SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor


Bd. 1: Der deutsche Landkrieg, Erster Teil:
Vom Kriegsbeginn bis zum Frühjahr 1915

Kapitel 4: Der Feldzug im Westen
bis Mitte September 1914
  (Forts.)

Oberstleutnant Paul Krall

5. Die Entscheidungsschlacht an der Marne vom 6. bis 9. September 1914.   (Forts.)

Die Marneschlacht.   (Forts.)

8. September.

1. Armee.

Entsprechend dem Armeebefehl für den 8. September brachen III. und IX. Armeekorps noch in der Nacht auf und marschierten: III. Armeekorps über Montreuil - Mareuil sowie La Ferté sous Jouarre - Crouy auf den rechten Flügel der Gruppe Sixt von Armin nach Gegend Antilly, IX. Armeekorps über Château-Thierry nach Gegend La Ferté Milon. Der Höhere Kavalleriekommandeur 2 (ohne 4. Kavallerie-Division) sollte die linke Flanke der Armee gegen den unteren Grand Morin und Coulommiers decken. Die ersten zwei Bataillone, die aus dem Etappendienst frei geworden und in Villers Cotterets eintrafen, wurden der Gruppe Sixt von Armin unterstellt.

Am Morgen des 8. September begann der französische Angriff wieder mit voller Kraft; zeitweise schien sogar ein feindlicher Durchbruch in der Mitte nicht ausgeschlossen, so daß in Armeebänderung des Armeebefehls die 5. Infanterie-Division anstatt auf Crouy über Cocherel auf Trocy abgedreht wurde. Dem IX. Armeekorps wurden als Marschziele für die linke Kolonne Mareuil, die rechte Kolonne La Ferté Milon aufgegeben. Da englische Kolonnen inzwischen den Grand Morin [238] in Richtung La Ferté Gaucher - Rebais überschritten hatten, wurde die Heereskavallerie (Höhere Kavalleriekommandeure 1 und 2) nochmals auf die Wichtigkeit des Festhaltens der Petit Morin- und Marne-Linie zwischen Sablonnières - La Ferté sous Jouarre und westlich hingewiesen. Als Armeereserve hatte das IX. Armeekorps von seiner linken Kolonne ein Infanterie-Regiment und eine Feldartillerieabteilung bei Montreuil aux Lions (12 Kilometer nördlich La Ferté sous Jouarre) bereitzustellen. Im übrigen wurde nochmals betont, daß von dem Eingreifen des IX. Armeekorps auf dem Nordflügel am 9. September die Entscheidung der Schlacht abhänge, und daß das Korps sich durch den über Coulommiers vorgehenden Feind unter keinen Umständen von seinem Eingreifen abhalten lassen dürfe.

Die immer bedrohlicher lautenden Meldungen der Heereskavallerie über den Anmarsch der Engländer gegen den Abschnitt La Ferté sous Jouarre - St. Cyr - Orly veranlaßten Generaloberst v. Kluck aber selbst, die Weisung an das IX. Armeekorps insofern abzuändern, als dem Korps die Sperrung des Marne-Abschnitts von La Ferté sous Jouarre bis Nogent l'Artaud aufgegeben wurde; um die Angriffskraft des Armeekorps nicht zu sehr zu schwächen, wurde diese Sicherungstruppe auf das denkbar geringste Maß, eine Infanterie-Brigade und zwei Abteilungen Feldartillerie unter dem General v. Kräwel, beschränkt und dem Armeekorps hierfür die Armeereserve bei Montreuil aux Lions wieder zur Verfügung gestellt.

Die Bewegungen des III. Armeekorps (ohne 5. Infanterie-Division) und IX. Armeekorps vollzogen sich trotz mannigfacher Marschkreuzungen mit Kolonnen und Trains und trotz starker Ermüdung der Truppen ohne Störung. Der Durchbruchsversuch der Franzosen bei Trocy kam nicht zur Auswirkung; ein Einsatz der 5. Infanterie-Division war nicht nötig geworden. Am Abend des 8. September traf die 6. Infanterie-Division stark ermüdet bei Thuisy en Valois und Cuvergnon (nördlich Antilly) ein. Das IX. Armeekorps erreichte um Mitternacht die Linie nordöstlich La Ferté Milon - Ivors, bereit, am 9. September zum umfassenden Angriff vorzugehen. Wieder waren die Marschleistungen der Korps ganz ausgezeichnet. Das III. und IX. Armeekorps hatten am 6. September den ganzen Tag auf das heftigste gekämpft; das IX. Armeekorps - am 7. September bei Tagesanbruch aufgebrochen - hatte bis Mitternacht die Gegend von Chézy (südwestlich Château-Thierry) erreicht, also rund 60 Kilometer zurückgelegt. Am 8. September 2 Uhr vormittags wurde die Truppe alarmiert; wieder folgte ein Marsch, mit kurzer Mittagspause, den ganzen Tag hindurch bis tief in die Nacht hinein; wiederum etwa 60 Kilometer! Am Morgen des 9. September griff das Korps erfolgreich den Feind an! Solche Leistungen waren naturgemäß nur möglich, wenn der Truppe die Anstrengungen durch sachgemäße Anordnungen der Führung, rechtzeitige Raste, Bereithalten von Wasser und Verpflegung, Fahren der Tornister, soweit als möglich erträglich gemacht wurden. [239] Wichtiger aber, als all dieses, war der Geist der Truppe, der Wille, das Ziel zu erreichen. Die feste Zuversicht, die das Armeeoberkommando 1 in die Haltung der Truppe setzte, wurde nicht getäuscht. Ein Offizier des Generalkommandos IX. Armeekorps berichtet: "Der Anblick unserer stolzen Truppen wird mir unvergeßlich bleiben. Es war ergreifend anzusehen, wie diese gelichteten Reihen sich mühsam dahinschleppten und doch besten Willens waren."

Die Aussichten, daß der Angriff der 1. Armee am 9. September erfolgreich sein würde, hatten sich durch die Aufopferung der Truppen zur Zuversicht gesteigert. Auch wenn der Gegner inzwischen seine Reserven bis in die Gegend südlich und westlich Crépy en Valois verschoben hatte, so drohten die inzwischen von Norden her im Anmarsch befindlichen Reserven des Armeeoberkommandos 1 auch diesem Feind mit Umfassung: es erreichten am Abend des 8. September die 43. Reserve-Brigade von Lepel des IV. Reservekorps - von Brüssel über Compiègne heraneilend - Verberie (nordwestlich Crépy en Valois); hinter dieser die 10. Landwehr-Brigade Ribécourt (nördlich Compiègne).

Der Abend des 8. September sah im übrigen die 1. Armee unerschüttert in Linie Cuvergnon (nördlich Betz) - Antilly bis Congis sur Marne, bereit, am 9. September auch aus der Front zum entscheidenden Gegenangriff überzugehen.

Auf französischer Seite hatte General Maunoury am Abend dieses Tages die Überzeugung gewinnen müssen, daß es ihm nicht gelingen würde, die Deutschen über den Ourcq zu werfen; im Gegenteil! Die Gefahr einer Umfassung seines linken Flügels drängte sich ihm so stark auf, daß er die Einrichtung einer rückwärtigen Stellung in Linie Monthyon - St. Souppelets - Le Plessis Belleville anordnete. General Galliéni stellte ihm hierzu die 62. Reserve-Division zur Verfügung. Sowohl Galliéni wie Joffre bemühten sich, dem General Maunoury Mut zuzusprechen; falls er zurückgehen müsse, so solle er so operieren, daß er den Feind mit der Front nach Westen festhalte, um das Vorgehen der Engländer zu erleichtern; Joffre ermahnte, bis zum letzten Mann auszuhalten; durch sein Beharren am Ourcq habe Maunoury es schon ermöglicht, daß sich die Operation der Verbündeten im gewünschten Sinne vollzöge.

Zur Deckung des Raumes zwischen der 1. und 2. Armee und zur Sicherung der inneren Flügel standen am Morgen des 8. September die 9. und 2. Kavallerie-Division hinter der Marne bei La Ferté sous Jouarre und westlich, die Garde- und 5. Kavallerie-Division anschließend in südöstlicher Richtung hinter dem Petit Morin-Abschnitt über Sablonnières und Villeneuve. Beide Abschnitte waren fest in der Hand der Kavalleriekorps. Leider fehlte ein einheitlicher Oberbefehl; die Kräfte des 2. Kavalleriekorps wurden empfindlich geschwächt, als die 9. Kavallerie-Division im Laufe des Tages hinter die Mitte der 1. Armee gezogen wurde, wo man wieder einen feindlichen Durchbruch befürchtete. Dem linken Flügel des 1. Kavalleriekorps fehlte der feste Anschluß an die 2. Armee, deren [240] rechter Flügel hatte geschwächt und hinter den Petit Morin zurückgebogen werden müssen. Damit war auch der linke Flügel des Korps Richthofen der Umfassung ausgesetzt.

Im Laufe des 8. September kam das bisher sehr zaghafte Vorgehen der Engländer in lebhafteren Fluß; sie stießen energischer gegen die von der deutschen Heereskavallerie gezogene Schranke - in der Lücke zwischen 1. und 2. Armee - vor.

Im Laufe des Vormittags wurde der Übergang bei Billot durch französische Kavallerie erzwungen und das Nordufer des Petit Morin vom englischen I. Armeekorps, trotz des heldenhaften Widerstandes der Gardejäger der Garde-Kavallerie-Division, erstiegen; kurz nach Mittag fiel Boitron in die Hand englischer Gardetruppen. Bei Orly ging die englische 3. Infanterie-Division über; auch ein Gegenangriff deutscher Truppen, der am Nachmittag auf Boitron angesetzt wurde, konnte die Lage nicht mehr ändern. Der Petit-Morin-Abschnitt war in der Hand des Feindes. Die 5. Kavallerie-Division wich nach Norden hinter die Marne, die Garde-Kavallerie-Division nach Osten auf Condé en Brie aus.

Vor der Front des Höheren Kavalleriekommandeurs 2 stellten Flieger am Morgen des 8. September den Vormarsch dreier langer feindlicher Kolonnen fest, von denen zwei dem unteren Petit Morin zustrebten, die dritte weiter westlich gegen die untere Marne, unterhalb La Ferté sous Jouarre, vorzugehen schien. Da gegen diese starke Überlegenheit ein nachhaltiger Widerstand durch Kavallerie allein nicht möglich schien, befahl das Armeeoberkommando 1 dem IX. Armeekorps, den Marne-Abschnitt von La Ferté sous Jouarre bis Nogent zu sperren; mit dieser Aufgabe wurde die zusammengesetzte Brigade v. Kräwel betraut, die sich hierzu am Abend des 8. September bei Montreuil aux Lions sammelte. Die Brigade bestand aus dem Grenadier-Regiment 89 mit der II. Abteilung Feldartillerie-Regiments 60 der 17. Infanterie-Division und dem Infanterie-Regiment 84 mit der II. Abteilung Feldartillerie-Regiments 45 der 18. Infanterie-Division.

General v. Kräwel verzichtete am Abend des 8. September darauf, mit der stark ermüdeten Truppe noch an die Marne heranzurücken und sich in dem sehr unübersichtlichen Gelände an den einzelnen Brückenübergängen zu zersplittern. Er beschloß, seine Truppe bei Montreuil zusammenzuhalten; die Brigade stand hier an einem wichtigen Wege- und Geländepunkt, nicht weit von der Marne entfernt, bereit, je nach der sich entwickelnden Lage ein Vorgehen der Engländer offensiv oder defensiv aufzuhalten. Vom Höheren Kavalleriekommandeur 2 wurde am Abend des 8. September bekannt, daß er mit einer Kavallerie-Division bei Montsoutin läge und mit seinen Jäger-Bataillonen die Marne-Übergänge von St. Jean bis Chamigny einschließlich, also zum Teil im Abschnitt der Brigade, besetzt halte.


[241] 2. Armee.

Für die 2. Armee konnte am 8. September eine Fortsetzung des Angriffs nur aus der Mitte und mit dem linken Flügel in Frage kommen, da der nur durch Kavallerie gedeckte rechte Armeeflügel mit weiterer Bedrohung rechnen mußte. Auch das X. Armeekorps fiel für die Weiterführung des Angriffs an diesem Tage aus, da das Armeeoberkommando die Divisionen dieses Korps in der Nacht vom 7. zum 8. September aus Besorgnis um seine rechte Flanke hinter den Gond-Sumpf, ganz gegen den Willen der Truppenführer, zurückgenommen hatte. Dem Ansuchen des Armeeoberkommandos 3, es möge sich der linke Flügel der 2. Armee dem für den frühen Morgen des 8. September geplanten Angriff der 32. Infanterie- und 23. Reserve-Division anschließen, wurde bereitwilligst Folge gegeben. Der Gedanke des Generals der Artillerie v. Kirchbach, den Vorstoß zwecks Ausschaltung der feindlichen Artilleriewirkung, die sich tags zuvor außerordentlich stark fühlbar gemacht hatte, in die Morgendämmerung zu legen, war glücklich. Der Angriff hatte vollen Erfolg. Alle Müdigkeit überwindend, überrannten die drei Divisionen (2. Garde-, 32. Infanterie- und 23. Reserve-Division), denen sich auch die 1. Garde-Division anschloß, den Gegner, warfen ihn auf Fère Champenoise - Montepreux zurück und nahmen ihm Gefangene und Geschütze in großer Zahl ab. Auch die 14. Infanterie-Division erkämpfte sich den Übergang über den großen Sumpf bei Joches und vermochte sich trotz französischer Gegenangriffe auf dessen Südufer festzusetzen. Damit war der rechte Flügel der französischen 9. Armee geschlagen; General Foch mußte sein Hauptquartier eiligst nach Süden verlegen, General Joffre soll den allgemeinen Rückzug hinter die Seine erwogen haben - so scharf drückte sich der Erfolg des deutschen Angriffs aus.

Auf dem rechten Flügel der 2. Armee hatte sich dagegen die Lage zugespitzt. Das 1. Kavalleriekorps hatte den Petit-Morin-Abschnitt aufgegeben. Die am rechten Armeeflügel stehende 13. Infanterie-Division, - der noch immer die vor Maubeuge eingesetzte verstärkte 26. Infanterie-Brigade fehlte -, war den ganzen Tag über in ihrer ausgedehnten Stellung angegriffen worden; bei Anbruch der Dunkelheit erfolgte ein feindlicher Einbruch, der zwar nur örtlichen Charakter trug, den Divisionskommandeur aber doch veranlaßte, in der Nacht, wenn auch in voller Ordnung, hinter die Verdonelle zurückzugehen. Generaloberst v. Bülow hielt darauf auch ein Zurückschwenken des bisher vom Feinde noch nicht angegriffenen X. Reservekorps für unerläßlich; er befahl, den rechten Armeeflügel in der Nacht vom 8. zum 9. September in die Linie Margny - Le Thoult zurückzunehmen.

Während also auf dem rechten Armeeflügel ein Rückschlag zu verzeichnen war, mußte die Lage auf dem linken Armeeflügel als durchaus günstig angesehen werden. Es kam jetzt nur darauf an, die Nerven zu bewahren und den errungenen Erfolg auszubauen, im übrigen aber die Krise durchzuhalten. Leider [242] war für ein derartiges Durchhalten die pessimistische Auffassung wenig günstig, die der Oberbefehlshaber der 2. Armee sich von der Gefechtskraft seiner Truppe und von der Gesamtlage gebildet hatte. Immer noch stand die 1. Armee westlich des Ourcq; an einen Rückzug und eine Annäherung an die 2. Armee dachte sie nicht. Dafür waren vier starke Kolonnen des Feindes im Laufe des 8. September zwischen Grand und Petit Morin über Linie La Haute Maison - Doue - Rebais - La Ferté Gaucher im Vormarsch nach Norden und Nordosten gemeldet worden! Das Armeeoberkommando 2 befürchtete, daß, wenn nicht die 1. Armee sich im letzten Augenblick entschloß, nach Osten den Anschluß an die 2. Armee zu suchen, der Durchbruch der englischen Armee zwischen 1. und 2. Armee nicht mehr aufzuhalten sein werde.


3. Armee.

Der vom Armeeoberkommando 3 befohlene Angriff begann am frühen Morgen und führte bei der westlichen Gruppe (2. Garde-Infanterie-Division, 32. Infanterie- und 23. Reserve-Division) wie schon geschildert, zu vollem Erfolg. Normée, Lenharré und Sommesous wurden genommen, der Angriff im Laufe des Tages nach Süden und Südwesten fortgesetzt. Über 40 Geschütze fielen in die Hand der Deutschen. Daß die Armee Foch auf ihrem rechten Flügel eine Niederlage erlitt, wird auch von französischer Seite zugegeben. Zwar erklärte Foch die Lage für "ausgezeichnet"; er greife an. In Wirklichkeit flutete sein rechter Flügel hinter die Maurienne zurück. Das Armee-Hauptquartier mußte eiligst von Pleurs nach Plancy zurückverlegt werden. Das französische IX. Armeekorps südlich des Sumpfes von St. Gond wurde im Rücken bedroht. Ein französischer Geschichtsschreiber gibt zu, daß sich selten eine Armee in so kritischer Lage befunden habe. Am Abend des 8. September ging der deutsche Angriffsflügel in Linie Fère Champenoise - Connantre - Vaurefroy und Montepreux zur Ruhe über. Da inzwischen das Armeeoberkommando 2 dringend den Rücktritt der 2. Garde-Infanterie-Division in seinen Armeeverband forderte, also mit einem baldigen Abmarsch dieser Division in westlicher Richtung gerechnet werden mußte, zog das Armeeoberkommando 3 die 24. Reserve-Division, deren Anfang bereits Vatry erreicht hatte, in Richtung Normée hinter den rechten Armeeflügel. Hierdurch wurde zwar die spätere Vereinigung des XII. Reservekorps und seine Verwendung auf dem rechten Armeeflügel in günstigem Sinne vorbereitet, der wirkungsvollere Gedanke, mit der letzten noch verfügbaren Reserve nach Süden über Mailly den Durchbruch auszugestalten, ging aber damit verloren.

Weniger groß waren die Erfolge bei der östlichen Armeegruppe. Zwar gelang es der 23. Infanterie-Division, besonders auf ihrem rechten Flügel, erheblich Boden zu gewinnen, zu einer Auswirkung dieses Erfolges kam es jedoch nicht, da Gegenangriffe des Feindes und sehr starkes Artilleriefeuer sowohl die 23. Infanterie-Division, als auch das XIX. und VIII. Armeekorps an weiterem Vorwärtskommen verhinderten. Das Armeeoberkommando 3 konnte am Abend [243] des 8. September mit dem Verlauf des Tages zufrieden sein. Wenn auch auf dem Ostflügel nennenswerte Erfolge bei der offensichtlichen Überlegenheit der feindlichen Kräfte südlich Vitry le François nicht erzielt waren, so war anderseits dem Feinde jedes Vordringen in dieser Gegend verwehrt worden. In der Mitte der Armeefront war die französische Kavallerie-Division bis Mailly le Camp, auf dem Westflügel der Feind am Abend bis hinter den Maurienne-Bach in Linie Corroy - Gourgançon - Semoine zurückgegangen. Die Fortsetzung des Angriffs auf diesem Teil der Armeefront am folgenden Tage lag nahe und wurde beschlossen, trotzdem die Gefechtsstärken auch im Bereich der 3. Armee auf weniger als die Hälfte des Sollbestandes zurückgegangen waren.


4. und 5. Armee.

Der 8. September brachte bei den einander gegenüberliegenden 4. Armeen trotz sehr schwerer Kämpfe keine sonderlichen Veränderungen. Die Franzosen hielten ihre im allgemeinen längs der Bahn Courdemanges - Contrisson laufenden Stellungen; an diesem Tage traf auf dem französischen rechten Flügel in Gegend Contrisson das von der französischen 2. Armee aus Lothringen abgegebene XV. Armeekorps ein.

Auch bei der 5. Armee änderte sich die Lage an diesem Tage nicht wesentlich. Obgleich es der französischen 3. Armee gelang, ein weiteres Vordringen der deutschen 5. Armee zu bannen, so blickte General Sarrail doch mit Sorgen nach rückwärts, wo deutsche Haubitzen und österreichische Mörser gegen Fort Troyon in Wirkung getreten waren. Vorsorglich ließ er die Maas-Brücken sprengen und setzte zwei Kavallerie-Divisionen sowie Teile der Touler Festungsbesatzung zum Entlastungsangriff auf dem östlichen Maas-Ufer nach Norden an.


9. September.

1. Armee.

Am 9. September sollte nach dem Armeebefehl General v. Quast mit dem IX. Armeekorps, der 6. Infanterie- und 4. Kavallerie-Division den umfassenden Angriff aus Gegend nördlich Cuvergnon zu Ende führen. Die von Nordosten heranstrebende 43. Reserve-Infanterie-Brigade v. Lepel hatte von Verberie auf Baron (westlich Nanteuil le Haudouin) vorzustoßen; der Nordgruppe (Sixt von Armin) wurde aufgegeben, sich dem Angriff der Gruppe von Quast anzuschließen. Der übrige Teil der Armeefront sollte seine Stellungen behauptet, der Höhere Kavalleriekommandeur 2 mit der Brigade v. Kräwel des IX. Armeekorps die linke Flanke der Armee decken.

Der Angriff der Gruppe v. Quast ging befehlsgemäß vonstatten. Die 17. Infanterie-Division ging über Gondreville, südlich Rouville vorbei, die 18. Infanterie-Division über Ivors auf Boissy Fresnoy vor. Die 6. Infanterie-Division schloß sich in Richtung auf Betz - Villers St. Genest dem Angriff an. [244] Die 17. Infanterie-Division, die gegen Mitternacht noch in gänzlich ermattetem Zustand durch La Ferté Milon marschiert war, vergaß alle Müdigkeit, als der Angriffsbefehl bekannt wurde. "Ich werde niemals vergessen", berichtet ein Augenzeuge, "wie die Nachricht, es gehe wieder an den Feind, auf unsere brave Truppe wirkte. Die ermatteten Gestalten richteten sich auf, alle Müdigkeit war vergessen, der Angriff erfolgte wie auf dem Exerzierplatz. Die Überzeugung brach sich Bahn, daß ein großer Erfolg im Werden war."

Der Angriff zeitigte bis 2 Uhr nachmittags gute Erfolge. Die Brigade v. Lepel stieß erst bei Baron auf gegnerische Kräfte. Nach Fliegermeldungen war die Gegend westlich Compiègne - Senlis vom Feinde frei; über nennenswerte Reserven schien der Gegner hier nicht mehr zu verfügen.

General Maunoury hatte eben seine letzten Reserven auf dem bedrohten Nordflügel eingesetzt. Versuche seiner Kavallerie-Divisionen, den deutschen Umfassungsflügel aufzuhalten, waren gescheitert. Maunoury bemühte sich vergeblich, die bisher auf dem rechten Flügel seiner Armee verwendete 8. Infanterie-Division auf den linken Flügel seiner Kampfront zu bringen; sie kam nicht mehr zur Wirkung. "Endlich kam die Nacht, eine bange Nacht! Was wird am anderen Morgen? Die Truppen sind erschöpft, den menschlichen Kräften sind Grenzen gesetzt!"

Während auf dem deutschen Nordflügel die deutschen Truppen langsam aber unaufhaltsam vorwärts kamen und der Schlachterfolg in sicherer Aussicht stand, spitzte sich die Lage auf dem Südflügel bedenklich zu. Am 9. September morgens teilte des Armeeoberkommando 2 mit, daß es in der Nacht seinen rechten Flügel in die Linie Margny - Le Thoult zurückgenommen habe. Der Höhere Kavalleriekommandeur 1 gehe, vom Feinde gedrängt, teils auf Condé en Brie, teils hinter die Marne zurück. Auch der Höhere Kavalleriekommandeur 2 meldete am späten Vormittag, daß englische Infanterie die Marne in Linie Nanteuil - Charly überschreite. Der Führer (General v. der Marwitz) werde versuchen, die Engländer wieder über den Fluß zurückzuwerfen. Zu seiner Unterstützung sandte das Armeeoberkommando die 5. Infanterie-Division von Trocy in Richtung Dhuizy, wo sie dem Höheren Kavalleriekommandeur 2 unterstellt wurde. Dem General v. Linsingen wurde anheimgegeben, den linken Armeeflügel in Linie May en Multien - Coulombs zurückzunehmen. Diese Bewegung wurde am frühen Nachmittag in voller Ordnung, vom Feinde gänzlich unbehelligt, ausgeführt.

Während Generaloberst v. Kluck trotz allem vertrauensvoll dem Erfolg bei der im Angriff rüstig fortschreitenden Gruppe v. Quast entgegensah, traf kurz nach 1 Uhr mittags eine erneute Hiobsbotschaft von der 2. Armee ein: "Flieger meldet Vorgehen von vier langen feindlichen Kolonnen gegen Marne; Anfänge 9 Uhr vormittags Nanteuil - Citry - Pavant - Nogent l'Artaud. 2. Armee einleitet Rückzug rechter Flügel Damery." - Kam diese Absicht zur [245] Ausführung, dann erweiterte sich die bisher schon bestehende Lücke zwischen 1. und 2. Armee derart, daß das Schlimmste befürchtet werden mußte. Trotzdem hielt das Armeeoberkommando an seiner hoffnungsfreudigen Auffassung fest; ein derart weites Zurücknehmen des rechten Flügels der 2. Armee schien nicht notwendig und auch nicht der Lage entsprechend; tatsächlich änderte das Armeeoberkommando 2 auch später die Marschrichtung seines Westflügels auf Dormans. Die Abwehrkraft der vereinigten Kavalleriekorps 2 und 1 mit der Brigade Kräwel und der 5. Infanterie-Division wurde von Generaloberst v. Kluck derart hoch eingeschätzt, daß er erwartete, diese Verbände würden dem Gegner ein rasches Vorkommen noch einige Zeit verwehren. Die Entscheidung auf dem Nordflügel mußte bald fallen; des Sieges glaubte das Armeeoberkommando 1 sicher zu sein. Wurde aber die Armee Maunoury geschlagen und in südlicher und südwestlicher Richtung verfolgt, so war anzunehmen, daß die sowieso schon recht zögernd vorgehende englische Armee sofort zum Halten kommen würde; ihr Rückzug schien dann sicher, wenn sie sich nicht einer doppelten Umfassung aussetzen wollte.

Da traf gegen Mittag im Armee-Hauptquartier Mareuil als Vertreter der Obersten Heeresleitung der sächsische Oberstleutnant im Generalstabe Hentsch ein und führte aus: "Die Lage sei nicht günstig; 5. Armee sei vor Verdun, 6. und 7. Armee vor Nancy - Epinal festgelegt. Der Rückzug der 2. Armee hinter die Marne sei unabänderlich; der rechte Flügel, das VII. Armeekorps, zurückgedrängt, nicht zurückgegangen. Daraus folge, alle Armeen abzusetzen: die dritte nordöstlich Châlons, die 4. und 5. Armee anschließend über Clermont en Argonnes auf Verdun. Die 1. Armee müsse daher auch zurückgehen, und zwar in Richtung Soissons - Fère en Tardenois, äußerstenfalls weiter, sogar auf la Fère - Laon. Bei St. Quentin werde eine neue Armee zusammengezogen; so könne eine neue Operation beginnen."

Auf den Einwand des Chefs des Stabes der 1. Armee, daß diese in vollem Angriff und ein Rückzug sehr mißlich, die Armee auch infolge Mischung der Verbände auf das äußerste erschöpft sei, blieb Oberstleutnant Hentsch bei seiner Auffassung und erklärte, die Direktive bleibe maßgebend, auch ohne Rücksicht auf etwa eingehende andere Mitteilungen; er habe volle Vollmacht; höchstens könne der Rückzug im Hinblick auf die augenblickliche Kampflage und Stellung der 1. Armee mit linkem Flügel auf Soissons hinter die Aisne ausgeführt werden.

Trotz heftigen inneren Widerstrebens konnte sich das Armeeoberkommando 1 einigen der ausgeführten Tatsachen und den aus ihnen zu ziehenden Folgerungen nicht verschließen. Auch wenn es am 9. September zu einem vollen taktischen Erfolg auf dem Nordflügel kam, so konnte nach Ansicht des Vertreters der Obersten Heeresleitung, der über die Gesamtlage besser orientiert war, als das Armeeoberkommando 1, dieser taktische Sieg nicht von ausschlaggebendem Einfluß auf die Kampflage bei der 2. Armee sein. Die Lücke zwischen 1. und 2. Armee war nicht mehr zu schließen, auch wenn es dem General v. der Marwitz [246] gelang, noch einige Zeit die englische Armee in Schach zu halten. In diese Lücke würden in den nächsten Tagen nicht nur die englische Armee, sondern auch die siegberauschten Divisionen des linken Flügels der französischen 5. Armee hineinfluten. Ein Zusammenschließen der 1. und 2. Armee auch weiter rückwärts schien dann ausgeschlossen, vielmehr stand zu befürchten, daß die 1. Armee in nordwestlicher Richtung, etwa auf Amiens oder gar Dieppe, abgedrängt werden würde. Ein derart exzentrischer Rückzug war vom operativen Standpunkt zwar als nicht ungünstig zu bezeichnen, jedoch nur unter der Voraussetzung, daß die 1. Armee in absehbar kurzer Zeit wieder schlagkräftig, in ihren Beständen an Menschen, Material und Munition aufgefüllt, zu neuer Verwendung hätte bereit stehen können. Diese Voraussetzung traf aber leider nicht zu. Die nur notdürftig wieder hergestellten rückwärtigen Verbindungen gestatteten einen geregelten, ausgiebigen Nachschub nicht. Die vom Armeeoberkommando 1 schon Anfang September geforderte rückwärtige Armeestaffel von einigen Armeekorps war nicht vorhanden; wäre sie zur Stelle gewesen, so würde die 1. Armee, im Verein mit diesen frischen Kräften, zweifellos bald in der Lage gewesen sein, auch nach einem exzentrischen Rückzug den Angriff wieder aufzunehmen.

Die strikte Weisung des Abgesandten der Obersten Heeresleitung ließ keine Abweichung oder Verzögerung des Rückzugsbefehles zu. Schweren Herzens und der Tragweite des entscheidenden Entschlusses bewußt, wurde ohne Zögern - 2 Uhr nachmittags - der Befehl zum Rückzug ausgegeben.

Der Entschluß der 1. Armee war die Folge der Geschehnisse bei der 2. Armee und der Dinge, die sich in dem Raum zwischen den beiden Armeen abgespielt hatten.

General French hatte für den 9. September energische Verfolgung in nördlicher Richtung befohlen, und zwar dem englischen I. Armeekorps über Nogent l'Artaud (an der Marne) - Charly, dem II. Armeekorps über Charly - Méry, dem III. Armeekorps über Méry - La Ferté sous Jouarre. In den Morgenstunden gelang es dem I. englischen Korps und der Kavallerie-Division Allenbys ohne Schwierigkeiten, den Fluß bei Saulchery und Charly zu überwinden und bis Gegend Domptin vorzurücken. Das II. Armeekorps besetzte die Brücken bei Méry und Nanteuil, wurde dann aber durch deutsches Artilleriefeuer aufgehalten. General French hielt darauf das Korps an, um dem I. und III. Armeekorps Zeit zu lassen, sich auf dem Nordufer festzusetzen. Das englische III. Armeekorps lag aber vor La Ferté sous Jouarre fest. Zur Öffnung des Überganges auf dieser Flußstrecke wurde nun die englische 5. Infanterie-Division von Méry aus vorgesandt, um über Dhuizy den Deutschen in den Rücken zu gehen. Die Division stieß aber bei Montreuil auf hartnäckigen Widerstand, den sie erst bei Einbruch der Dunkelheit brechen konnte. Infolgedessen gelang es dem englischen III. Armeekorps erst in der Nacht vom 9. zum 10. September bei La Ferté sous Jouarre und westlich den Fluß zu überschreiten.

[247] Die Schwierigkeiten, mit denen die englischen Korps beim Übergang über die Marne beiderseits La Ferté am 9. September zu kämpfen hatten, und der sehr langsam vonstatten gehende Vormarsch kennzeichnen die Hartnäckigkeit, mit der die fast nur aus Kavallerie bestehenden schwachen deutschen Verbände der Übermacht Widerstand leisteten.

Als am Vormittag des 9. September überlegene feindliche Artillerie aus Gegend Méry ihr Feuer gegen die Brigade Kräwel bei Montreuil eröffnete, antwortete die deutsche Artillerie. Die englische Infanterie überschritt die Marne an verschiedenen Punkten und näherte sich in dem unübersichtlichen Gelände der auf der Höhe südlich Montreuil in Stellung gegangenen Brigade. Vom Höheren Kavalleriekommandeur 1 lief die Nachricht ein, daß die 5. Kavallerie-Division mit ihrer Masse bei Marigny, d. h. also links rückwärts, nordöstlich Montreuil, stände. Der Höhere Kavalleriekommandeur 2 stellte gegen Mittag alle verfügbaren Teile der 2. Kavallerie-Division der Brigade zur Verfügung, um den Gegner, der auf Chamigny und Saacy (im Marnetal) vorging, zurückzuwerfen. General v. Kräwel nahm aber vorerst von einem Angriff Abstand, da die Lage vor der Front noch zu wenig geklärt war.

Der Gegner verstärkte inzwischen seine Artillerie erheblich und setzte auch schwere Kaliber ein; er beabsichtigte offensichtlich, die deutsche Besatzung von der beherrschenden Höhe von Montreuil herunterzuschießen; seine Infanterie hielt er noch vom Angriff zurück.

Erst am Nachmittag trat auch die englische Infanterie in den Kampf ein und bedrohte die Flügel der schon schwachen deutschen Kräfte. Feindliche Kavallerie ging sogar südöstlich Montreuil von Charly auf Villiers vor; die Brigade lief Gefahr, auch im Rücken umfaßt zu werden. Da traf zur rechten Zeit die Nachricht ein, daß die deutsche 5. Infanterie-Division auf Dhuizy im Anmarsch sei. Die Aussicht, nun doch noch zum Angriff auf den das Nordufer der Marne ersteigenden Feind vorgehen zu können, wuchs. Bald war das Abbiegen der 5. Infanterie-Division von Dhuizy auf Montreuil deutlich zu erkennen. Doch sollte es zu einem gemeinsamen Angriff nicht kommen. Plötzlich stellte die 5. Infanterie-Division ihr Vorgehen in südlicher Richtung ein und begann bald darauf nach Norden abzumarschieren. Auch die 9. Kavallerie-Division ging auf Cocherel zurück. Erst am Abend erhielt die Brigade Kräwel den Befehl des Höheren Kavalleriekommandeurs 2 zum Abmarsch nach Norden. Da auch weiter östlich englische Kolonnen im Vormarsch gemeldet seien, so z. B. von Château-Thierry auf Torcy, gehe das 2. Kavalleriekorps mit 2. und 9. Kavallerie-Division und den Jäger-Bataillonen auf Coulombs zurück. Der Höhere Kavalleriekommandeur 1 habe gemeldet, daß er mit der 5. Kavallerie-Division weiter nach Norden, mit der Garde-Kavallerie-Division über Condé en Brie ausweichen werde. Brigade Kräwel habe daher das Gefecht abzubrechen und sich der 5. Infanterie-Division, die in Gegend Gandelu abmarschiere, anzuschließen und zu unterstellen.

[248] Der Abmarsch der Brigade gelang bei einbrechender Dunkelheit ohne Schwierigkeiten. Der Gegner drängte nicht nach. Um Mitternacht vom 9. zum 10. September stieß die Brigade bei Gandelu zur 5. Infanterie-Division, in deren Verband sie zunächst verblieb. Bis auf eine Batterie des Feldartillerie-Regiments 45, die, im Artilleriekampf bei Montreuil zusammengeschossen, ihre Geschütze nicht zurückbringen konnte, kam die Brigade Kräwel ohne weitere Materialverluste aus dem Kampf zurück. Verluste an Toten und Verwundeten waren nur mittlere gewesen. Die Widerstandskraft der Truppe war ungebrochen; sie würde auch am 10. September, im Verein mit der Heereskavallerie und der 5. Infanterie-Division, dem Gegner zähen Widerstand geleistet haben, wenn dies die Lage von ihr gefordert hätte.

Das Verhalten der deutschen Deckungstruppen (Brigade Kräwel und 2. Kavalleriekorps) war hervorragend. Eine zusammengestellte Infanterie-Brigade und eine bis zwei schwache Kavallerie-Divisionen hatten es vermocht, die gesamte englische Armee einen ganzen Tag lang erfolgreich aufzuhalten; die Räumung des Marne-Ufers in diesem Abschnitt erfolgte bei Dunkelheit vollkommen freiwillig und nicht unter dem Druck des Feindes!


2. Armee.

Die pessimistische Auffassung der Lage im Hauptquartier der 2. Armee am Abend des 8. September sollte von entscheidender Bedeutung werden. Die günstigen Nachrichten vom siegreichen Vorschreiten der Schlacht auf dem linken Armeeflügel konnten die Sorgen des Oberbefehlshabers nicht verscheuchen, die ihn über die Lage auf seinem rechten Armeeflügel und über das Schicksal der 1. Armee erfüllten. Unter dem Eindruck der manchmal nicht erfreulichen Bilder, die sich dem Generaloberst v. Bülow auf seinem verhältnismäßig dicht hinter der Schlachtfront befindlichen Gefechtsstand boten, beeinflußt durch die nachteiligen, tatsächlich unzutreffenden Meldungen über den Zustand seiner Truppen, durch die unkontrollierbaren Nachrichten aus der Kampflinie und schließlich schwer enttäuscht über das - seiner Ansicht nach falsche - Verhalten des Armeeoberkommandos 1 und dessen Verharren am Ourcq, sah der Führer der 2. Armee dunkel auf die herankommende Entscheidung. Bei dem so von schwerer Sorge erfüllten Armeeoberkommando traf am Abend des 8. September der Abgesandte der Obersten Heeresleitung, Oberstleutnant Hentsch, von der 3. Armee kommend, ein. Selbst zu pessimistischer Auffassung neigend, sind zweifellos die Anschauungen im Armeestabe von starkem Einfluß auf ihn gewesen. Jedenfalls trat er der düsteren Stimmung im Stabe Bülow nicht mit der nötigen Bestimmtheit entgegen. Während er noch wenige Stunden vorher der Obersten Heeresleitung die Lage bei der 3. Armee als "durchaus günstig" gemeldet hatte, berichtete er am späten Abend nach Luxemburg: "Lage am rechten Flügel der 2. Armee ernst, aber nicht hoffnunglos." Dem Entschluß des Generaloberst v. Bülow, auf Grund der [249] Nachricht vom Weichen der 13. Infanterie-Division am 8. September abends, am nächsten Tage seine Armee zurückzunehmen, hat er nicht entgegengewirkt, ihn auch nicht der Obersten Heeresleitung gemeldet.

Trotzdem befahl das Armeeoberkommando 2 für den 9. September zunächst die Fortsetzung des Angriffs auf dem linken Flügel, dagegen sollte der rechte Armeeflügel hinter die Verdonelle zurückgenommen werden. Am Morgen des 9. September fand dann nochmals eine Aussprache mit Oberstleutnant Hentsch statt, bevor derselbe zur 1. Armee weiterfuhr. Hierbei wurde wiederum die Notwendigkeit des allgemeinen Rückzugs festgestellt, der linke Armeeflügel (Gardekorps und Gruppe Kirchbach) dagegen zunächst noch mehrfach aufgefordert, den Angriff schnell in westlicher Richtung vorzutragen. Als aber dann die Fliegermeldung eintraf, daß fünf lange feindliche Kolonnen gegen die Marne zwischen La Ferté und Château-Thierry vorgingen, hielt Generaloberst v. Bülow die Lage für derart kritisch, daß er, ohne Verständigung mit den Nachbararmeen, den Befehl zum allgemeinen Rückzug seiner Armee und - in Überschreitung seiner Befehlsbefugnis - auch des rechten Flügels der 3. Armee, und zwar hinter die Marne zwischen Damery, Eperney und östlich erteilte. Durch diesen Rückzug sollte der Plan des Gegners, den rechten deutschen Heeresflügel - nach Durchbruch zwischen 1. und 2. Armee - abzudrängen und zu vernichten, vereitelt werden; Absicht des Oberbefehlshabers der 2. Armee war, mit der 2. und 3. Armee hinter der Marne eine starke Abwehrfront zu bilden; ihr rechter Flügel hatte die nach Osten heranzuziehende 1. Armee zu decken; mit Hilfe der sich bei St. Quentin sammelnden 7. Armee sollte dann eine neue Operation begonnen werden.

Von seinem Entschluß, zurückzugehen, ließ sich Generaloberst v. Bülow auch durch die Erfolge des X. Armeekorps, der 14. Infanterie-Division und des Gardekorps nicht abbringen. Der 1. Garde-Infanterie-Division war es gelungen, nach Westen einschwenkend, den das Umgelände weit beherrschenden Mont Août zu besetzen; dadurch war auch das schnelle Vorkommen der 14. und 20. Infanterie-Division ermöglicht. Mitte und linker Flügel der 2. Armee gelangten in den Mittagsstunden des 9. September bis zur Linie Mondement - Allemant - Connantre; der Feind befand sich hier in vollem Rückzuge. Bis jetzt war der rechte Armeeflügel (X. Reservekorps, 13. Infanterie- und die Garde-Kavallerie-Division) noch nicht ernsthaft angegriffen.

Trotzdem wurde der Rückzug von der 2. Armee gegen den Einspruch der Truppenführer am frühen Nachmittag angetreten.


3. Armee.

Für den 9. September hatte Generaloberst v. Hausen die Fortsetzung des Angriffs der 3. Armee befohlen; die westliche Angriffstruppe sollte durch Vorgehen in der allgemeinen Richtung Sézanne dem immer wieder geäußerten Ver- [250] langen der 2. Armee, ihren Ostflügel zu entlasten, entsprechen. Die gleichen Verbände wie am Tage vorher unter General v. Kirchbach griffen abermals erfolgreich an: die 23. Reserve-Division nahm Mailly le Camp, die 24. Reserve-Division erreichte Enoy. Auf erneuten Hilferuf der 2. Armee wurde der Angriff energisch fortgesetzt und bis Mittag die Linie Corroy - Gourgançon (24. Reserve-Division) - Sémoine (32. Infanterie-Division) - Mailly (23. Reserve-Division) erreicht; zahlreiche Gefangene, viele Geschütze und Maschinengewehre fielen in deutsche Hand. Auf dem Ostflügel der 3. Armee dagegen kam es zu keinem nennenswerten Geländegewinn. Die 23. Infanterie-Division kämpfte mit wechselndem Erfolg in dem waldigen Gelände südlich und südwestlich Sompuis, das XIX. Armeekorps hielt seine bisherige Stellung.

Trotzdem schien um Mittag die Lage bei der 3. Armee durchaus günstig; der Ostflügel hatte zwar keine großen Fortschritte gemacht, aber überlegenem Gegner erfolgreich standgehalten, die Mitte und der westliche Flügel den Feind bis hinter den Maurienne-Abschnitt zurückgeworfen; die Fortsetzung des Angriffs auf diesem Flügel mußte nicht nur der hartbedrängten 2. Armee Entlastung bringen, sondern barg auch die Aussicht auf große, weitere Erfolge in sich. Da traf völlig überraschend um 1 Uhr 20 Minuten nachmittags ein um 11 Uhr vormittags aufgegebener Funkspruch der 2. Armee beim Armeeoberkommando 3 ein: "2. Armee einleitet Rückmarsch, rechter Flügel Damery." Ergänzt wurde diese Mitteilung durch die 5 Uhr 30 Minuten nachmittags eintreffende (2 Uhr 45 Minuten nachmittags abgegangene) Nachricht der 2. Armee: "1. Armee geht zurück. Zweite einleitet Rückmarsch: Dormans - Tours."

Da das Armeeoberkommando 2 außerdem dem rechten Flügel der 3. Armee bereits selbständig den Befehl erteilt hatte, ebenfalls zurückzugehen, entschloß sich der Oberbefehlshaber der 3. Armee schweren Herzens, sich den Bewegungen der 2. Armee anzuschließen. Kaum waren die Befehle ergangen, nach denen unter Zurücklassung starker Nachhuten der Rückmarsch hinter die Marne anzutreten sei, als von der Obersten Heeresleitung der telegraphische Befehl eintraf, daß die 3. Armee südlich Châlons sur Marne zu verbleiben habe, um dort zu neuer Offensive bereit zu stehen; 4. und 5. Armee würden sich anschließen. Da es dem Armeeoberkommando 3 zweifelhaft schien, ob der Obersten Heeresleitung bei Erlaß dieses Befehls die Lage und der Entschluß der 2. Armee schon bekannt gewesen war, wurde Oberstleutnant Hentsch, der gerade das Armee-Hauptquartier berührte, um Aufklärung ersucht. Er äußerte seine Ansicht dahin, daß der Befehl der Obersten Heeresleitung, südlich der Marne zu bleiben, nicht mehr dem Worte nach auszuführen sein dürfte, da sich die Verhältnisse bei der 2. Armee wohl anders gestaltet hätten, als es die Oberste Heeresleitung bei Absendung des Telegramms annahm. Das Armeeoberkommando 3 möge daher auf seine - des Oberstleutnants Hentsch - Verantwortung hin so handeln, wie das Oberkommando es mit Rücksicht auf die 2. Armee für richtig halte.

[251] Dem Schwanken, ob auf Grund dieser Auskunft endgültig der Rückzug anzutreten sei, oder nicht, wurde um 10 Uhr 30 Minuten abends durch einen erneuten Funkspruch der Obersten Heeresleitung ein Ende bereitet: "3. Armee bleibt südlich Châlons sur Marne. - Offensive ist am 10. September, sobald möglich, wieder aufzunehmen." Der daraufhin für den 10. September erlassene Armeebefehl gab dem XIX. Armeekorps auf, im Anschluß an das VIII. Armeekorps westlich Vitry de François stehen zu bleiben; das XII. Armeekorps wurde bei Soudron - Vatry - Bussy - Lettrée, das XII. Reservekorps bei Trécon - Chaintrix - Thibie zusammengezogen. Dies bedeutete eine Zurücknahme der Mitte und besonders des rechten Armeeflügels, um den Anschluß an die hinter die Marne im Zurückgehen begriffene 2. Armee nicht zu verlieren; zugleich aber ließ diese Aufstellung südlich der Marne noch durchaus die Möglichkeit offen, am 10. September den Angriff wieder aufzunehmen. Zur Sicherung der rechten Flanke der 3. Armee wurde durch das Armeeoberkommando 2 eine Nachhut des Gardekorps, das im weiteren Rückzug östlich Reims vorbeimarschieren sollte, bei Flavigny belassen.


4. und 5. Armee.

Der 9. September verlief bei der 4. Armee, ähnlich wie tags zuvor, in hartnäckigen stehenden Kämpfen. Beim Armeeoberkommando 4 bestand die Absicht, sich dem für die Nacht vom 9. zum 10. September geplanten Angriff des rechten Flügels der 5. Armee mit dem XVIII. Reservekorps anzuschließen. Das XVIII. Armeekorps sollte in seiner Stellung bleiben und den Westflügel des Angriffs decken. Da traf am Nachmittag die funkentelegraphische Nachricht vom Rückmarsch der 1. bis 3. Armee ein. Die Zweifel, ob sich die 4. Armee ebenfalls anschließen müsse, wurden durch den am Abend eintreffenden Befehl der Obersten Heeresleitung behoben, wonach die 3. Armee südlich Châlons zu bleiben, die 5. Armee in der Nacht vom 9. zum 10. September den beabsichtigten Angriff durchzuführen habe; diesem solle sich die 4. Armee - wenn Aussicht auf Erfolg vorhanden - anschließen.

Daraufhin wurde der Angriff für den 10. September bei Tagesanbruch befohlen.

Die Armee hatte es nicht verhindern können, daß General de Langle aus der Mitte seiner Armee zwei Divisionen herauszog und sie auf seinem linken Flügel, westlich der Marne, zugleich mit dem durch Bahntransport herangeführten XXI. französischen Armeekorps einsetzte. Dieser von Joffre befohlene starke Angriff westlich Vitry le François zur Durchbrechung der deutschen Front kam nicht zur Durchführung. Es gelang den Franzosen nur, Teile der am rechten Flügel der 4. Armee anschließenden Ostgruppe der 3. Armee ein wenig zurückzudrücken.

Die 5. Armee bereitete an diesem Tage durch ausgiebige Artilleriewirkung den von ihr für die Nacht vom 9. zum 10. September beabsichtigten Angriff vor. Mit Rücksicht auf die allgemeine Lage wurde dann aber am Abend von der Durchführung Abstand genommen.


[252] Fall von Maubeuge. Ausfälle aus Antwerpen.

Das zerschossene und gesprengte Fort Hautmont der Festung Maubeuge.
Das zerschossene und gesprengte Fort Hautmont
der Festung Maubeuge.
Eingenommen am 7. September 1914.   [Vergrößern]

Aus: Der Weltkrieg in seiner
rauhen Wirklichkeit
, S. 34.

Fort Bourdiau bei Maubeuge 1914.
Fort Bourdiau bei Maubeuge 1914.
Die ungeheure Wirkung eines einzigen Schusses
unserer schwersten Kaliber.      [Vergrößern]

Aus: Der Weltkrieg in seiner
rauhen Wirklichkeit
, S. 36.
Nach der Schlacht bei Mons und den Kämpfen von Le Cateau hatte der englische Oberbefehlshaber es richtigerweise vermieden, seine geschlagene Armee in den Schutz der Werke von Maubeuge, an das er von Anfang an seine rechte Flanke angelehnt hatte, zurückzuführen. Sowohl die englische wie die französische 5. Armee gingen weiter nach Süden zurück und überließen die Festung ihrem Schicksal.

Die die Festung Maubeuge umgebenden Forts waren in den Jahren 1878 bis 1896 entstanden; die wichtigeren Werke: auf der Nordfront des Sarts, sowie im Süden der Festung de Bourdiau und d'Haumont, hatten nachträglich moderne Nahkampfpanzer erhalten; die Forts der Ostfront: de Boussois und de Cerfontaine, besaßen zwar je einen alten Hartgußpanzer für zwei lange 155-mm-Kanonen, entsprachen aber im übrigen neuzeitigen Anforderungen auf Widerstandskraft nicht mehr. Wohl aber war in der Armierungsperiode viel für die Vervollkommnung der Werke, namentlich auf den dem deutschen Angriff ausgesetzten Fronten Nord und Ost, geschehen.

Die Lage der Festung an einer der besten rückwärtigen Verbindungen des deutschen Heeres erforderte ihre baldige Eroberung.

Über die Stärke der Kriegsbesatzung und die Geschützzahl bestanden nur Vermutungen. Nach französischen Grundsätzen mußte mit einer Besatzung von 20 000 bis 30 000 Mann und etwa 800 Geschützen gerechnet werden. Das Armeeoberkommando 2 glaubte Unterlagen zu besitzen, daß nur 7 000 Mann in Maubeuge zurückgeblieben seien. Aus dieser Auffassung heraus sowie in dem verständlichen Bestreben, keinen verfügbaren Mann mehr als unumgänglich notwendig der Feldarmee zu entziehen, bestimmte der Oberbefehlshaber (nach anfänglichem Zurückhalten des IX. und VII. Armeekorps zur Beobachtung der Festung), indem er den Kommandierenden General des VII. Reservekorps, General der Infanterie v. Zwehl, mit dieser Aufgabe betraute, daß lediglich sein Korps zur Wegnahme der Festung zurückzulassen sei. Vom VII. Reservekorps war aber zur Zeit nur die 14. Reserve-Division zur Stelle (13. Reserve-Division befand sich noch in Lüttich), so daß zunächst noch die verstärkte 26. Infanterie-Brigade des VII. Armeekorps auf der Südfront der Festung belassen werden mußte. Auch bei einer Bestätigung der geringen Stärke der Festungsbesatzung waren die für die Wegnahme betrauten Truppen unverhältnismäßig schwach. Im Vertrauen auf die geringe Widerstandsfähigkeit der Forts, die Stärke und Güte der einzusetzenden Belagerungsartillerie und im Hinblick auf die bei der Wegnahme von Lüttich und Namur erzielten überraschend schnellen Erfolge verweigerte aber das Armeeoberkommando 2 jede weitere Zuteilung von Angriffstruppen.

General v. Zwehl entschloß sich, unter Führung eines Nebenangriffs gegen die Südostfront, den Hauptangriff gegen die Nordostfront zu führen. Die [253] 14. Reserve-Division hatte im Abschnitt: Trouille-Bach - Solre le Château die Einschließung vorzunehmen und den Angriff durchzuführen, die verstärkte 26. Infanterie-Brigade schloß die Südfront bis Aulnoye ab. Für die West- und Nordwestfront standen zur Beobachtung nur einige Schwadronen zur Verfügung. An Belagerungsartillerie wurden im Angriffsabschnitt eingesetzt: 8 Batterien 21-cm-Mörser, 2 Batterien schwere Feldhaubitzen, 2 Batterien 13-cm-, 4 Batterien 10-cm-Kanonen, 2 Batterien schwere Küstenmörser (30,5 cm), 1 Batterie kurze Marine-Kanonen (42 cm) und 1 Batterie österreichische 30,5-cm-Mörser.

Von Anfang an litt die Durchführung der Belagerung an schwerem Munitionsmangel. Alle verfügbaren Munitionszüge wurden von der Feldarmee dringend benötigt; die wenigen wiederhergestellten Bahnlinien vermochten den Nachschub vorläufig nur unvollkommen zu bewältigen.

Die Belagerungsartillerie erhielt die Aufgabe: Sturmreifschießen des Forts des Sarts, der Ouvrages de Bersillies und de la Salemagne, sowie des Forts de Boussois. Am Nachmittag des 29. August wurde das Feuer eröffnet, konnte aber an den nächsten Tagen aus Munitionsmangel nur schwach fortgesetzt werden. Am 1. September trafen die ersten Teile der nachgezogenen 13. Reserve-Division vor der Festung ein; Ausfälle der Besatzung an diesem Tage auf beiden Ufern der Sambre wurden mühelos abgeschlagen. Fliegererkundungen am 2. September ergaben, daß die Werke Boussois, Salemagne und Cerfontaine stark gelitten hatten. Am 3. September erfolgte, unter Einsatz eines Regiments der 13. Reserve-Division in die Linie der 14. Reserve-Division, ein weiteres Vorschieben der Infanteriestellungen. Aber immer noch war die Besetzung der vorderen Stellungen infolge der für die große Ausdehnung ungenügenden Kräfte außerordentlich schwach. Ein unternehmender Gegner hätte gute Aussichten gehabt, die Angriffsinfanterie zu überrennen. Die mangelnde Energie des Verteidigers steigerte aber den Siegeswillen des Angreifers. Am 5. September gelang es, die Werke Bersillies und Salemagne in Besitz zu nehmen; damit war ein Einbruch in die Stellung der feindlichen Verteidigung erzielt.

Ein Befehl des Armeeoberkommandos 2, schon jetzt die verstärkte 26. Infanterie-Brigade in Richtung Laon abmarschieren zu lassen, mußte auf Verlangen des Generals v. Zwehl aufgeschoben werden. Trotz der an der Marne entbrannten schweren Kämpfe mußte die Rücksicht auf die noch nicht entschiedene Lage vor der Festung vorangestellt werden. Bei einem Abmarsch der 26. Infanterie-Brigade hätte der Feind ungestört die Festung auf der Südfront verlassen und im Rücken der 2. Armee die größten Störungen verursachen können.

Das Fort Cerfontaine der Festung Maubeuge, gefallen am 7. September 1914.
Das Fort Cerfontaine der Festung Maubeuge,
gefallen am 7. September 1914.      [Vergrößern]

Aus: Der Weltkrieg in seiner
rauhen Wirklichkeit
, S. 33.
Am 6. September früh fiel Fort de Boussois durch schneidiges Zufassen des Reserve-Infanterie-Regiments 57, wenige Stunden später auch Ouvrage de Rocq, am 7. September fielen die Forts des Sarts, de Leveau und de Cerfontaine. Der unheimlich schnelle Zusammenbruch der feindlichen Widerstandskraft ließ die Vermutung zu, daß die Festung am Ende ihrer Kräfte sei. Daher wurde dem am [254] 7. September nachmittags eintreffenden französischen Unterhändler die Bewilligung einer Waffenruhe rundweg abgeschlagen; vollständige Übergabe bis 7 Uhr abends wurde gefordert, widrigenfalls die Beschießung fortgesetzt werden würde. Der Gouverneur von Maubeuge, General Fournier, nahm die Kapitulation an. Zur grenzenlosen Überraschung der Deutschen fielen über 40 000 Mann und rund 400 Geschütze in ihre Hand.

Kapitulation von Maubeuge
[256a] Die Kapitulation von Maubeuge: Vor dem Ausmarsch der Besatzung.
Noch am 7. September abends wurde die verstärkte 26. Infanterie-Brigade in Richtung Laon in Marsch gesetzt. Das VII. Reservekorps, das schon vor dem Fall der Festung der 7. Armee unterstellt worden war, die sich in Gegend St. Quentin versammelte, trat am 10. September den Marsch nach Süden an.

Die Eroberung von Maubeuge zeigt, was energische deutsche Führer und Truppen zu leisten vermochten. Der Erfolg ist um so höher einzuschätzen, als die Angriffstruppe zahlenmäßig dem Verteidiger ganz erheblich unterlegen war. Auch wenn man dem französischen Gouverneur zubilligt, daß seine (Territorial-) Verbände größtenteils nicht vollwertig waren, so muß eine derart matte, energielose Verteidigung doch wundernehmen. Für den Fortgang der Operationen war das schnelle Freiwerden des VII. Reservekorps von größter Bedeutung; ohne sein rechtzeitiges Eintreffen am Chemin des Dames hätte ein Durchbruch der Engländer und Franzosen zwischen der 1. und 2. Armee voraussichtlich nicht verhindert werden können.

Infolge des Rückzuges auf Antwerpen hatten die belgischen Divisionen den unmittelbaren Anschluß an die alliierten Heere aufgeben müssen. Joffre wußte sie aber trotzdem zur Einwirkung auf die Kampflage zu bringen. Durch die von ihm an entscheidenden Zeiten angeordneten Ausfälle aus Antwerpen ließ er sie Einfluß auf die Operationen des deutschen Heeres gewinnen und die Lage der hartbedrängten Verbündeten erleichtern. Am 24. August standen die französische 5. und die englische Armee in hartem Kampf südlich der Sambre sowie westlich Maubeuge; noch hielten sich einige Forts von Namur. Da stieß, auf Betreiben des Generalissimus Joffre, die belgische Armee aus Antwerpen mit allen verfügbaren Kräften in südlicher Richtung gegen die deutschen Deckungstruppen - das III. Reservekorps - vor.

Dieses Korps hatte vom 23. August ab seine beiden Divisionen auf 18 Kilometer breiter Front in Linie Over de Vaert - Grimberghen, etwa 10 Kilometer nördlich Brüssel, gegen Antwerpen bereitgestellt. Weitere Kräfte zur Beobachtung der Schelde-Festung und Niederhaltung Brüssels waren zunächst nicht verfügbar. Gegen diese dünne Abwehrlinie ging die belgische Armee am 25. August mit vier Divisionen über Eppeghem - Elewyt - Haecht vor, eine Division blieb bei Mecheln als Reserve zurück. Anfänglich konnten die Belgier Erfolge gegen die deutschen Vortruppen und vor allem gegen den deutschen rechten Flügel erzielen. Hier drohte eine Umfassung an der Löwener Straße. In Löwen selbst [255] brach ein Aufstand der Einwohner aus. Die Lage war kritisch. Da trafen zur rechten Zeit die ersten Truppen des aus dem Küstenschutz an der Nordsee abgelösten und im Antransport nach Frankreich begriffenen IX. Reservekorps bei Löwen ein. In blutigem Straßenkampf wurde der Aufruhr in Löwen niedergeschlagen, die Verbindung mit dem rechten Flügel des III. Reservekorps hergestellt und in gemeinsamem Angriff die belgische Armee unter schweren Verlusten nach Antwerpen zurückgeworfen. Nur durch seine schnelle Abwehr - trotz einer kurzen bedrohlichen Krisis - hat der Ausfall keine Einwirkung auf die Kämpfe an der Front gewinnen können.

Belgisches Hindernis gegen den deutschen Vormarsch.
Um durch die Trümmer den siegreichen deutschen Vormarsch aufzuhalten, hatten die Belgier auf der Bahnlinie Lüttich–Brüssel hintereinander vier Züge führerlos abgelassen.      [Vergrößern]
Aus: Der Weltkrieg in seiner
rauhen Wirklichkeit
, S. 32.
Von größerer Bedeutung für die allgemeine Lage wurde der am 9. September beginnende zweite Ausfall der Belgier; wiederum erfolgte er auf Weisung der französischen Oberleitung. Während durch die Entscheidungsoffensive des französisch-englischen Heeres der deutsche westliche Heeresflügel vernichtend geschlagen werden sollte, sollte die belgische Armee von Antwerpen her dem Gegner in den Rücken fallen, seine einzige, leistungsfähige Eisenbahnlinie Köln - Lüttich - Brüssel zerschneiden und deutsche Truppen von der Entscheidungsschlacht an der Marne fernhalten. Dem Befehlshaber der deutschen Deckungstruppen vor Antwerpen, General v. Beseler, war inzwischen außer dem IX. Reservekorps noch die neu aufgestellte Marine-Division unter Admiral v. Schroeder zugeführt worden. Auf die Nachricht von der Landung starker englischer und belgischer Truppen in Ostende und ihrem Vorgehen auf Antwerpen, setzte General v. Beseler am 7. September mit der 6. Reserve-Division und dem IX. Reservekorps zu einer gewaltsamen Erkundung in westlicher Richtung an. Vor Antwerpen blieben nur die 5. Reserve-Division und die Marine-Division zurück. Wohl stellten sich die Nachrichten von englischen Landungen als unrichtig heraus. Da sich aber inzwischen die Lage der deutschen Armeen an der Marne bedenklich zuspitzte, erhielt General v. Beseler Befehl zum sofortigen Abmarsch des IX. Reservekorps in Richtung St. Quentin; nach seinem Abmarsch blieb die 6. Reserve-Division in Gegend westlich Ninove zunächst halten.

Der Angriff der belgischen Armee am 9. September traf somit auf stark geschwächte und zersplitterte Abwehrkräfte. Der Ausfall war diesmal auf eine erheblich breitere Grundlage gestellt als am 25. August. Sämtliche belgischen Felddivisionen wurden in der Front eingesetzt. Der rechte Flügel reichte bis Termonde. Wieder war der linke belgische Flügel besonders stark gemacht. Bis über Aerschot ausholend, gingen die belgische 3., 6. und 2. Infanterie- und die Kavallerie-Division zum Angriff gegen den deutschen rechten Flügel bei Voer de Vaert vor. Es gelang den Belgiern, bis dicht an Löwen heranzukommen und die Bahnlinie Lüttich - Brüssel aufs äußerste zu gefährden. Da trafen - wieder in letzter Stunde - Verstärkungen ein: Teile des im Antransport auf St. Quentin befindlichen XV. Armeekorps wurden ausgeladen, schnell alarmierte Landwehrtruppen des General-Gouvernements und die 6. Reserve-Division eilten [256] dem Schlachtfeld zu. Ihren vereinten Kräften gelang es, den Ansturm der Belgier zu brechen. Am 13. September ging König Albert nach Antwerpen zurück.

Trotz zeitweiser starker Bedrohung der wichtigsten, rückwärtigen Verbindungslinie der Deutschen, der Bahn Lüttich - Brüssel, und obgleich nicht unerhebliche deutsche Kräfte vom Wege zur Hauptentscheidung in den Kampf vor Antwerpen abgezogen wurden, hat der Ausfall der belgischen Armee am 9. September keine Wirkung entscheidender Art erzielt. Der Entschluß der Obersten Heeresleitung, die Schlacht an der Marne abzubrechen und hinter die Aisne zurückzugehen, war gefaßt, bevor die Belgier hätten einwirken können. Allerdings mußte bei allen Entschließungen der deutschen Obersten Heeresleitung auch weiterhin in Rechnung gesetzt werden, daß die gewaltige Lagerfestung Antwerpen noch unbezwungen im Rücken und in der Flanke des Heeres lag und in ihr die belgische Armee, die ihre Kampfkraft in den Tagen vom 10. bis 13. September augenfällig bewiesen hatte. Aus diesen Erwägungen heraus hatte die Oberste Heeresleitung schon am 7. September den Befehl zum Angriff auf Antwerpen erlassen.


Rückblick.

Die Schlacht an der Marne war am 9. September mittags an ihren entscheidenden Stellen beendet; freiwillig räumten die Deutschen das Feld, um sich weiter rückwärts zu neuem Kampf zu ordnen.

Die 1. Armee hatte am 5. September abends durch den Vorstoß des IV. Reservekorps Klarheit über die ihrer rechten Flanke drohende Gefahr gewonnen; nach anfänglicher Fortsetzung des Vormarsches des II., IV., III. und IX. Armeekorps in südlicher Richtung, der am 6. September zu den ersten Zusammenstößen mit der französischen 5. Armee führte, faßte General v. Kluck den Entschluß, sich mit seiner Hauptmacht auf die Armee Maunoury zu werfen. Gegen die englische Armee wurden nur Teilkräfte zurückgelassen; die Masse der Armee wurde in meisterhaften Dispositionen und unter williger Hergabe aller Truppen staffelweise vom rechten Flügel nach Norden geworfen und gegen die 6. Armee eingesetzt. Am 8. September war die Angriffskraft Maunourys gebrochen. Während die Engländer nur langsam, der linke Flügel der Armee Franchet schärfer in die hierbei zwischen der 1. und 2. Armee entstandene Lücke vordrangen, führte General v. Kluck, in folgerichtiger Durchführung seines Entschlusses, den letzten verfügbaren Kämpfer zur entscheidenden Umfassung des feindlichen Nordflügels vor. Am 9. September kam dieser Umfassungsangriff zur Durchführung, während gleichzeitig der rechte englische Armeeflügel die Marne östlich La Ferté sous Jouarre überschritt und der linke Flügel der französischen 5. Armee den rechten Flügel der deutschen 2. Armee bedrohte. Daraufhin wurde vom Armeeoberkommando 2 und dem Vertreter der Obersten Heeresleitung die Lage der 1. Armee für unhaltbar angesehen und der Rückzugsbefehl für die 2. Armee gegeben.

[257] Die 2. Armee trat am 6. September unter Festhalten ihres rechten Flügels bei Montmirail mit der Mitte und ihrem linken Flügel zum Angriff an; sie stieß auf die 5. und 9. französische Armee. Am 7. und 8. September wurde die gleichfalls zum Angriff angesetzte Armee Foch hart bedrängt und in die Abwehr geworfen, auf dem Ostflügel bahnte sich am 9. September mit Unterstützung des rechten Flügels der 3. Armee südlich Fère Champenoise ein ausgesprochener Erfolg an. Trotzdem entschloß sich General v. Bülow, der seinen eigenen rechten Flügel stark bedroht und die Lage der 1. Armee aufs äußerste gefährdet glaubte, aus eigenem Willen zum Rückmarsch, in seinem Entschluß bestärkt durch den Vertreter der Obersten Heeresleitung.

Die 3. Armee stieß erst am 7. September ernsthaft auf den Feind. Von rechts und links zu Hilfe gerufen, teilte sie ihre Kräfte in eine Ost- und eine Westgruppe. Die erstere erkämpfte mit dem linken Flügel der 2. Armee am 8. und 9. September einen unbestrittenen Erfolg und drückte den rechten Flügel der Armee Fochs bis hinter den Mauriennebach-Abschnitt zurück. Zu einem Durchbruch der feindlichen Front kam es nicht mehr, da Generaloberst v. Bülow nicht nur seiner eigenen Armee, sondern auch der rechten Flügelgruppe der 3. Armee den Befehl zum Rückmarsch gab. Der Ostgruppe gelang es gleichzeitig, den rechten Flügel der deutschen 4. Armee zu stützen, vorwärtszutragen und den am 9. und 10. September geplanten Massenstoß der Franzosen westlich Vitry abzuwehren.

Die 4. Armee erkämpfte in zähem langsamen Vordringen die Ornain-Linie und den Rhein - Marne-Kanal.

Die 5. Armee drängte anschließend an die 4. Armee die gegenüberstehende französische 3. Armee nach Osten und Südosten zurück. Wenn auch die den beiden Armeen gestellte Aufgabe, durch scharfes Vorstoßen in südöstlicher Richtung der deutschen 6. Armee den Übergang über die Mosel zwischen Toul und Epinal zu erleichtern, nicht gelöst werden konnte, so wurde anderseits der französische Versuch, die linke Flanke der deutschen 5. Armee zu umfassen und das deutsche Heer in doppelter Umfassung zu erdrücken, schon in seinen Anfängen zunichte gemacht.

Weshalb ging der Riesenkampf an der Marne zuungunsten Deutschlands aus?

Der Schlieffensche Plan beruhte auf der dauernden Umfassung der feindlichen Streitkräfte durch den hierzu so stark wie möglich zu machenden deutschen rechten Heeresflügel. Bis zum 5. September hatte die Oberste Heeresleitung an diesem Gedanken festgehalten; durch Maßnahmen verschiedenster Art war aber die Ausführung und Verwirklichung dieser Grundidee schon von Beginn an erheblich beeinträchtigt worden. Die entscheidende Stoßmasse des rechten Flügels war im Aufmarsch und in den ersten Operationstagen zugunsten des linken Heeresflügels erheblich geschwächt, die von Schlieffen beabsichtigte Massierung [258] starker Kräfte zweiter Linie zur Erledigung der Nebenaufgaben unterlassen worden. Im gleichen Sinne schwächend wirkte die Abgabe zweier Armeekorps des Entscheidungsflügels nach dem Osten und die Belassung der nach der Schlacht von Saarburg in den Reichslanden entbehrlichen Kräften vor der Front Nancy - Epinal.

Trotz dieser starken Verminderung des Schwenkungsflügels hatte die Tapferkeit der Truppen die Durchführung des Schlieffenschen Planes bis Anfang September ermöglicht. Noch am 3. September lautete die Weisung der Obersten Heeresleitung: "Die Franzosen sind in südöstlicher Richtung von Paris abzudrängen." Aber am 5. September mußte zugegeben werden, "daß ein Abdrängen des gesamten französischen Heeres gegen die Schweizer Grenze nicht mehr möglich" sei. Da auch jede weitere Umfassung des Gegners durch die Anlehnung der verbündeten Armeen an die Flügelstützpunkte Paris und Verdun ausschied, konnte demnach als Ziel für die weitere Angriffsoperation nur ein Durchbruch der feindlichen Front in Frage kommen. Die deutschen rechten Flügelarmeen (1. und 2.) wurden durch die Weisung vom 5. September zwischen Oise und Seine festgelegt, um "feindlichen Unternehmungen aus Paris heraus offensiv entgegenzutreten". Der 4. und 5. Armee wurde energisches Vorgehen in südöstlicher Richtung aufgegeben, um dadurch der 6. Armee den Übergang über die Mosel zwischen Toul und Epinal zu öffnen. Als Stoßgruppe für den Durchbruch blieb demnach nur die 3. Armee übrig; ihr wurde die Marschrichtung Troyes - Vendeuvres, weit im Süden, gegeben; ihre weitere Verwendung jenseits der Seine und Aube wurde noch offen gelassen. Hiermit war die Absicht der Obersten Heeresleitung, in der Mitte den Durchbruch zu erzielen, klar zum Ausdruck gebracht.

Warum kam diese Absicht nicht zur Verwirklichung? Die Durchführung dieses Planes hatte zur Voraussetzung, daß die Durchbruchsgruppe auch die nötige Stärke besaß; hier mußte "Masse gebildet" werden, so stark, daß der Führer, ohne Sorgen um seine Flanken, auch nach Abgabe von Teilkräften zur Unterstützung der Nachbararmeen, nur mit dem Ziel geradeaus unentwegt die Durchbruchskämpfe zu führen brauchte, bis er - genügend weit nach Süden gelangt - seine Armee einschwenken und zur Aufrollung der feindlichen Fronten schreiten lassen konnte. Leider traf aber diese Voraussetzung nicht zu. Die 3. Armee - nur noch zwei aktive und ein Reserve-Armeekorps stark -, ohne zugeteilte größere Kavalleriekörper, war schon zahlenmäßig dieser Aufgabe nicht gewachsen. Eine Verschiebung von Kräften innerhalb des deutschen Heeres war zeitlich nicht mehr durchführbar. Außer den schon angeführten Schwächungen bei Kriegsbeginn hatten zur Deckung gegen Antwerpen sowie zur Belagerung von Maubeuge drei weitere Armeekorps (der 1. und 2. Armee) weit im Norden festgelegt werden müssen. Vor den französischen Ostfestungen mühten sich zahlreiche deutsche Korps in fruchtlosem Kampf um ein unerreichbares Ziel.

[259] Dazu kam, daß die 1. und 2. Armee, anstatt in enger Fühlung und gegenseitigem Zusammenwirken eine geschlossene Abwehrfront gegen Paris zu bilden, in ihren Operationen vom 5. September ab exzentrisch auseinander gingen. Der Befehl der Obersten Heeresleitung von diesem Tage traf erheblich zu spät bei den Armeen ein, als daß er aus der Aufstellung der Korps sofort hätte ausgeführt werden können. Die Stellung der Armeen aber hatte sich aus den taktischen Zusammenstößen ergeben. Als der starke Stoß der Armee Maunoury Klucks Flanke traf, entschloß sich dieser, von seinem Standpunkt aus richtigerweise, mit allen seinen Kräften die französische 6. Armee anzugreifen und nördlich umfassend zu schlagen. Auch die Weisung der Obersten Heeresleitung an die 1. und 2. Armee, feindlichen Unternehmungen aus Paris, und zwar für die 1. Armee nördlich der Marne, offensiv entgegenzutreten, sprach für seinen Entschluß. Rücksichten auf den rechten Flügel der 2. Armee glaubte er zurückstellen zu können, da er von dem starken Angriff auf diese Armee anfänglich keine Kenntnis hatte, die Widerstandskraft der Armee Bülow aber auch gebührend hoch einschätzte und ferner von seinen Flankenabteilungen (Heereskavallerie, 5. Infanterie-Division und Brigade Kräwel) das entsprechend lange Aufhalten der englischen Armee bestimmt erwartete.

Während General v. Kluck so seine gesamte Armee zur Erringung eines taktischen Sieges voll und ganz einsetzte, war General v. Bülow gezwungen, Teile seiner Armee zum Schutz seiner durch die entstandene Lücke gefährdeten rechten Flanke einzusetzen. Anstatt alle Reserven seinem linken Stoßflügel zuzuführen, mußten Teile des VII. Armeekorps zur Sicherung des Westflügels zurückbehalten werden. Die Kraft des X. Armeekorps, der 14. Infanterie-Division und des Gardekorps reichte nicht aus, den Widerstand der Armee Foch bei Fère Champenoise allein zu brechen. Zu Hilfe gerufen, griffen starke Kräfte der deutschen 3. Armee (zwei Divisionen) auf dem Ostflügel der 2. Armee in die dortigen Kämpfe ein. Als nun auch noch das linke Flügelkorps der 3. Armee (XIX.) und bald darauf die 23. Infanterie-Division dem rechten Flügel der 4. Armee zu Hilfe eilten und in den nur langsam vorwärtsschreitenden Angriff westlich Vitry le François hineingezogen wurden, blieb von der ganzen Durchbruchsgruppe der 3. Armee nur noch eine Reserve-Division übrig!

Da auch das Vorwärtskommen der deutschen 4. und 5. Armee nach anfänglichem Geländegewinn bald erlahmte, mußte trotz der Erfolge gegen die französische 9. Armee die Hoffnung auf einen schnellen wirkungsvollen Durchbruch aufgegeben werden. Nur ein solcher hätte nach Ansicht des Generalobersten v. Bülow die Krisis auf dem rechten Heeresflügel beheben können. In der Mitte der Schlachtfront kam es wohl zu einem Zurückdrängen der französischen 9. und 4. Armee; der nach seiner Ansicht notwendige schnelle Einfluß auf die Armee Franchet und die Engländer konnte damit aber nicht gewonnen werden. Nur wenn zu hoffen war, daß die 1. Armee spätestens am 10. September nach Ver- [260] treibung der Armee Maunoury gegen die Engländer einschwenken, der rechte Flügel der 2. Armee sich dem Angriff auf die eingedrungenen Teile der Armee Franchet seinerseits anschließen würde, erschien ein Durchkämpfen der Schlacht gerechtfertigt und geboten. General v. Bülow und Oberstleutnant Hentsch haben diese Hoffnung nicht geteilt, der Glaube an die Angriffskraft der nach Ansicht des Vertreters der Obersten Heeresleitung zur "Schlacke" ausgebrannten 2. Armee war bei ihnen nicht mehr vorhanden; sie bezweifelten auch, allerdings ohne sich von der Lage bei der 1. Armee überzeugt zu haben, die Möglichkeit der Durchführbarkeit der von der 1. Armee beabsichtigen Operationen gegen die Engländer nach erfolgtem Sieg über die Armee Maunoury - sie glaubten, den feindlichen Durchbruch zwischen 1. und 2. Armee nur noch durch einen Rückzug unwirksam machen zu können.

Dementsprechend erließ Generaloberst v. Bülow seinen Befehl, den Kampf abzubrechen und den Rückmarsch hinter den Abschnitt des Petit und Grand Morin anzutreten. Durch diesen Befehl entschied er auch über den Entschluß der 1. Armee; sie mußte sich dem Rückmarsch anschließen. Der Entschluß des Generalobersten v. Bülow entsprang seiner Auffassung und der Ansicht seines Stabes und des Vertreters der Obersten Heeresleitung. Wir wissen heute - auch aus französischen Quellen -, daß sie zu pessimistisch war und daß ein energischer Wille, siegen zu wollen, einen entscheidenden Erfolg erzwungen hätte.

Es war ein Verhängnis, daß in diesen ersten Kriegswochen eine starke entscheidende Spitze des Heeres oder oberste Befehlsstellen für mehrere Armeen fehlten, die eine völlig einheitliche Führung gesichert hätten. Aus der Schilderung der Ereignisse bei den rechten Flügelarmeen Ende August 1914 ging bereits hervor, daß durch eine straffere Führung der Operationen von seiten der Obersten Heeresleitung viele Reibungen und unsachgemäße Bewegungen hätten vermieden, ja mehrfach große Erfolge durch Einkesselung feindlicher Armeen hätten herbeigeführt werden können. Daß es hierzu nicht kam, vielmehr wiederholt zu der Aushilfe gegriffen wurde, das Zusammenwirken der Armeen gegenseitigem Einvernehmen zu überlassen, lag einmal an der mangelnden Erfahrung in den Vorbedingungen zur Führung von Millionenheeren, dann aber an dem zu weiten Abbleiben der Obersten Heeresleitung von den Schlachtentscheidungen, zumal von denen des rechten Heeresflügel. Der damalige Chef der Operationsabteilung in der Obersten Heeresleitung, General Tappen, glaubte es mit technischen Schwierigkeiten und wohl auch einer gewissen Schwerfälligkeit innerhalb der Obersten Heeresleitung erklären zu sollen.

Von hohem Interesse ist auch ein Rückblick auf die Maßnahmen der feindlichen Führung und den Verlauf der Schlacht vom französisch-englischen Standpunkt aus. General Joffre faßte den Entschluß zur Schlacht auf Anregung Galliénis, als die deutsche 1. Armee an Paris vorbei - und in südöstlicher Richtung weiter - marschierte. "Aus der gefährlichen Lage der deutschen [261] 1. Armee sind durch Zusammenwirken aller Kräfte der verbündeten Armeen des äußersten linken Flügels alle Vorteile zu ziehen", d. h. es galt, durch Angriff auf die deutsche Westflanke, im Verein mit den erwarteten Erfolgen der französischen 3. Armee und aus Verdun heraus das deutsche Heer in doppelter Umfassung zu vernichten. Eine Vorbedingung für den Erfolg war, daß die nach Süden gerichteten deutschen Heeresteile frontal derart durch Angriff gefesselt wurden, daß dem Flankenstoß keine nennenswerten Kräfte aus der Front entgegengeworfen werden konnten.

Diesem elementaren taktischen Grundsatz wurde aber auch durch den zu frühen Vorstoß der Armee Maunoury aufs schärfste zuwidergehandelt. Wenngleich durch den Angriff des Generals v. Gronau mit seinem IV. Reservekorps am 5. September die französischen Absichten zu frühzeitig enthüllt, die Karten des Gegners aufgedeckt wurden, so mußte doch der Mißerfolg der Entente auf diesem Kampfplatz nicht nur der Ungeduld des Generals Galliéni, der Unvorsichtigkeit der Armee Maunoury, sondern auch den Maßnahmen des Generals Joffre zugeschrieben werden, dadurch daß er den Flankenstoß Maunourys für den gleichen Tag (6. September) wie den Angriff der englischen und der französischen 5. und 9. Armee angesetzt hat. Der die Entscheidung suchende Flankenangriff durfte erst dann zu voller Wirksamkeit gelangen, wenn die deutsche Front bereits in den allgemeinen Kampf verwickelt war. Da sich nun auch noch die zum Flankenstoß bereitgestellte Kampfgruppe am Vorabend des allgemeinen Angriffstages entdecken ließ, war das Moment der Überraschung und mit ihm ein guter Teil der Wirksamkeit der Joffreschen Strategie dahin. Aber auch auf den übrigen Teilen der Schlachtfront versagte sich dem französischen Generalissimus die Erfüllung. Die französische 5. Armee mußte sich bereits am 6. September mühsam der Angriffe des Gegners erwehren; die Armee Foch, die die Mitte der französischen Schlachtlinie bildete und der zunächst die wichtige Aufgabe der Fesselung der gegnerischen Front übertragen war, war am Abend dieses Tages ebenfalls bereits in bedrängte Abwehr geworfen. Nicht viel besser erging es der französischen 4. und 3. Armee. Da bot dem französischen Generalissimus durch die sich bildende Lücke zwischen der 1. und 2. Armee der Zufall die rettende Hand. Das deutsche Armeeoberkommando 1 zog am Abend des 6. September die letzten zwei Korps seiner Südgruppe auf das nördliche Marneufer. Damit wurde der bereits abgewiesene Angriffsflügel der französischen 5. Armee von lastendem Druck befreit. General Franchet konnte nicht nur Kräfte für die bedrohte Nachbararmee Foch abgeben, sondern auch mit wiedererwachender Kraft den rechten Flügel der Armee Bülow angreifen und dessen Reserven von der Entscheidung bei Fère Champenoise fernhalten. Mit anerkennenswerter Entschlußkraft nutzte Joffre die neue Lage aus: die englische und französische 5. Armee wurden zum Durchbruch zwischen der deutschen 1. und 2. Armee vorgetrieben; ihnen war es vergönnt, die Entscheidung der Schlacht zu bewirken.

[262] In Anbetracht dieser zahlreichen Schwankungen im Schlachtverlauf, des Versagens der für den Entscheidungsangriff angesetzten Armeen, der drohenden Gefahr für das Zentrum, durchbrochen zu werden, kann es nicht in Erstaunen setzen, wenn die Franzosen selbst vom "Marne-Wunder" sprechen, das im September 1914 ihr Vaterland aus dräuender Barbarengefahr in letzter Stunde gerettet habe. Sie schreiben es der Tüchtigkeit ihres Heeres, der Tatkraft ihres Generalissimus und nicht in letzter Linie dem Walten der Vorsehung zu, die einer "gerechten Sache" den Sieg verlieh. Dem französischen Heer kann die Anerkennung nicht versagt werden, daß es nach wochenlangen Rückzugskämpfen die Kraft fand, am 6. September mit echt gallischem élan wieder anzugreifen, sowie in schwierigen Lagen, wie sie z. B. die Armee Maunoury am 8. und 9. September zu überwinden hatte, auszuhalten. Auch der Persönlichkeit Joffres muß Gerechtigkeit widerfahren. Sein Festhalten am Entschluß: "on se battra sur la Marne" trotz der Gegengründe seines Stabes, seine Ruhe in den kritischen Tagen Ende August, sein Geschick in der Behandlung des englischen Verbündeten, seine Entschlußkraft während der Marneschlacht sollen, trotz der begangenen Fehler, voll gewürdigt werden.

Über jede Kritik und über alles Lob erhaben steht aber vor uns das deutsche Feldheer des August und September 1914! Es war ein herrliches Werkzeug. "Niemals hat Deutschland danach wieder eine so stahlharte Armee gehabt", so urteilte Marschall Foch, ihr leidenschaftlicher Gegner, über diese deutsche Armee vor 1914. Seit dem 18. August ununterbrochen marschierend, kämpfend und biwakierend konnte die deutsche Truppe auf Marsch- und Gefechtsleistungen zurückblicken, wie sie in der Weltgeschichte noch kein Heer aufzuweisen gehabt hatte, und wie sie vor dem Kriege wohl niemand für möglich gehalten hätte. Waren bei den Armeen des rechten Armeeflügels die Marschleistungen groß, so hatte der linke Heeresflügel in fast ununterbrochenen Kämpfen sich über starke Abschnitte und in schwierigstem Gelände vorwärts arbeiten müssen. Bis zum 9. September von Sieg zu Sieg eilend traf das deutsche Heer nun der Befehl zum Rückzug! Nur unwillig wurde gehorcht. Mehrfach weigerten sich angesichts des winkenden Sieges die Führer der Korps und Divisionen, ihm Folge zu geben. Schließlich beugte man sich der besseren Einsicht der höchsten Führer - eine neue Reihe von unerhörten Anforderungen und Leistungen begann.

Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte