassen sich natürlich über die sich ihrer Pflicht Entziehenden nicht geben; sicher waren es Hunderttausende, genügend um eine große Zahl von Divisionen damit aufzufüllen.9

[613] Trotz allem war die Widerstandskraft des deutschen Heeres am 8. November 1918 noch nicht zerbrochen, wenn sie auch bei den verschiedenen Divisionen je nach Ersatz, nach der Persönlichkeit der Führer, sowie den erlittenen Anstrengungen und Verlusten verschieden sein mochte. Die ominösen, die Indisziplin kennzeichnenden Rufe, selbst aus Reih und Glied: "Licht aus" - "Messer raus" - "Haut ihn" - "Der Krieg wird so nicht alle, da müssen wir eben ihn alle machen" - "Streikbrecher", mit denen tapfer vorgehende Truppen von Feiglingen verhöhnt wurden, blieben doch eine seltene Ausnahme. Allerdings hat das Versagen einzelner Truppenteile auf größere Frontabschnitte verhängnisvoll gewirkt. Aber nicht nur Einzelbeobachtungen beweisen die noch vorhandene Kampfkraft; viele Stimmen der Gegner erhärten, daß selbst Anfang November 1918 das deutsche Heer noch als ein Achtung erfordernder Gegner angesehen wurde.

Das Große Hauptquartier hat der Wühlarbeit radikaler Elemente keineswegs müßig zugesehen. Schon im Dezember 1916 wies der Erste Generalquartiermeister in einem Schreiben an den Reichskanzler daraufhin, daß eine einheitliche Leitung der Presse erforderlich wäre, um das unabhängige Arbeiten der einzelnen Behörden voneinander auszuschalten.10 Davon würde auch die Leitung der Politik gegenüber den Verbündeten an Kraft gewinnen. Im März 1918 wurde dieses Verlangen nach mehreren vorangegangenen Aufforderungen erneut mit größter Schärfe betont. In England gab es damals schon drei Propagandaminister - Northcliffe für das feindliche Ausland, Robert Donald für das neutrale Ausland und Rudyard Kipling für das Inland -, während in Berlin 22 Pressestellen, aber ohne einheitliche Leitung zusammenhanglos nebeneinander, ja manchmal, ohne es zu wissen und zu wollen, gegeneinander arbeiteten. Der Versuch, sie durch einen Pressechef beim Reichskanzler zu beseitigen, war mißlungen. Der General Ludendorff verlangte als Leiter eine Persönlichkeit von autoritativer Stellung zur Aufrechterhaltung der Stimmung in der Heimat, zur Schwächung der feindlichen Heimatfront zu erhalten, und bemerkte, daß innerhalb acht Tagen in England fünf derartige Propaganda-Reden gehalten wären, deren Wirkung in erster Linie auf die Zermürbung der Stimmung hinter der Front der Mittelmächte berechnet worden sei. - Erst Ende August 1918 hat der Reichskanzler einige Ansätze dazu gemacht, diesen Anregungen, die allgemein kaum Sache der Obersten Heeresleitung, sondern der heimatlichen Behörden waren, Folge zu geben. Es war zu spät, um noch zu wirken.

Soweit die militärischen Dienststellen zur Erhaltung einer kampffreudigen, hoffnungsvollen Stimmung wirken konnten, regelten dies im Sommer 1917 die vom Chef des Generalstabes des Feldheeres erlassenen Leitsätze für den vaterländischen Unterricht. Es sollte vor allem dort das bekämpft werden, was auf [614] die Stimmung der Truppe von nachteiligem Einfluß sein könnte. Es galt sehr bald, namentlich die vom Feinde verbreiteten und aus der Heimat eingeschmuggelten Flugblätter zu widerlegen und abzuschwächen, keineswegs aber erklärliche Stimmungen einzudämmen. Klar ist, daß diese schwierigen, oft in abstrakten Erörterungen sich verlierende Belehrungen in ihrer Wirkung ganz von der geistigen Begabung des Vortragenden abhingen und versagen mußten, je mehr die Hetzarbeit aus der Heimat sich durchfraß. Auch erforderte es großen Takt, dabei an den verschiedenen politischen Ansichten vorbeizuschiffen. Gelegentlich mag dabei arg daneben gegriffen, mehr geschadet als genützt sein, ganz besonders in den Ersatzformationen, denen es vielfach an geeignetem Lehrpersonal fehlte.

Allgemein erschient es nicht zweifelhaft, daß im Heere, namentlich an der mit ganz anderen, unmittelbar brennenden Fragen beschäftigten Front, die Gefahr einer inneren Zersetzung der Truppe ungenügend beachtet ist. Wer sie erkannt hat und mit seinen Warnungen hervorgetreten wäre, würde als Gespensterseher abgewiesen sein. Hier und da mögen bedenkliche Erscheinungen offensichtlich geworden sein; so wird wohl von einzelnen Disziplinwidrigkeiten berichtet, auch hat Ende September 1918 sich in Lothringen eine Landwehr-Division geweigert, in Stellung zu gehen; im ganzen hielten aber die höheren Dienststellen die Armee noch im Herbst für zuverlässiger, als sie tatsächlich in vielen Teilen war. Das ist nur damit zu erklären, daß die große Masse der Offiziere den rücksichtslosen Willen des Sozialismus nicht kannte, ihn unterschätzte und den gesunden Sinn des Deutschen, er würde, während der Feind an der Tür seines Hauses klopfte, den Geist der inneren Zwietracht nicht aufkommen lassen, überschätzte. Das direkte Gegenteil war der Fall; die sozialistischen Führer hatten mit Vorbedacht gerade den Augenblick, wo die Kriegslage schwierig wurde, zur Erreichung ihrer Ziele für das Losschlagen ausgewählt. Einer der radikalen Führer, Emil Barth, spricht das mit zynischer Offenheit aus.


Zwischen dem preußischen Kriegsministerium und der Obersten Heeresleitung hatte im Laufe des Jahres 1918 mehrfach ein Meinungsaustausch darüber stattgefunden, daß zur Niederhaltung etwaiger bedrohlicher Unruhen im Innern die verfügbaren Kräfte nach Zahl und Eignung unzureichend sein könnten. Die Oberste Heeresleitung hatte in Aussicht gestellt, daß nötigenfalls die erforderlichen Kräfte bereit sein würden - eine Zusage, die später allerdings nicht innegehalten ist, zum Teil weil an der Front nur unter Zurückstellung anderer brennender Aufgaben Truppen hätten freigemacht werden können. Dagegen waren bei Berlin die Jäger-Bataillone Nr. 4, Nr. 14 und Reserve-Jäger-Bataillon Nr. 3 außer den in der Stadt vorhandenen Ersatztruppen der Garde-Regimenter verfügbar. Am 4. November war in Berlin bekannt, daß Kiel endgültig in den Händen der meuternden Matrosen wäre, die Marinestation der Ostsee das zu- [615] gesagte Eingreifen von Truppen des Landheeres aber nicht mehr für erforderlich hielte, da mit den Meuterern verhandelt würde. In Berlin hatte sich am Abend des 3. November die Nachricht verbreitet, daß am nächsten Tage ein großer Streik einsetzen würde. Es blieb aber alles ruhig. Bei Beratungen über die zu ergreifenden Maßnahmen mit dem Oberkommando in den Marken erklärten die Führer der genannten drei Bataillone, daß ihre Truppen völlig zuverlässig wären. - In den folgenden Tagen verbreitete sich der Aufruhr, vielfach unter Führung der über das Reich sich zerstreuenden Matrosen in die Mehrzahl der großen Städte. In München waren schon bei einem großen Demonstrationszuge am 7. November nachmittags, dem Tage des Revolutionsbeginnes in Bayern, Matrosen beteiligt.

Es wurde nicht mit Strenge unter voller Anwendung der Waffengewalt eingeschritten. Die in und bei Berlin stehenden Truppen, auch die drei Jäger-Bataillone, erwiesen sich nicht als zuverlässig, bildeten Soldatenräte; und am 9. November nach Abdankung des Kaisers und Verzichtleistung des Kronprinzen wurde die Republik ausgerufen. Oft hat das Erscheinen eines Agitators in den Kasernen und eine Ansprache an die Mannschaften genügt, um sie zur Abkehr von der gelobten Treue, zur Absetzung der Offiziere und Wahl von Soldatenräten zu veranlassen. Welch tiefgehenden Einfluß dies und die damit entstehende Unordnung auf den Organismus des Heeres ausübte, beweist am besten die Unmöglichkeit, von der Front einige Divisionen in die Heimat zu bringen, um gegen die Meutereien einzuschreiten. Mit Geschick und nicht ohne ein gewisses Verständnis hatten sich die Aufrührer schon frühzeitig der wichtigen Eisenbahnübergänge über den Rhein bei Düsseldorf, Köln, Coblenz, Mainz bemächtigt. Dort wurden nicht allein die Offiziere beschimpft, es kam vor allem das ganze Nachschubwesen in Unordnung, weil die Eisenbahnzüge angehalten wurden. Schon geringfügige Verspätungen wirkten auf große Transportbewegungen, die auf Regelmäßigkeit der Zugfolge beruhen, verheerend. Man kann also ermessen, welche Wirkung Zugverstopfungen auf die Verpflegung und den Munitionsersatz eines Millionenheeres haben mußten. Daß noch erhebliche Vorräte aller Art hinter der Front vorhanden waren, nutzte wenig, wenn die Heranführung bei der Unzuverlässigkeit der Transportbewegungen unmöglich wurde. Es ist zu betonen, daß das Eisenbahnpersonal an vielen Stellen von der vordem überall anerkannten Zuverlässigkeit viel vermissen ließ, wodurch große Bestände an Material und Verpflegung verlorengingen.

Das Schlimmste wurde aber die Bildung der Soldatenräte. - Es scheint sicher, daß die Mehrheitssozialisten nicht gewünscht haben, den Umsturz soweit zu fördern, wie er sich tatsächlich in den Tagen von Anfang November entwickelte, daß sie indessen die Frucht pflückten, wie sie sich ihnen bot. Das Schlimmste aber war, daß die führenden Männer der Sozialdemokratie nicht den Mut aufbringen wollten oder konnten, von vornherein die Soldatenräte zu verbieten. Mit den [616] sich von den Ersatzformationen in die Etappe, von da an die Front allmählich durchsetzenden Soldatenräten war die Widerstandskraft des Heeres zerbrochen. Nach dem schon vom Herbstbeginn 1918 überall hervorgekehrten Grundsatz des "Verhandelns" sollten sich höherer Anweisung gemäß die Truppenbefehlshaber mit den Soldatenräten gütlich einigen und von der Waffe nur zur Abwehr eines tätlichen Angriffs oder zur Verhinderung des Plünderns Gebrauch machen. Das schaltete die Verwendungsmöglichkeit der Truppen annähernd aus. Zwar ist es bei sehr vielen Truppenteilen zunächst gar nicht zur Wahl von Soldatenräten gekommen; gelegentlich haben Leute, die sich als solche aufspielen wollten, Prügel bekommen. Aber schon der dunkle Begriff dieses Produktes der russischen Revolution nahm jeder Truppe die Zuverlässigkeit. Die zerstörende Wirkung der Soldatenräte, die sinnlos-übermütige Art oft ganz junger, grüner Schreihälse stellte die Geduld, die Selbstverleugnung aller Vorgesetzten auf eine harte Probe. Nur mit Zähneknirschen konnten sie beobachten, wie Torheit und Verbrechertum die Ausführung jedes Befehls in Frage, alle Berechnungen und Überlegungen ins Ungewisse stellten und den Bau des deutschen Heeres zerstörten, Deutschland zur Wehrlosigkeit erniedrigten. Ein besonderer Trick wurde noch angewendet, um dem Deutschen die Lust am Kampfe zu nehmen; von wem er stammt, ist nicht sicher, auch in der Marine hat er schädigend gewirkt: Es wurde verbreitet, daß nicht allein in Deutschland die Revolution ausgebrochen wäre, sondern auch bei den Gegnern die roten Fahnen entfaltet würden und der Soldat "nach Hause ging".11 Auf der Feindesseite dachte niemand daran, und wer es versucht hätte, wäre kurzerhand gerichtet worden; nur der "reine deutsche Tor" konnte es glauben.

Wie bei allen großen geschichtlichen Umwälzungen haben auch an dem schnellen und vollkommenen Zusammenbruch Deutschlands viele Einzelfaktoren mitgewirkt. Es wäre Übertreibung, zu behaupten, daß die revolutionären Umtriebe, der bis in die Reihen des Linksliberalismus hineinreichende und von der Sozialdemokratie mit äußerster Energie vertretene Gedanke, das bestehende Regime zu stürzen, Deutschland allein wehrlos gemacht hätte, wenn schon er ganz wesentlich dazu beigetragen hat. Aber diese Bestrebungen waren nur zu verwirklichen, weil die militärische Lage sich schwierig, wenn auch noch nicht hoffnungslos gestaltet hatte, weil im Volke nach harten Entbehrungen das Bedürfnis nach Frieden und Brot sich übermächtig äußerte und es an der tatkräftigen Gegenwehr gegen den Defaitismus schon seit 1917 gefehlt hatte. Die Umstürzler versprachen der urteillosen Masse Frieden, Freiheit, Brot. Viele Deutsche glaubten es und folgten dem Rufe von teils Phantasten, teils selbstsüchtigen Volksverführern, teils ausgesprochenen Landesverrätern.

[617] Der deutschen Regierung, auch der Obersten Heeresleitung ist der Vorwurf gemacht worden, sie hätten dem deutschen Volke zu spät die harten Wirklichkeiten, die sich zuspitzenden Schwierigkeiten der militärischen Lage im ganzen Umfange vor Augen geführt; es wäre zu lange die Möglichkeit des Sieges in den Vordergrund gestellt. Daß darin etwas Wahres liegt, läßt sich kaum in Abrede stellen. Auch von maßgebender Seite ist anerkannt worden, daß die deutschen Heeresberichte nicht immer glücklich abgefaßt waren. Das gilt besonders von den Darstellungen über die Kämpfe aus der ersten Hälfte des Monats August 1918. Wer nicht genauer über die Gesamtlage unterrichtet war, mußte glauben, die Mißerfolge wären nicht so schlimm und die Oberste Heeresleitung hätte noch irgendwo an der Westfront starke Reserven, um mit diesen einen wohl vorbereiteten Gegenzug zu machen. Vielleicht wäre gerade Mitte August der Augenblick gewesen, um an das deutsche Volk einen großen Appell zu äußersten Anstrengungen zu richten. Im Oktober war es zu spät. Natürlich ist dies nachträgliche Weisheit. Nur das Genie eines die Dinge voraussehenden Staatsmannes hätte sie rechtzeitig erkennen können. Der alte Reichskanzler v. Hertling besaß es nicht. Es stand alles auf dem Spiel und bei der Eigenart des deutschen Volkes war es ein gefährliches Beginnen, schon damals die militärischen und wirtschaftlichen Nöte im vollen Umfang zu betonen; denn es war sicher, daß dadurch der oft ins Schwanken geratene Sieges- und Vernichtungswille der Gegner nur noch verstärkt worden wäre, daß der in Deutschland aber schon erkennbare Hang zur Hoffnungslosigkeit neue Nahrung erhalten hätte. Außerdem saßen im Reichstage Polen und andere keineswegs deutschfreundliche Leute, die immer Gelegenheit fanden, für Deutschland ungünstige Stimmungsberichte dem neutralen Ausland und damit den Feinden zu hinterbringen. Somit war es ein Gebot der Klugheit, nicht vorzeitig die ganze Gefahr der Lage der Öffentlichkeit preiszugeben.

Von entscheidendem Einfluß auf den Gang der Ereignisse mußte es sein, daß der Kaiser dem Drängen des Reichskanzlers Prinz Max von Baden nachgab in der Hoffnung, dadurch schwere innere Kämpfe auszuschalten, dem Thron entsagte und sich in das neutrale Ausland begab.12 Da es infolgedessen keinen Allerhöchsten Kriegsherrn, auf den sich das ganze militärische System stützte, mehr gab und der prinzliche Reichskanzler seine Ämter in die Hände der sozialistischen Parteiführer legte, hatte die Revolution gesiegt; denn es fehlte eine Stelle und eine Person, die für den Widerstand das entscheidende Wort sprach.

Daß die materielle Möglichkeit bestand, noch am 9. November die Revolution an ihrem Hauptherde Berlin zu unterdrücken, kann einem Zweifel nicht unterliegen. Bei kraftvollem, wenn auch für die Führer gefahrvollem Durch- [618] greifen hätte sich in den Ersatztruppen der Garde wohl noch Ordnung schaffen lassen, trotz der nicht überall günstigen Zusammensetzung der führenden Persönlichkeiten. Als aber ein den Waffengebrauch einschränkender, ihn fast aufhebender Befehl erging, ermutigte das die Aufrührer und ermöglichte es ihnen, sich der ausübenden Gewalt zu bemächtigen. Auch selbst wenn die Ersatztruppen der Garde und andere, in und um Berlin verfügbare Truppen versagt hätten, konnten in der Hauptstadt mehrere tausend bewaffnete Offiziere und Unteroffiziere unschwer aufgeboten werden, die den Umsturz in andere Bahnen zu lenken in der Lage waren. Es fehlte aber eine Persönlichkeit, die an Stelle des Reichskanzlers Prinz Max von Baden, diesen rechtzeitig unschädlich machend, die Zügel der Regierung straff angezogen hätte. - Es ist nicht zu bestreiten, daß die alte Armee den ihr hier entgegentretenden Aufgaben sich nicht gewachsen zeigte, ja daß sie solche Möglichkeiten, wie sie sich, nachdem der Träger der Krone zurückgetreten und außer Landes gegangen war, in der ganzen brutalen Möglichkeit auftaten, bei allen Erwägungen ganz außer Betracht gehalten hatte. Angesichts der schwierigsten kriegerischen Lagen hatten sich die Führer aller Grade zu verantwortungsvollen Entschlüssen immer bereit gefunden. Hier wurde ein verzweifelter, aber allein zur Rettung führender Entschluß nicht aufgebracht, vor allem weil die Oberste Spitze auszuschalten dem Reichskanzler gelungen war. Die einzelnen Fäden der Vorgänge bloßzulegen, geht über den Rahmen dieser nur die militärischen Hergänge darstellenden Ausführungen, deshalb soll auch unerörtert bleiben, ob es sich bei dem verantwortlichen Reichskanzler etwa um treulose Bosheit oder um staatsmännisches Unvermögen in den entscheidenden Stunden gehandelt hat; auch dieses kann sich aber zu einem schweren Verbrechen auswirken. - Wenn man den Kriegsausgang und seine Folgen betrachtet, scheint dies vorzuliegen.

In Rücksicht auf die schweren politischen und wirtschaftlichen Folgen, die für Deutschland schon der Waffenstillstand mit seinen unerhört harten Bedingungen gehabt hat, ist die Frage von Erheblichkeit, ob es möglich war, bei Vermeidung der inneren Umwälzung den Widerstand gegen die Entente fortzusetzen, oder ob Deutschland am 11. November militärisch so vollständig niedergeworfen war, daß es, wie es geschah, jede feindliche Forderung in den Novembertagen und bei den späteren Verhandlungen wehrlos annehmen mußte. Je nach dem politischen Standpunkt, den man der Revolution gegenüber einnimmt, ist die Frage verschieden beantwortet worden. Alle diejenigen, die eine grundsätzliche und völlige Änderung der deutschen Staatsform seit Jahrzehnten anstrebten und sich unter der Wirkung der schwierigen militärischen Lage Anfang November in den Besitz der Macht setzten, behaupten, es sei auch ohne die Revolution jede Fortsetzung des Kampfes ausgeschlossen gewesen, ja sie hätte die deutsche Katastrophe nur verschärfen müssen. Diese Ansicht ist von sozialdemokratischer Seite ohne genügende Kenntnis der einschlägigen Verhältnisse oder wissentlich unrichtig auch in Flug- [619] schriften vertreten worden.13 Die Tatsache, daß Verhetzung den Kampfwillen an der Front untergraben hatte, wird dabei außer acht gelassen; die Verluste an Geschützen, Material und Gefangenen sind in den Folgen übertrieben. - Demgegenüber ist von anderen Seiten die Lage sachkundig geschildert und nachgewiesen,14 daß Deutschland den Krieg zwar nicht mehr gewinnen, aber doch durch Fortsetzung des Widerstandes dem Gegner bessere Bedingungen hätte abgewinnen können, ganz besonders in Berücksichtigung der auch bei den Ententemächten erkennbaren Erschöpfung und ihrem Verlangen, den Krieg zu beendigen. Erst die völlige Wehrlosigkeit Deutschlands, die militärische Selbstentmannung erlaubte es dem Gegner, nicht allein die brutalen Waffenstillstandsbedingungen zu diktieren, sondern sie im Vertrag von Versailles noch zu verschärfen und im weiteren Verlauf schikanös auszubeuten, um Deutschland wirtschaftlich zugrunde zu richten. In dieser Hinsicht übernahm Frankreich die ausgesprochene Führung. -


5 [1/609]Londoner Korrespondenz der Züricher Zeitung vom 17. Dezember 1918. Nr. 1675. ...zurück...

6 [1/10]v. Wriesberg, Der Weg zur Revolution. v. Zwehl, Der Dolchstoß in den Rücken des siegreichen Heeres. Emil Barth, Aus der Werkstatt der Revolution. Ernst Drahn und Susanne Leonhard, Unterirdische Literatur im revolutionären Deutschland während des Weltkrieges. Fritz Ruck, Vom 4. August bis zur russischen Revolution. Popp und Artelt, Ursprung und Entwicklung der November-Revolution. Ein sehr bezeichnendes Schlaglicht auf die Vorgänge wirft der stenographischen Bericht über den "Allgemeinen Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands vom 16. bis 21. Dezember 1918" mit einem Vorwort von Leinert vom 31. Januar 1919, im besonderen der Vortrag Ledebours Spalte 47 und 93. - Professor Hans Delbrück, Ludendorffs Selbstporträt. ...zurück...

7 [1/611]London 1920. Im Auszuge wiedergegeben in der Zweimonatsschrift Wissen und Wehr 1920 Heft 6 (E. S. Mittler & Sohn, Berlin). Übersetzung durch Korvettenkapitän Köhler (Verlag Th. Weicher, Leipzig). ...zurück...

8 [2/611]v. Waldeyer-Hartz, Kapitän zur See a. D., Die Meuterei der Hochseeflotte. ...zurück...

9 [1/612]Oberst v. Bauer in seinem Buche: Der Große Krieg in Feld und Heimat schätzt sie gegen Kriegsende auf 1½ Millionen, was aber erheblich zu hoch gegriffen sein mag. ...zurück...

10 [1/13]Ludendorff, Urkunden der Obersten Heeresleitung. Vergleiche hierzu auch Band "Organisationen der Kriegführung" erster Teil dieses Werkes. ...zurück...

11 [1/616]General Keim gibt an, daß der sozialdemokratische Führer Lue die erlogene Nachricht, die auf einem Funkspruch des Eifelturms beruhen soll, zuerst verbreitet hat. (Monatshefte für Politik und Wehrmacht, Oktober 1922, S. 448.) ...zurück...

12 [1/617]v. Eisenhardt-Rothe, General der Infanterie a. D., "Der Kaiser am 9. November." Militär-Wochenblatt, Nr. 6 vom 5. August 1922: Ehrengerichtsurteil über den Generalleutnant Scheüch, Kriegsminister a. D., seit 8. November 1918 Oberbefehlshaber der Heimatarmee. ...zurück...

13 [1/619]Dr. Adolf Köster, Konnten wir im Herbst 1918 weiterkämpfen? ...zurück...

14 [2/619]v. Kuhl, General der Infanterie, Die Kriegslage im Herbst 1918. 2. Auflage. - v. Zwehl, General der Infanterie, "Sozialdemokratische Geschichtsklitterungen." Monatshefte für Politik und Wehrmacht. Januar und Februar 1922. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte