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Das Problem

In der schweizerischen Zeitung Die Weltwoche vom 4. Oktober 1946 schreibt Karl von Schumacher über Nürnberg: "Der Prozeß von Nürnberg war darum von Anfang an eine wenig erfreuliche Angelegenheit, weil er mit Recht so wenig zu tun hat. Recht bedeutet den Versuch, die Beziehungen zwischen Menschen zu ordnen. Damit aber diese Ordnung einigermaßen stabil sei, ist es vor allem notwendig, daß der Grundsatz 'nulla poena sine lege' - 'keine Strafe ohne Gesetz' - gewahrt bleibt. Die Nationalsozialisten haben das ganze abendländische Rechtsdenken durch nichts so sehr ins Wanken gebracht, wie durch ihren Versuch, diesen statischen Grundsatz durch ihre dynamische Forderung 'Recht ist, was dem deutschen Volke nützt', zu ersetzen. In Nürnberg nun hat man diese nationalsozialistische Forderung durch den Satz zu ersetzen versucht: 'Recht ist, was der Menschheit nützt', aber wenn man an die praktische Auslegung und Anwendung geht, sieht man doch, wie sehr auch die Anwendung dieses neuen Grundsatzes der Willkür Tür und Tor öffnet. Es ist darum sicher kein Zufall, daß es auf der Welt kaum einen Menschen gibt, den das Urteil von Nürnberg wirklich befriedigt." Schumacher behandelt dann gewisse Widersprüche in dem Urteil und fährt fort: "Woher kommen diese Widersprüche? Wohl daher, daß man in Nürnberg Inkommensurables1 mit einem einzigen Maßstab zu messen versucht hat, nämlich Politik mit den Maßstäben des Rechts. Politik beruft sich allerdings aus propagandistischen Gründen sehr gerne auf das Recht. Aber in der Wirklichkeit handelt sie kaum jemals danach."

Damit hat der Schweizer Schriftsteller den entscheidenden Punkt berührt, der der Justiz von Nürnberg entgegenzuhalten ist, die Verquickung von Politik und Recht, die ein anderes Schweizer Blatt, die Schweizer Illustrierte Zeitung, in anderem Zusammenhang, schon am 27. März 1946 als "die Krankheit unserer Zeit" bezeichnet hatte.

Den gleichen Gedanken hat François-Poncet bei seiner Aufnahme in die Französische Akademie zum Ausdruck gebracht, als er mit Rücksicht auf den Prozeß gegen den Marschall Pétain sagte: "Der Prozeß war ein politischer Prozeß. Das Urteil mußte politisch sein."

Ist das wirklich so und soll man sich damit abfinden? Muß es politische Urteile geben, d. h. Urteile, mit denen derjenige, der dieses Wort ausspricht, immer den Gedanken verbindet, daß es eigentlich keine Urteile, sondern nur politische Machtsprüche sind?

Oder sollte man nicht erkennen, daß es Zeit ist, Politik und Recht wieder reinlich voneinander zu scheiden? Politik und Recht haben in der Tat nichts miteinander zu tun. Sie sind heterogen. Wenn sich die Politik des Rechts bedient, geht das Recht zugrunde. "Politisch Lied, ein garstig Lied", sagt der Volksmund, und es heißt auch "Politik verdirbt den Charakter". Bei der politischen Justiz steht die Politik über dem Recht, das zur bloßen Prozeßform herabsinkt.2 Politische Justiz ist daher mit rechtsstaatlichem Denken unvereinbar. Hier geht es nur noch um Macht, um die Ausnutzung der Herrschaftsgewalt. Die Grundsätze, die Moral und Recht für die Beziehungen unter Einzelmenschen aufgestellt haben, lassen die Staaten für ihren Bereich nicht gelten. Hier herrscht der "sacro egoismo" - "krasse Egoismus". Der Erfolg gibt Recht. Machiavelli gilt immer noch als der Meister der politischen Kunst. Das bedeutet, daß in der Politik allein der Verstand zählt, die kalte Berechnung. Die Männer, die für den Staat handeln, begehen im Namen der Staatsräson Dinge, die sie im Privatleben nicht für erlaubt halten würden. Dieser Gedanke hat bei den verschiedenen Völkern die verschiedensten Formulierungen gefunden. Die Engländer sagen: Right or wrong, my country! - Recht oder Unrecht, es geht um mein Land! - und bei Hitler hieß es: Recht ist, was dem deutschen Volke nützt! Aber haben nicht die Römer schon an Ähnliches gedacht, wenn sie sagten: Salus publica suprema lex! - Das öffentliche Wohl ist oberstes Gesetz! - Man hat das alles unter dem Begriff der Staatsräson zusammengefaßt. Das kann zu Skrupellosigkeit und Willkür führen und schlimme Formen annehmen, wenn die Politik in die staatliche Rechtspflege eingreift.

Macht geht vor Recht! Wie oft ist dieses Problem behandelt worden! Wie oft hat man sich bemüht, die Macht des Staates mit der Gerechtigkeit in Einklang zu bringen. "Nicht der eigene Nutzen regiert Euch", so heißt es bei Schiller in Maria Stuart,3 "Euch regiert allein der Nutzen des Souveräns, des Landes. Eben darum mißtraut Euch, edler Lord, daß nicht der Nutzen des Staates Euch als Gerechtigkeit erscheine." Die Fritjof-Sage aber warnt: "Wenn Macht im Thing entscheidet, wird Unheil kommen."

Die Entartung der Justiz als Phänomen, die es immer gegeben hat, die aber im 19. Jahrhundert fast überwunden zu sein schien, zeigte sich in unserer Zeit wieder in bedenklicher Weise erst seit 1918 in allen Ländern unseres abendländischen Kulturkreises, die einst so stolz auf ihre Rechtspflege waren. Sie ist eine der Erscheinungen des Zersetzungsprozesses, der uns heute bedroht und als Untergang des Abendlandes hingestellt worden ist. Sie hat seitdem nicht nur den außenpolitischen Kampf der Völker des Abendlandes untereinander, sondern auch die Auseinandersetzung innerhalb der Nationen vergiftet. Sie zeigte sich in Deutschland in den Jahren 1925 bis 1930 in Skandalprozessen, wie im Sklarek-, Kutisker- und Barmatprozeß einerseits und den Femeprozessen andererseits, in Frankreich in ganz ähnlicher Form im Oustric- und Staviskyskandal und den Cagoulardprozessen - den Kapuzenmännerprozessen.

Der Pétainprozeß, der Prozeß gegen Laval und so viele andere waren politische Prozesse in Frankreich nach 1944. Aber hatte nicht Pétain selbst den gleichen Fehler begangen, als er 1942 den Riomprozeß gegen seine politischen Gegner Gamelin, Daladier und Léon Blum aufzog?

In Frankreich kann man eigentlich schon bis auf den Dreyfusprozeß zurückgehen. Das ist die Zersetzungserscheinung, auf die man das Wort angewandt hat, das der Senatspräsident Dr. Baumbach einmal zwischen den beiden Kriegen prägte: "Die Justiz ist zur Dirne der Politik geworden!" Die Politisierung der Justiz zeigte sich nicht nur bei uns. Sie ist eine Allgemeinerscheinung unserer Zeit, in der das Politische dominiert. Sie ist ein Produkt des Zeitalters der Propaganda, ein Zeichen für den Untergang einer Kultur, ein Zurücksinken in Barbarismus. Dieser Vorgang hat allerdings seine historischen Vorbilder. Es hat zu allen Zeiten politische Prozesse gegeben, die als Entartungserscheinungen angesehen wurden, Gerichtsverfahren, durch die die jeweiligen Machthaber politische Gegner in der öffentlichen Meinung herabzusetzen bestrebt waren oder von der einen oder anderen Seite bestimmte politische Ziele durchgesetzt werden sollten. Das war schon so im Altertum, bei den Griechen, bei den Römern, aber auch bei den Völkern, die ihre Nachfolge antraten.

"Was ist Wahrheit?", so hatte der Statthalter Roms in Israel, Pontius Pilatus, ausgerufen4 und, in seinem Gewissen bedrückt, seine Hände in Unschuld gewaschen. "Gegen den König der Juden!", so hieß der Prozeß, der am Anfang des christlichen Zeitalters stand. So war schon der Prozeß gegen Christus ein politischer Prozeß, eine Krankheitserscheinung des römischen Reiches. Denn bei diesem Prozeß ging es nicht nur um religiöse Dinge. Alle Symptome der politischen Prozesse von heute sind schon in dem Prozeß um Christus erkennbar - die Verfolgung eines Glaubens, einer Meinung in der Form eines Kriminalprozesses, die Denunziation an den Vertreter der Okkupationsmacht, der Vorwand, der Beschuldigte hätte gegen den Kaiser, d. h. die Staatsgewalt des Okkupanten, gehetzt und damit die Sicherheit der Besatzungsmächte gefährdet, worin man ein besonderes politisches Moment des Christusprozesses zu erblicken hat, die Gleichstellung des politisch-weltanschaulichen Gegners mit Verbrechern des gemeinen Rechtes, mit denen er gemeinsam hingerichtet wird, eine Gleichstellung, mit der die Diffamierung des Gegners bezweckt wird, die tatsächliche Schlechterstellung des politischen Gegners im Vergleich zum gemeinen Verbrecher, der nicht geschmäht, nicht geschlagen, nicht gegeißelt und nicht mit einer Dornenkrone versehen wird, und die Freigabe des Mörders Barrabas an Stelle des "Königs der Juden".

In dem Machtkampf des Hohepriesters einerseits und des Königs Herodes andererseits tritt der politische Hintergrund des Christusprozesses deutlich hervor.

Es war immer dasselbe. Man denke nur an die Hexenverbrennungen oder an die "Reunionskammern" Ludwigs XIV., durch die der Sonnenkönig, in der Form eines Gerichtsverfahrens, durch von ihm selbst eingesetzte Richter, sich formale Rechtstitel zur Eroberung deutscher Landesteile im Elsaß und in Lothringen geben ließ. Ein unnützes Bemühen, über das die Geschichte zur Tagesordnung geschritten ist, die einmütig die Raubkriege Ludwigs XIV. als Eroberungskriege verurteilt hat, wie überhaupt der Versuch, die Justiz zu politischen Zwecken zu mißbrauchen, sich immer noch gegen seine Urheber gewandt hat. Die öffentliche Meinung der Länder, in denen solche politische Prozesse veranstaltet wurden, hat dieses Vorgehen ständig abgelehnt. Die Opfer der politischen Justiz sind immer als Märtyrer gefeiert worden. Die Geschichte aber hat die Sieger, die den überwundenen Gegner diffamierten oder gar töteten, stets verurteilt. Sie hat es selbst dem großen Cäsar nicht verziehen, daß er Vercingetorix, den Führer der Gallier, in Rom enthaupten ließ. Das gleiche ist von der Hinrichtung des letzten Hohenstaufen Konradin durch den Sieger Karl von Anjou am 19. Oktober 1268 in Neapel zu sagen, nachdem man Konradin einen Prozeß wegen Frevels gegen die Kirche gemacht hatte, oder von der Verbrennung der Jungfrau von Orleans am 30. Mai 1431 nach einem Prozeß wegen Zauberei, in dem sie der abscheulichsten Dinge angeklagt war.

Politische Prozesse sind Marksteine der Geschichte. Sie geben ein Spiegelbild ihrer Zeit. Die Gerichte sind aber nicht dazu da, auch gar nicht in der Lage, Vorgänge der Geschichte an der Hand von Paragraphen zu richten, die für normale Zeiten und für kriminelle Tatbestände geschrieben wurden. Politische Prozesse sind gleichwohl nicht immer eine Krankheitserscheinung. Kein Staat, kein Regime kann sie entbehren. Politische Justiz ist eine unvermeidliche staatliche Funktion.5 Die politischen Prozesse sind daher nicht schon als solche zu beanstanden. Zu verurteilen ist nur der Mißbrauch, der mit ihnen getrieben wird. Hitler ist an der Übertreibung zugrunde gegangen. Er scheiterte, weil er nicht Maß zu halten verstand. Dieser Mangel an Maß ist aber ein Fehler, dem nicht nur Hitler verfiel. Er ist ein Charakteristikum unseres materiellen Zeitalters, das sich nicht nur bei uns, sondern auch bei unseren Gegnern gezeigt hat, als sie nach 1945 mit dem totalen Sieg auch die totale Verantwortung für das, was danach geschah, übernahmen. Man muß sich allerdings auch hier vor Verallgemeinerung hüten. Man sollte nicht aus jedem politisch Verurteilten einen Christus machen. Man darf auch im Kampf gegen Entartung und Übertreibung nicht selbst dem Fehler der Übertreibung zum Opfer fallen. Es wäre auch ein zu einfaches Verfahren, wollte man die eigenen politischen Prozesse immer für berechtigt halten, die von den Gegnern angestellten aber als Entartungserscheinungen brandmarken. Auch hier gilt der Satz: Peccatur intra et extra muros! - Es wird in und außerhalb der Stadt gesündigt!

Es ist deshalb schwer, die entartete politische Justiz von der berechtigten abzugrenzen. Dabei kommt es auf die gesetzlichen Bestimmungen, auf die die Strafverfolgung gestützt wird, nicht an. Im Gegenteil, die Verfolgung politischer Gegner wegen gemeinrechtlicher Delikte, wie Mord, Diebstahl, Untreue usw., ist als politische Justiz viel gebräuchlicher als die Verfolgung wegen rein politischer Vergehen wie Landes- und Hochverrat. Man nennt die Prozesse, die in der Form gewöhnlicher Strafprozesse geführt werden, in Wirklichkeit aber politische Prozesse sind, Prozesse mit politischem Hintergrund, weil der Anlaß zur Strafverfolgung politischer Art, die Form aber die eines gewöhnlichen Strafverfahrens des gemeinen Rechts ist. In diesen Prozessen geht es darum, daß eine bestimmte politische Einstellung nicht nur mißbilligt, sondern bestraft werden soll. Man greift deshalb meistens zu der Methode, daß ein strafbarer Tatbestand unterschoben oder aufgebauscht wird, um das sonst nicht zu begründende politische Urteil als Straftat hinstellen zu können.6 Die politische Natur dieser Prozesse wird von niemand heftiger bestritten als von denjenigen, die sie aus politischen Gründen aufgezogen haben.

Man kann daher diese Art von Prozessen auch "getarnte politische Prozesse" nennen.

Bei den politischen Prozessen, die einen Mißbrauch der Justiz darstellen, die man also bekämpfen muß, ist daher immer ein Doppeltes zu unterscheiden, der eigentliche politische Prozeß, um den es in Wirklichkeit geht, und der immer ein Machtakt gegenüber einem politischen Gegner ist, und der Tatbestand des Strafgesetzbuches, den die Urheber des Prozesses entlehnen, um dem Prozeß nach außen eine Rechtsform zu geben. Der eigentliche politische Prozeß entbehrt des konkreten Tatbestandes.7 Denn es darf im Rechtsstaat ja einen derartigen politischen Prozeß schon deshalb nicht geben, weil es sich in diesen Fällen immer um ein Meinungsdelikt handeln würde, die Verfolgung eines Meinungsdeliktes aber nicht zulässig ist. Der Tatbestand des wirklichen politischen Prozesses ist einfach und brutal. Er lautet: "Ich habe die Macht, du bist mein politischer Gegner. Du bist mir unbequem. Ich will dich vernichten." Alles andere ist juristische Form, ist Mißbrauch der Justiz zu politischen Zwecken.

Man spricht deshalb auch bei den politischen Prozessen, die wir als entartete Justiz ansehen, von einem vordergründigen und einem hintergründigen Tatbestand. Das gilt sowohl für die Fälle, bei denen der vordergründige Tatbestand ein echtes politisches Delikt im Sinne der §§ 80 ff. StGB ist, wie bei den Fällen, in denen der strafbare Tatbestand dem gemeinen Strafrecht entnommen ist. Politische Prozesse, die nicht zu beanstanden sind, haben keinen hintergründigen Tatbestand. Die Prozesse mit hintergründigem Tatbestand, das sind also die politischen Prozesse, die wir beanstanden, strömen immer eine besondere Atmosphäre aus. Der Verteidiger merkt das sogleich. Es ist etwas Geheimnisvolles, das diese Prozesse umgibt. Man spricht von Imponderabilien, von schwer zu beurteilenden Tatbeständen. Bisweilen redet man auch offen von Staatsräson und ähnlichen Dingen. Jedenfalls ist die Erörterung mit den Amtsstellen, auch den vordergründigen, bei diesen Prozessen immer delikater Natur. Man spürt das Besondere, bisweilen bemerkt man eine gewisse Verlegenheit, ein bezeichnendes Lächeln und Achselzucken.

Es ist für den Verteidiger meist sehr schwer, bis zu den politischen Stellen vorzudringen, die die Betreiber dieser Prozesse sind. Es ist noch schwerer, mit ihnen zu verhandeln. Man wird von diesen gewöhnlich an die Organe des vordergründigen Prozesses verwiesen. Man beteuert, daß die Politik mit dem Prozeß nichts zu tun habe.

Wie oft habe ich diese delikate Situation erlebt und mich dann immer wieder gefragt, wessen Rolle die beneidenswertere sei, die des Verteidigers, der gegen Windmühlen kämpft, oder die des Anklagevertreters im vordergründigen Prozeß, der weiß, daß nicht seine Arbeit und seine Ansicht entscheidend ist, sondern die politisch bestimmte Weisung, die er von oben erhalten wird!


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Anmerkungen

1Inkommensurables = Unmeßbares. ...zurück...

2Dombois, Staatsanwalt Dr. Hans, Politische Gerichtsbarkeit, mit einem Nachwort von Dr. Hermann Ehlers, Gütersloh 1951, S. 6. ...zurück...

31. Aufzug, 7. Auftritt. ...zurück...

4Matthäus 26, 47-68; 27, 1-44; Marcus 15, 1-32; Lucas 23, 1-24; Johannes 11, 46-57; 18, 33-40. ...zurück...

5Dombois (Anm. 2), S. 20. ...zurück...

6Dombois (Anm. 2), S. 8; Ehlers in Dombois (Anm. 2), S. 27. ...zurück...

7Dombois (Anm. 2), S. 8. ...zurück...


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