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Deutschland östlich der Elbe - Max Wocke

Einleitung

Das Norddeutsche Flachland ist ein Teil der großen osteuropäischen Tiefebene, die wie ein weit gespanntes Tuch sich ausbreitet und nach Westen bis zur Rheinmündung - von Meeren und Gebirgen bedrängt - immer schmäler wird. So mannigfaltig wie das Land dem Wasser in der Küste begegnet - bald sinkt es langsam zu ihm ab und läßt sich flach überspülen, bald bietet es ihm in steilen Kliffküsten die Stirn, bald duldet es in weiten Buchten das Eindringen des Meeres - genau so vielgestaltig treffen Gebirge und Tiefland aufeinander: bald steigen die Berge langsam aus der Ebene auf, bald stellen sie ihr eine hohe Mauer entgegen, bald lassen sie die Ebene in Becken und Kesseln in ihr Reich eindringen. Aber nicht nur dort, wo das Tiefland in Kampf und Gegensatz auf die fremden Welten des Wassers und der Berge trifft, entstehen mannigfaltige Bilder. Der ganze Raum zwischen Ostsee und Mittelgebirge, Elbe und Memel umschließt Landschaften von ausgeprägter Eigenart.

Ostelbien ist altes Germanenland, in das erst nach der Völkerwanderung slavische Stämme vorübergehend von Osten her eindrangen. Im frühen Mittelalter wurde es zurückgewonnen, fast ausschließlich in friedlicher Siedlung und nicht in kriegerischen Eroberungszügen. Besonders fest wurzelte das Deutschtum schon früh an der offenen Küste und in der fruchtbaren schlesischen Tieflandsbucht. In beiden Gebieten riefen slawische Fürsten die Deutschen ins Land. In der landeinwärts gelegenen Zone der Seen, Täler und Wälder geschah die Durchdringung nicht so planmäßig, und erst im 17. und 18. Jahrhundert wurde neues Blut zugeführt. Den drei Stammestümern westlich der Elbe stehen in Ostelbien vier gegenüber: Niedersachsen, Niederfranken, Thüringer und Ostfranken, durcheinandergewürfelt in allen Teilen. Dazu treten noch fünf fremde Volkstümer: Wenden, Kaschuben, Polen, Masuren und Litauer. Es sind Restvölker aus der Slawenzeit oder später nach der Niederlage des Ordens bei Tannenberg eingewandert. So hat der großräumige deutsche Osten zwar eine Kleinstaaterei nie gekannt, jedoch schon immer "Minderheiten", von denen sich große Teile in den denkwürdigen Abstimmungen nach Versailles zum Reich der Deutschen eindeutig bekannt haben.

Das Kolonisationsland östlich der Elbe hat eine Baukunst entwickelt, die ohne Vorbild und ohne Nachfolge einzigartig dasteht. In der Weiträumigkeit und Großflächigkeit dieser Landschaft, die auch keine Kleinstaaterei entstehen [208] ließ, können nur wuchtige Massen bestehen. Unter dem hohen Himmel kann nur ein großer ungeteilter Baukörper in die Ferne wirken, Wahrzeichen und Richtungspunkt für Schiffe und Wagenzüge sein. Das Mauerwerk der Kirchenleiber ist aus dem Backstein des heimatlichen Bodens zu gewaltigen Flächen gefügt. Nur sparsam tragen sie - eher Burgen als Kirchen - Schmuckwerk. Haushohe Lichttore klaffen in den kahlen Wänden, die Hallenräume von unfaßbarer Höhe und Tiefe umschließen. In der Errichtung dieser Bauwerke sind im Gegensatz zum Westen nur sehr wenige Kirchenfürsten beteiligt. Die Bürger der Städte und die Bauern des flachen Landes bauten aus eigenem Antriebe diese Denkmäler ihres Gottesglaubens in gemeinsamer Arbeit. Die oft stumpfen Glockentürme ragen aus dem wiedergewonnenen Lande wie Wachttürme oder Bergfriede auf, die grünen und roten Dächer leuchten zwischen Wäldern, Wiesen und Seen wie Schmuckstücke auf einem weiten Gewande.

Ostelbien ist noch heute menschenarmes Gebiet. Von Schlesien abgesehen, das eine Sonderstellung einnimmt, wohnen auf weiten Gebieten viel weniger als hundert Menschen auf dem Quadratkilometer, in abgelegenen Strichen mit kargem Boden nicht einmal fünfzig! Beinahe ein Drittel der Gesamtfläche des Reiches macht es aus, und nur ein Fünftel seiner Bürger wohnen in dem Lande, das zur Hälfte in Händen des Großgrundbesitzes ist. Wohl sind in der Nachkriegszeit mehrere Hunderttausende Deutsche im Osten angesiedelt worden, aber noch immer fehlt es Ostelbien an Menschen, dem "größten Reichtum eines Landes". Denn erst zur Zeit des Dritten Reiches ist die Abwanderung zum Stillstand gekommen. Fast die Hälfte oder mindestens ein Drittel der Bevölkerung ist in Land- und Forstwirtschaft tätig; im Reiche sind es viel weniger. So ist Ostelbien auch ein städtearmes Land: Von 55 Großstädten liegen nur sechs, von über hundert mit mehr als 50 000 Einwohnern noch nicht zwanzig östlich der Elbe. Wie ein Fremdkörper wirkt der größte Eisenbahnknotenpunkt Europas und die gewaltigste Fabrikstadt des Kontinents mit über vier Millionen Einwohnern im Lande der Wiesen, Wälder und Seen: Berlin.

Der ostelbische Bauer hat es weit schwerer als seine Brüder im Westen. Jahrelang sind die Worte "Ostnot" und "Osthilfe" in aller Munde gewesen. Heute ist vieles besser geworden, aber manches gilt noch und wird immer so bleiben. Denn die Ungunst der Lage und der Natur des Landes ist durch Menschenhand nicht zu bannen. Große Teile des Gebietes sind bis zur Hälfte mit Mooren, Seen und Heiden bedeckt. Die gelb leuchtenden Lupinenfelder sind die Wahrzeichen kargen Bodens. "Sieben Monate - so sagt der Volksmund - ist es Winter, und fünf Monate ist es kalt!" Viele Teile sind sehr weit von den Gebieten des Verbrauchs entfernt. Sehr niedrig ist der Grundsteuerreinertrag. Und dazu noch die Folgen des unmöglichen Friedensdiktates von Versailles: Beinahe siebzig Eisenbahnlinien zerschnitten, über hundert Kunststraßen, viele hundert Landstraßen und Tausende von Wegen. Mitten durch Städte, Dörfer und Gemeinden, durch Besitzungen, Höfe und Häuser, ja quer durch Fabriken, Bergwerke und Schächte wurde die Grenze gelegt. Zu einer Zeit, da der Staat für die Landwirtschaft so gut wie nichts [209-216=Fotos] [217] tat, nahmen Verschuldungen und Zwangsversteigerungen im Pommern und Ostpreußen ganz ungewöhnliche Ausmaße an. Seit 1933 ist hier großer Wandel geschaffen. Und der Einsatz in diesen Gebieten geht weiter: Wenn der Mensch auch nicht die Brandung des Meeres bezwingen, den Winter verkürzen, die Entfernungen verringern kann - etwas kann er doch: er kann neues Land gewinnen! Er kann Sümpfe trocken legen, Moore entwässern, Niederungsland eindämmen, Ödland aufforsten, deutsche Menschen ansiedeln! Ostelbien ist das Land der großen Aufgaben für den Arbeitsdienst. Heinrich der Löwe, Friedrich der Große und Adolf Hitler sind seine Kolonisatoren!

Ostdeutschland ist ein großes Naturgebiet. Die Werke des Menschen treten in den Hintergrund; der Boden, Pflanze und Tier bestimmen fast ausschließlich das Landschaftsbild. Es ist ein weiträumiges Land; nirgends ist es so gekammert wie Mittel- und Süddeutschland. Dort wurden durch gewaltige Kräfte aus dem Erdinneren vulkanische Massen emporgebracht, später von Wind und Wetter zerstört und abgetragen, dann wieder neu abgelagert und abermals durch die Kräfte der Tiefe geformt. Gewachsene harte Felsen richten eine steile Welt von Bergen und Kämmen auf, geschmückt mit Schlössern, bewehrt mit Burgen. So entstand dort eine große Anzahl von kleinen Räumen, ein vielgekammertes Land, das der deutschen Kleinstaaterei von früher entgegenkam. Die Silhouette erfaßt das Wesen dieser Gebirgslandschaften, in die sich nur selten ein See verirrt. In Ostelbien gibt es Kuppen, Hügel und Flußufer, aufgebaut aus Sand und Lehm - oft steil und schroff - aber keinen weißen oder roten Haustein für die Kathedralen. Wasser, Eis und Wind, diese drei zwischen der Luftschicht und der Erdkruste wirkenden Kräfte, haben Hügel und Täler, Nehrungen und Dünen, Heiden und Seen allein geschaffen. Hier wirkt das gewachsene Gestein einer Felseninsel oder eines Salzbergwerkes wie ein Sendbote aus einer anderen Welt. Hier sagt die Silhouette wenig, die Karte, der Plan, das Flugbild alles: Zwischen dem grünen Teppich weiter Wälder, dem braunen der Moore und dem bunten Schachbrett des Ackerlandes ruhen die Wasserspiegel von unzähligen Seen wie Symbole der absoluten Ebenheit! In großen Flächen legte die Natur dieses Land farbig an, und der Mensch folgte ihr in den Riesenschlägen der Rittergüter. Der Blick erfaßt nur einen schmalen Streifen wagerechter Linien, über den sich die große Glocke des Flachlandhimmels wölbt. Nur ab und zu steigen Senkrechte in die Höhe und schneiden den Horizont: Schornsteine der Gutsbrennereien und Ziegeleien, Windmühlenflügel, Brückenbogen, hohe Segel von Kähnen auf breiten Flüssen, wuchtige Kirchtürmer alter Städte. Aber sie ändern die Eigenart dieser Landschaft nicht. Sie betonen sie nur noch, sie sind wie ihr Akzent: Ihre Größe ist die Stille, die Weite, die Ruhe. Ihre Linien überschneiden sich fast unmerklich, ihre Farben sind unendlich fein abgestuft. Die Schönheit Ostdeutschlands ist eine andere als die des Westens und Südens. Sie drängt sich nicht auf, sie ist nicht schnell sichtbar, sie geht nicht so schnell ein. Sie verlangt liebevolles Versenken und stille Hingabe. Kaspar David Friedrich, Theodor Fontane, Ernst Wiechert sind ihre Meister und Künder.

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Das Buch der deutschen Heimat
Hermann Goern, Georg Hoeltje, Eberhard Lutze und Max Wocke