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[Bd. 8 S. 119]

4. Kapitel: Deutschlands Wille zu Frieden und Gleichberechtigung.

Adolf Hitlers
  europäische Friedenspolitik  

1.

Deutschland war aus dem Völkerbunde ausgeschieden, weil dieser in der Abrüstungsfrage endgültig versagt hatte und nicht in der Lage war, diese zu lösen. Mit diesem Schritte hatte der Führer seinen ehrlichen Friedenswillen bewiesen. Um die europäische Friedenspolitik tatkräftig zu fördern, schlug Adolf Hitler drei Dinge vor: erstens direkte Verhandlungen zwischen den Staaten (also Ausschaltung des Völkerbundes, der sich als nutzlos erwiesen hatte), zweitens Abschluß von Nichtangriffspakten und drittens eine maßvolle Erhöhung des deutschen Rüstungsstandes, so daß er wenigstens zu Verteidigungszwecken ausreiche.

Unmittelbar nach der Volksabstimmung des 12. November 1933 begann Adolf Hitler, diese Politik zu verwirklichen. Mitte November nahm er die bereits im Anfang des Monats eingeleiteten Verhandlungen mit Polen auf, deren Ziel der Abschluß eines Nichtangriffspaktes war. Es sollten die ewigen Streitpunkte wegen der Minderheitenfrage und der polnischen Grenzverletzungen aus der Welt geschafft werden. Am 26. Januar 1934 kam ein zehnjähriges Verständigungsabkommen zustande: beide Mächte gelobten, zur Festigung des Friedens von Europa und im Sinne des Kelloggpaktes (Pariser Pakt vom 27. August 1928) alle Streitfragen in unmittelbarer Verständigung zu lösen, von Staat zu Staat, "unter keinen Umständen Anwendung von Gewalt". Dieses Abkommen befriedete Deutschland nicht nur im Osten und durchbrach den eisernen Ring, den Frankreich nach Versailles um Deutschland gelegt hatte, sondern es bewies vor aller Welt den wirklichen Friedenswillen des Führers.

Die deutsch-polnischen Verhandlungen und noch mehr ihr günstiger Verlauf überraschten die Franzosen sehr unangenehm. Durch Hetzartikel, Verdächtigungen, Beschimp- [120] fungen versuchte die französische Presse täglich, wenn auch vergeblich, die neugeknüpften Beziehungen zwischen Deutschland und Polen zu stören oder gar zu zerreißen. Der Petit Parisien in Paris und Saturday Review in London brachten einen Aufsatz Mitte November, der angeblich vom Reichsminister Goebbels stammte und von deutschen Bündnisbestrebungen zum Zwecke der Gebietserweiterung und über deutsche Aufrüstungsabsichten handelte. Minister Goebbels stellte sofort durch die Botschafter in Paris und London fest, daß dieser Aufsatz eine grobe Fälschung sei und nicht von ihm stamme. Die Saturday Review erfüllte allerdings nicht den Wunsch des Ministers, der darum gebeten hatte, die Auflage mit dem gefälschtem Aufsatz nicht herauszugeben. In Paris ließen sich alsbald Beziehungen zwischen dem Blatte, das hetzerische und unwahre Artikel brachte, und kommunistischen Emigranten aus Deutschland feststellen. In Holland brachte der Verlag van Holkema en Warendorf in Amsterdam eine gemeine und skandalöse Hetzbroschüre marxistischer Betrüger heraus, die da behauptete, der Nationalsozialismus werde von der Schwerindustrie finanziert. – So wurde gegen Deutschlands ehrliche Absichten Stimmung gemacht!

Diese Lügenpropaganda erschwerte, daß der Wunsch des Kanzlers nach direkten, zweiseitigen Unterhandlungen reibungslos in Erfüllung ging. Aber Adolf Hitler bemühte sich, mit allen Mitteln die Atmosphäre des bösen Willens zu zerteilen. Ende November 1933 gewährte er dem Schriftleiter der Information, Fernand de Brinon, eine Unterredung: es war die erste Unterredung, die der Führer mit einem Franzosen hatte. Er betonte, daß zwischen Deutschland und Frankreich außer dem Saargebiet keine Territorialfrage bestehe, daß es in ganz Europa keinen einzigen Streitfall gebe, der einen Krieg rechtfertige. Krieg, das hieße den Sieg Asiens über Europa, den Sieg des Bolschewismus über die Kultur herbeiführen. Um dies zu vermeiden, müßten die Völker Europas Frieden halten. Er aber, Hitler, denke an die Zukunft, er habe dem deutschen Volke seine Ehre wiedergegeben, [121] er werde ihm seine Lebensfreude wiedergeben. Aber das deutsche Volk sei keine zweitrangige, sondern eine große Nation. Hitler erklärte, er würde alles tun für die französische Sicherheit, wenn es sich dabei nicht um eine Unehre oder Drohung für sein Volk handle. Allerdings nach Genf werde er nicht zurückkehren. Der Völkerbund sei ein internationales Parlament, worin die Mächtegruppen im Gegensatz zueinander stehen.

Die Veröffentlichung dieser Aussprache hinterließ im französischen Volke einen tiefen Eindruck. Insbesondere aus den Kreisen ehemaliger Kriegsteilnehmer erhielt de Brinon zahlreiche und aufrichtige Zustimmungen. Die Rüstungsindustrie fühlte sich schwer beunruhigt und führte im Petit Parisien einen neuen Gegenstoß der Verleumdung; man druckte ein angebliches deutsches Dokument ab, das da besagte, Deutschland sei aus dem Völkerbunde ausgetreten, um sich den militärischen Verpflichtungen des Versailler Vertrages zu entziehen, die Ablehnung ausländischer Rüstungskontrolle wirksam zu begründen und um neue Kriegsmittel, die nicht im Versailler Vertrag enthalten seien, leicht zu verbergen.

  Die Abrüstung  
Ende 1933

2.

Immerhin begann sich der Gedanke des Führers, die Meinungsverschiedenheiten in direkter Aussprache zu klären, durchzusetzen, und zwar wirkte er zunächst in England. Henderson, der Präsident der Abrüstungskonferenz, verhehlte sich nicht, daß die Konferenz am Ende war, besonders, da nach Deutschlands Ausscheiden auch Italien und Ungarn alle Anstalten zum Rückzug trafen. Er kündigte seinen Rücktritt an, verhehlte auch nicht seinen Unmut über das Verhalten Deutschlands. Es war ganz klar, und was alle dachten, faßte Premierminister Macdonald in Worte: eine Lösung der Schwierigkeiten sei nur mit Deutschland möglich, dazu sei ein direkter Meinungsaustausch nötig. Allerdings stellte er sich persönlich auf die Dezember-Erklärung der fünf Mächte, die seiner Ansicht nach nur eine "etappenweise" Herbeiführung [122] der Gleichberechtigung zusichere. Daneben aber bestand auch noch die Auffassung bei Simon, Henderson und Eden, denen Paul Boncour und der Russe Dowgalewski zustimmten, daß die Genfer Verhandlungen wiederbelebt werden müßten: man könne ja Deutschland einige Zugeständnisse machen. Übrigens wurde durch die neue Wendung, welche Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund und die Idee des Führers herbeigeführt hatten, die Gemeinschaft zwischen Frankreich und Rußland, die bereits durch den Abschluß eines Nichtangriffspaktes befestigt war, noch herzlicher.

Frankreich meinte zunächst, trotz der unliebsamen Überraschung, die ihm der 12. November gebracht hatte, daß der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund für die Weiterführung der Abrüstungsverhandlungen ohne Bedeutung sei. Die französische Regierung glaubte tatsächlich, daß eine Lösung der Schwierigkeiten auf diesem Gebiete ohne und gegen Deutschland allein im Bunde mit England und Italien möglich sei, etwa so im Stile der Jahre 1919–1925. Diese Auffassung spiegelt sich wider in einem Schriftstück, das der französische Außenminister am 15. November 1933 dem englischen Botschafter in Paris überreichte. Hierin vertrat Frankreich die Ansicht, daß der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund und das Ausscheiden aus der Abrüstungskonferenz die Mächte von der ihnen in Artikel 8 der Völkerbundssatzungen auferlegten Verpflichtung zur Verwirklichung eines Abkommens über die allgemeine Rüstungsbeschränkung nicht entbinde.

Ferner ist die französische Regierung der Auffassung, daß es zweckmäßiger wäre, ein umfassendes Abrüstungsabkommen anzustreben als lediglich eine gewisse Anzahl von Grundsätzen aufzuzählen. Außerdem erinnert die französische Regierung daran, daß ihre Vorschläge vom September ein Ganzes darstellten und eng verbunden seien mit der Annahme gewisser Grundsätze über die Kontrolle und über die Durchführungsgarantien sowie über die sogenannten Probezeiten. Der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund habe die Ansicht der französischen Regierung hierin nicht geändert. Wenn die englische Regierung der Ansicht sei, daß die bisherige [123] Formulierung der Probezeiten das hauptsächlichste Hindernis für eine Zustimmung Deutschlands darstellten, so sei die französische Regierung nicht abgeneigt, sich an der Ausarbeitung einer anderen Formel zu beteiligen. Vorausgesetzt, daß in beiden Fällen praktisch das gleiche Ergebnis erzielt würde. Frankreich erkannte bald, daß England und Italien anderer Meinung waren!

Man unterschied Ende 1931 in Europa drei politische Lager. Das erste war Deutschland, dessen politische Idee vom Führer formuliert worden war. Das zweite bestand aus England, Italien und, im Hintergrunde abwartend, Ungarn. Es wollte eine vermittelnde Haltung einnehmen. Das dritte Lager war das, in dem Frankreich, Rußland und die Kleine Entente standen: Hier wollte man nur Entscheidungen anerkennen, die der Völkerbund in Genf unter maßgeblich französisch-russischem Einfluß treffen würde.

England nahm seit je für sich die Rolle des europäischen Maklers in Anspruch, weil die ganze englische Weltpolitik empfindlich behindert wurde, sobald die politischen Energien Englands bis zu einem gewissen Grade durch kontinentale europäische Spannungen gebunden waren. Der Außenminister Sir John Simon, der zunächst noch an eine Aktion der Viermächte im Sinne von Mussolinis Viererpakt gedacht hatte, äußerte noch vor seiner Reise nach Rom seine Ansicht, indem er, bevor England als Schiedsrichter in Kraft trat, gleichsam als ein notwendiges Vorbereitungsstadium die vom Führer der Deutschen angeregten direkten Aussprachen befürwortete. Am 24. November erklärte er im Unterhaus: Die Vertagung der Abrüstungskonferenz bedeute nicht die Vertagung der Arbeiten für die Abrüstung. Die Zeit der Vertagung solle dazu benutzt werden, um durch direkten Meinungsaustausch die Grundlage der Konferenz wiederherzustellen, die zur Zeit durch Deutschlands Austritt so verhängnisvoll gestört worden sei. Dieser Meinungsaustausch könne auf diplomatischem Wege in der Form zweiseitiger Besprechungen stattfinden. England begrüße besonders die Friedensversicherungen, die Adolf Hitler gegeben habe. Deutschland sei bei den Verhandlungen Partner und man müsse seine Lage berücksichtigen.

[124] Also direkter Meinungsaustausch war jetzt die Losung, die auch Großbritannien ausgab. Tatsächlich hatte sich François Poncet am 23. November zum Führer begeben und dessen Anregungen in der Saarfrage (siehe nächstes Kapitel) und in der Abrüstungsfrage entgegengenommen. Er berichtete nach Paris, aber Herriot verhielt sich in ablehnendem Mißtrauen: für ihn war und blieb der Völkerbund das Sprachrohr der französischen Politik, eine deutsch-französische Verständigung, nun ja, er sei ja auch dafür, aber die Grundlage der französischen Politik bleibe nun einmal das beste Einvernehmen Frankreichs zu England, und Rußland. Mit einem Wort: Trotz hintröstender und beschwichtigender Äußerungen waren der französischen Regierung direkte Verhandlungen mit Deutschland unerwünscht, ebenso wie etwaige Vermittlungsversuche Englands, solche Verhandlungen in Gang zu bringen.

Am 7. Dezember tagte in Rom der Große Faschistische Rat. Er machte Italiens Verbleib im Völkerbunde von dessen tiefgreifender Reform abhängig; der Einfluß der kleinen Mächte sollte zurückgedrängt werden zugunsten eines Gremiums der europäischen Großmächte des Viererpaktes, wozu auch Rußland (Litwinow weilte in diesen Tagen in Rom), Japan und die Vereinigten Staaten herangezogen werden sollten.

Dies war wohl nächst dem Austritt Deutschlands der schwerste Stoß, den eine europäische Großmacht gegen den Völkerbund führte. Der französische Außenminister Paul Boncour betonte demgegenüber laut die Treue Frankreichs zum Völkerbunde; er sei der Ansicht, daß der Völkerbund bisher sehr glücklich den Grundsatz der Gleichberechtigung verwirklicht habe und dieser Grundsatz sei für Frankreich unantastbar. Frankreich werde sich jedem Versuch widersetzen, der irgendwelche Vorherrschaft im Völkerbunde errichten wolle. Benesch, dessen Land dem Völkerbunde allein Dasein und Bedeutung verdankte, erklärte auf einer Zusammenkunft mit Titulescu in Kaschau, Revision bedeute Krieg.

Es schien in diesen Tagen, da alle großen und kleinen Diplomaten auf Reisen gingen, als solle das ganze politische System Europas von Grund aus umgewälzt werden. Eine [125] Nervosität erfaßte alle großen und kleinen Mächte, die sich nicht vom Völkerbund trennen konnten. Am deutlichsten spiegelte sich diese Unsicherheit in England wider: sollte dennoch es die Vermittlung zwischen Deutschland und Frankreich übernehmen oder nicht? Hier entwickelte sich die eine Idee, Deutschland und Frankreich einen Nichtangriffspakt vorzuschlagen, jedoch sie wurde nicht ausgeführt. Eine andere, von Henderson ausgehende und umfassendere Ansicht war die, daß man in Paris und Berlin auf die Wiederbeteiligung Deutschlands an den offiziellen Abrüstungsverhandlungen hinwirken müsse, wobei vorausgesetzt werde, daß den deutschen Gleichberechtigungsansprüchen praktischer Ausdruck im Rahmen eines europäischen Sicherheitssystems verliehen werden müsse. Aber auch diese Auffassung setzte sich nicht durch, denn sie schloß in sich die Gefahr, daß England mehr als ihm lieb in die Verantwortung für die europäische Sicherheit hineingezogen wurde. Das war gerade in diesem Augenblick sehr stark zu befürchten, denn Frankreich plante, vor seinen Besprechungen mit Deutschland eine Einheitsfront mit der Kleinen Entente und England zu schaffen und hierbei von England größere Verpflichtungen für die militärische Sicherheit der französischen Ostgrenze zu verlangen. So blieb denn als alleiniges mageres Ergebnis, daß die englische Regierung wohl die gegenseitigen Besprechungen in Berlin, Paris und London fördern wolle und als seine schließliche Aufgabe betrachtete, später die Ergebnisse aufeinander abzustimmen. Also die ursprüngliche Simonsche Ansicht: Vorstadium der direkten Aussprache – Deutschlands Vorschlag, Hauptstadium der englischen Vermittlung – Englands Wille. –

Mittelpunkt allen europäischen Interesses war Berlin. Hier stattete Litwinow einen kurzen Besuch ab, dann aber, am 12. Dezember, weilte der italische Staatssekretär Suvich in Berlin. Sein Besuch, der nicht den Zweck hatte, eine gemeinsame deutsch-italische Politik festzulegen, sollte der Welt ein zu nichts verpflichtender Beweis der allgemeinen guten Beziehungen zwischen Deutschland und Italien sein.

  Die Deutschen Punktationen  
vom 18. Dezember 1933

Auf einer zweiten Zusammenkunft mit François Poncet überreichte der Führer am 18. Dezember eine Denkschrift für [126] die französische Regierung, worin er seine Auffassung über die deutsch-französischen Beziehungen niedergelegt hatte.

In diesen sogenannten deutschen Punktationen vom 18. Dezember 1933 bekennt sich die deutsche Regierung angesichts der Haltung der hochgerüsteten Mächte und vor allem Frankreichs zur Ansicht, daß zur Zeit mit einer ernsthaften Abrüstung nicht zu rechnen sei. Deshalb werde die deutsche Regierung nicht einer Illusion nachjagen, sondern feststellen, daß nur Deutschland die Abrüstungsverpflichtungen des Versailler Vertrages wirklich erfüllt habe, daß die hochgerüsteten Staaten nicht abrüsten wollen und daß Deutschland das Recht habe, die Gleichberechtigung hinsichtlich seiner eigenen Sicherheit zu verlangen. Falls wider Erwarten die andere Welt zu einer restlosen Abrüstung bereit wäre, so erkläre sich Deutschland von vornherein bereit, bis zur letzten Kanone und bis zum letzten Maschinengewehr abzurüsten.

Wenn Frankreich abrüsten wolle, so solle es Deutschland ein genaues Programm geben. Der Plan der deutschen Regierung lasse sich in folgenden sechs Punkten zusammenfassen:

1. Deutschland werde die vollständige Gleichberechtigung erlangen.

2. Die hochgerüsteten Staaten würden sich verpflichten, den gegenwärtigen Stand ihrer Rüstungen nicht zu überschreiten.

3. Deutschland werde diesem Abkommen beitreten und sich dabei freiwillig verpflichten, von der ihm bewilligten Gleichberechtigung einen nur so mäßigen Gebrauch zu machen, daß diese Gleichheit von keiner europäischen Macht als eine offensive Bedrohung aufgefaßt werden kann.

4. Alle Staaten erkennen gewisse Verpflichtungen hinsichtlich der Kriegsführung in einem Geiste der Menschlichkeit, sowie hinsichtlich der Nichtbenutzung gewisser Kriegswaffen gegen die Zivilbevölkerung an.

5. Alle Staaten nehmen eine einheitliche und allgemeine Kontrolle an, die die Beachtung dieser Verpflichtungen feststellen und garantieren soll.

6. Die europäischen Völker garantieren sich die bedingungslose Aufrechterhaltung des Friedens durch die Unterzeichnung [127] von Nichtangriffspakten, die nach einer Frist von 10 Jahren zu erneuern sind.

Dann folgen einige Bemerkungen zu den sechs Fragen des französischen Botschafters.

1. Die Anzahl von 300 000 Mann entspricht den Streitkräften des Heeres, dessen Deutschland in Anbetracht seiner Landesgrenzen und der Heeresbestände seiner Nachbarn bedarf.

2. Die Umwandlung der Reichswehr in ein kurzfristiges Heer von 300 000 Mann wird natürlich mehrere Jahre erfordern.

3. Die Anzahl der von Deutschland beanspruchten Verteidigungswaffen müßte der normalen Ausrüstung einer modernen Verteidigungsarmee mit diesen selben Waffen entsprechen.

4. Das Tempo für die Verwirklichung dieser Rüstung müßte notwendigerweise mit dem Tempo für die in Absatz 2 angegebene Umwandlung der Reichswehr Schritt halten.

5. Die deutsche Regierung ist bereit, einer allgemeinen und einheitlichen internationalen Kontrolle ihre Zustimmung zu erteilen, die periodisch und automatisch funktionieren würde.

6. Die Frage, zu welchem Zeitpunkt diese Kontrolle beginnen soll, wäre eine besondere Frage, die nicht vor der Erzielung einer Einigung über die grundlegenden Fragen entschieden werden kann. Des weiteren wird unter Nr.

7. der militärische Charakter der SA. und SS. durch Erläuterung ihrer wirklichen Beschaffenheit und Aufgabe widerlegt.

8. Die deutsche Regierung sei bereit, die Schaffung von gemeinschaftlichen Vorschriften für die politischen Vereinigungen und für die Organisationen zur militärischen Vorbereitung und Fortbildung in den verschiedenen Ländern zu prüfen.

9. Die Antwort auf die Frage der Kontrolle dieser Organisationen in den verschiedenen Ländern ergibt sich aus den Angaben, die am Ende von Absatz 7 über die SA. und SS. erteilt worden sind.

10. Der Inhalt der Nichtangriffspakte, welche die deutsche Regierung bereit ist, mit allen Nachbarstaaten Deutschlands [128] zu unterzeichnen, kann nach dem, was vor der Kriegszeit üblich war, aufgefaßt werden.

11. Die Frage, ob und in welchem Maße hinsichtlich der deutsch-französischen Beziehungen der Rheinlandpakt von Locarno von 1925 zu besonderen Erwägungen Anlaß gibt, ist ein juristisches und technisches Problem, das getrennten und späteren Verhandlungen vorbehalten werden kann.

12. Die deutsche Regierung ist jederzeit bereit, durch die am geeignetsten erscheinenden Mittel und auf gütlichem Wege die strittigen Fragen zu regeln, die sich zwischen Frankreich und Deutschland ergeben könnten.

Da in der französischen Presse die deutschen Forderungen entstellt wurden, begründete sie noch einmal in aller Öffentlichkeit der Völkische Beobachter: Das Reich verlange nur die Sicherheit, die auch andere Staaten für sich beanspruchen. Die deutschen Forderungen seien wirklich bescheiden, wenn man bedenke, daß die Heere Frankreichs, Polens, der Tschechoslowakei, Rumäniens und Südslawiens 13½ Millionen Mann betragen!

Die deutschen Vorschläge nahm die französische Regierung lediglich zur Kenntnis. Weil der Völkerbund von Deutschland und Italien zugleich in seiner jetzigen Gestalt abgelehnt wurde, darum drängte das argwöhnische Frankreich mehr denn je darauf, daß alle Dinge in Genf verhandelt werden sollten. Es war nicht willens, von sich aus zu verhandeln, weder über die Saar, noch über die Abrüstung. Der Abschluß eines deutsch-französischen Nichtangriffspaktes war ihm unwillkommener denn je. Die Presse kommentierte daher die deutschen Vorschläge wesentlich ungezwungener: "Unannehmbar!" Auch der englische Außenminister Simon, der sich zwar nicht eindeutig auf den deutschen Standpunkt stellte, auf Mehrmächteverhandlungen und schließliche Verlegung der Debatten nach Genf hoffte, wie das im Sinne einer englischen Vermittlungspolitik lag, jedoch am 22. Dezember auf seiner Durchreise in Paris ersuchte, die Regierung umzustimmen und sich den deutschen Gleichberechtigungsforderungen in der Abrüstungsfrage, dem deutschen Angebot auf Abschluß eines Nichtangriffspaktes und der Reform des Völker- [129] bundes geneigt zu zeigen, mußte unverrichteter Sache weiterreisen. Am 27. Dezember erklärte Ministerpräsident Chautemps:

      "Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, daß Frankreich, wenn es auch gern bereit ist, mit allen interessierten Staaten Besprechungen fortzusetzen, die Organisierung der allgemeinen Sicherheit auf dem Wege der Rüstungseinschränkung und im Rahmen des Völkerbundes sucht."

Es war gleichsam eine offene Demonstration gegen den englischen Vermittlungswillen und die deutsch-polnischen Nichtangriffspaktsverhandlungen, daß die französische Regierung sich Ende Dezember 1933 Sowjetrußland näherte mit der Absicht, den bereits bestehenden Nichtangriffspakt in ein regelrechtes militärisches und und politisches Bündnis umzuwandeln, ja bereits erwog, den Völkerbund durch Aufnahme Rußlands neu zu stärken.

Das Diplomatische Corps nach dem Neujahrsempfang beim Reichspräsidenten.
[Bd. 5 S. 240a]      Das Diplomatische Corps nach dem Neujahrsempfang beim Reichspräsidenten.
Photo Scherl.

Frankreichs
Aide-Mémoire
  vom 1. Januar 1934  

Am 1. Januar 1934 antwortete Frankreich dem Führer. Bei den Verhandlungen sei keineswegs etwa eine Aufrüstung Deutschlands beabsichtigt, sondern eine allgemeine Abrüstung im Rahmen der Genfer Vereinbarungen. Die allgemeine Sicherheit Europas könne nur durch Völkerbund und Rüstungsbeschränkung erreicht werden. Frankreich schlage vor, daß in einer ersten Periode von vier Jahren die Reichswehr auf 200 000 Mann mit kurzer Dienstzeit unter Einrechnung der Polizei erhöht würde, jedoch dürfen die für Deutschland verbotenen Waffen nicht angeschafft werden. Auch sollten in dieser ersten Periode die SA., SS. und der "Stahlhelm" erheblich vermindert werden. Da das neue Regime in Deutschland gefestigt sei, seien diese Organisationen entbehrlich und überflüssig und bereiteten dem Ausland durch ihr Dasein nur Sorge. Frankreich würde während dieser ersten Phase allmählich seine Territorialarmee verringern, aber das vorhandene Kriegsmaterial unvermindert behalten, die in der Konvention verbotenen Waffengattungen durch Neuanschaffungen lediglich nicht ergänzen. Wenn dies geschehen, dann beginne die zweite Periode, welche die völlige Gleichheit in der Abrüstung allmählich herstelle. Während der erste Vierjahresabschnitt die Angleichung aller europäischen Heere bei gleichzeitiger Einrichtung eines automatischen Kontrollsystems bringen sollte, war für den zweiten Vierjahresabschnitt die Angleichung aller [130] Kriegsmaterialien vorgesehen, wobei auch die durch die Friedensverträge entwaffneten Staaten allmählich alle in der Konvention zugelassenen Waffenarten anschaffen dürften. – Die Presse begleitete den Regierungsschritt mit der Drohung, Frankreich werde beim Völkerbundsrat eine Untersuchung der angeblichen deutschen Rüstungen beantragen, wenn dieser Plan fehlschlage.

Deutsche Antwort
  vom 19. Januar 1934  

Das war der neue Schachzug Frankreichs, von zwei Abrüstungsperioden zu reden, deren erste der von Deutschland so bekämpften "Probezeit" praktisch gleichkam. Darauf antwortete die Reichsregierung am 19. Januar:

Die deutsche Regierung begrüßt es, daß die französische Regierung die Anregung unmittelbarer diplomatischer Verhandlungen zwischen den beiden Regierungen über die zwischen ihren Ländern schwebenden Probleme aufgenommen und daß sie in der Abrüstungsfrage dargelegt hat, welche Stellung sie zu den vorangegangenen Erklärungen der deutschen Regierung einnimmt. Die deutsche Regierung hat die Ausführungen des französischen Aide-Mémoire hierüber unter dem Gesichtspunkt geprüft, ob und welche Möglichkeiten für die Verwirklichung des Gedankens der allgemeinen Abrüstung heute als gegeben erscheinen. Bevor sie auf die Kritik eingeht, die das französische Aide-Mémoire an dem deutschen Vorschlag zur Abrüstungsfrage übt, möchte sie sich zu dem Plane äußern, den die französische Regierung jenem Vorschlage gegenüberstellen zu sollen geglaubt hat. Die französische Regierung will die Geltungsdauer der abzuschließenden Abrüstungskonvention in zwei Phasen zerlegen. Während der ersten Phase würde Frankreich die Personalbestände seiner Armee allmählich herabsetzen, und zwar in der Weise, daß die Herabsetzung zeitlich nach Maßgabe der Umwandlung der deutschen Reichswehr erfolgt und daß dadurch schließlich zahlenmäßige Gleichheit zwischen den Personalbeständen der deutschen Armee und denjenigen der französischen Heimattruppe erzielt wird. Das vorhandene Kriegsmaterial Frankreichs zu Lande soll während der ersten Phase unvermindert beibehalten werden. Dagegen soll die Neuherstellung desjenigen Materials unterbleiben, das nach Kaliber oder Tonnage über die in der Konvention fest- [131] gesetzten Höchstgrenzen hinausgeht. Hinsichtlich der Militärflugzeuge wäre Frankreich zu einer Herabsetzung seiner Bestände um 50 v. H. unter der Bedingung bereit, daß die übrigen großen Luftflotten eine gleiche Herabsetzung erfahren und daß eine Kontrolle eingeführt wird. In der zweiten Phase würde mit der fortschreitenden Abschaffung des Kriegsmaterials zu Lande begonnen werden, das die festgesetzten Kaliber- und Tonnagegrenzen überschreitet. Ferner würde dann auch den durch die Friedensverträge entwaffneten Staaten die allmähliche Anschaffung der durch die Konvention zugelassenen Waffenarten gestattet werden.

Die französische Regierung ist der Ansicht, daß ein solches Programm die beste Aussicht eröffne, die Welt im Interesse der Sicherung des Friedens und des Wiederaufbaues der Wirtschaft von einer schweren Belastung zu befreien. Um hierüber Klarheit zu gewinnen, wird es notwendig sein, sich konkret die Lage zu vergegenwärtigen, die geschaffen würde, wenn es zu einer Konvention auf der Grundlage des französischen Planes käme. Auf dem wichtigen Gebiet des Kriegsmaterials würde die Abrüstung um mehrere Jahre hinausgeschoben. Während dieser Zeit würden die hochgerüsteten Staaten ihr gesamtes schweres Landmaterial unvermindert behalten. Deutschland würde seinerseits auf die im Versailler Vertrag vorgesehenen, völlig unzureichenden Waffenarten beschränkt bleiben, hätte aber während dieser Periode gleichwohl die Umbildung der Reichswehr vorzunehmen. Hinsichtlich der Luftstreitkräfte stellt sich für Deutschland die Frage, ob es für die erste Phase und sogar für die zweite Phase der Konvention dabei bleiben soll, daß es keinerlei militärische Luftfahrt besitzt. Falls diese Frage nach dem französischen Plan zu bejahen wäre, würde auch die vorgeschlagene Herabsetzung der Luftstreitkräfte der anderen Staaten an dem Zustand der radikalen Ungleichheit und der völligen Wehrlosigkeit Deutschlands in der Luft praktisch nichts ändern. Die in dem Aide-Mémoire für die zweite Phase vorgesehene Regelung würde aber auch noch eine andere wichtige Frage aufwerfen. Sind die Ausführungen des Aide-Mémoire über die Kontrolle etwa dahin zu verstehen, daß das ganze Regime der zweiten Phase [132] von den Erfahrungen während der ersten Phase abhängig gemacht werden soll? Wenn das die Absicht wäre, so würde die Durchführung der allgemeinen Abrüstung auch für die zweite Phase mit einem gefährlichen Unsicherheitsfaktor belastet werden.

Wenn man sich die Hauptpunkte des französischen Planes und seine Folgen vergegenwärtigt, erheben sich ernste Zweifel darüber, ob auf diesem Wege eine Regelung des Abrüstungsproblems gefunden werden kann. Wenn der Vorschlag der deutschen Regierung dahinging, eine schnelle Regelung auf der Grundlage einer Limitierung der Rüstungen der hochgerüsteten Staaten auf ihren jetzigen Rüstungsstand zu suchen, so ist dies geschehen, weil der Verlauf der Verhandlungen klar gezeigt hat, daß die hochgerüsteten Mächte gegenwärtig zu einer Abrüstung nicht bereit sind. Selbstverständlich ist es nicht Sinn des deutschen Vorschlages, jetzt einzelne Abrüstungsmaßnahmen beiseitezuschieben. Im Gegenteil ist der deutschen Regierung nichts erwünschter, als wenn möglichst weitgehende Rüstungsbeschränkungen festgesetzt werden. Diese werden jedoch, wie sich die Sachlage der deutschen Regierung darstellt, keinesfalls ein Ausmaß erreichen, daß damit die Gleichberechtigung Deutschlands verwirklicht wäre. Sieht man dieser Realität ins Auge, dann bietet sich kein anderer Ausweg, als die Abrüstungsmaßnahmen, über die eine Einigung möglich ist, festzulegen, im übrigen aber die Rüstungen der hochgerüsteten Staaten auf den gegenwärtigen Stand zu begrenzen und die Gleichberechtigung Deutschlands durch eine Anpassung seiner Rüstungen an das Rüstungsniveau der anderen Länder zu verwirklichen.

Es ist nicht abzusehen, inwiefern die Durchführung des deutschen Vorschlages ein Wettrüsten zur Folge haben könnte. Ebensowenig kann die deutsche Regierung den Einwand anerkennen, daß die Ziffer von 300 000 Mann für die deutsche Verteidigungsarmee zu hoch gegriffen sei. Den ausgebildeten Reserven der anderen Länder hat Deutschland einen vergleichbaren Faktor nicht gegenüberzustellen. Insbesondere ist es unmöglich, die in Deutschland bestehenden politischen Organisationen mit den militärischen Reserven anderer Länder auf [133] eine Stufe zu stellen. Es ist wiederholt dargelegt worden, daß die SA.- und SS.-Formationen keinen militärischen Charakter haben. Was die Frage der Polizei anlangt, so wird sich eine Verständigung darüber unschwer erzielen lassen. Schließlich hat die französische Regierung selbst die Auffassung vertreten, daß der militärische Wert kurzdienender Soldaten erheblich geringer zu veranschlagen ist als derjenige von Berufssoldaten. Auch unter diesem Gesichtspunkte wäre es verfehlt, in der Ziffer von 300 000 Mann eine Erhöhung der Wehrkraft Deutschlands sehen zu wollen. –

Die Ausführungen zeigen, daß die Hauptpunkte, in denen die Ansichten der beiden Regierungen hinsichtlich des Abrüstungsproblems noch auseinandergehen, die Frage der Berechnung der Personalstärken und die Frage des Zeitpunktes der Ausstattung der künftigen deutschen Armee mit Verteidigungswaffen sind. Die französische Regierung kann nicht verkennen, daß das, was die deutsche Regierung in dieser Beziehung fordern zu müssen glaubt, weit hinter dem zurückbleibt, was Deutschland bei wirklich vollständiger Durchführung der Gleichberechtigung zuzubilligen wäre. Die deutsche Regierung hofft deshalb, daß sich die französische Regierung dem deutschen Standpunkt nicht verschließen und den Weg zu der von Deutschland dringend gewünschten Verständigung finden wird. Daß Deutschland zur internationalen Zusammenarbeit bereit ist, ergibt sich aus seinem Angebot des Abschlusses von Nichtangriffspakten. Das Gebot des Augenblicks ist die Regelung der Abrüstungsfrage, deren Gelingen den Weg für die Lösung der anderen offenen politischen Probleme freimachen wird. –

Am Schlusse der deutschen Antwort wurden dann einige Fragen an Frankreich gestellt, die die wesentlichsten deutschen Gedanken zu einer tatsächlichen Abrüstung und Befriedung der Welt widerspiegelten:

1. Auf welche Höchststärke sollen die gesamten französischen Personalbestände in Heimat und Übersee herabgesetzt werden?

2. In welcher Weise sollen die Überseetruppen und die Reserven Frankreichs in Rechnung gestellt werden?

3. Ist Frankreich bereit, falls die Umwandlung der Heere in Ver- [134] teidigungsheere mit kurzer Dienstzeit sich nicht auf die im Heimat wie im Überseegebiet stehenden Überseestreitkräfte erstreckt, eine Verpflichtung zu übernehmen, Überseetruppen in Kriegs- und Friedenszeiten im Heimatgebiet weder zu stationieren noch zu verwenden?

4. Was soll mit den das Kaliber von 15 Zentimeter überschreitenden Geschützen der beweglichen Artillerie geschehen?

5. Welche Höchsttonnage soll für Tanks vorgesehen werden, und was soll mit den diese Höchsttonnage überschreitenden Tanks geschehen?

6. Denkt die französische Regierung für alle Länder an eine zahlenmäßige Beschränkung einzelner Waffengattungen?

7. Mit welchem Material sollen die französischen Truppen, die der Vereinheitlichung der Heere unterworfen werden, ausgerüstet werden?

8. Binnen welcher Frist würde die Herabsetzung der im Dienst befindlichen Flugzeuge um 50 v. H. durchgeführt werden?

9. Worauf soll sich die Kontrolle der Zivilluftfahrt und der Flugzeugherstellung erstrecken?

10. Soll die allgemeine Abschaffung der Militärluftfahrt für einen bestimmten Zeitpunkt endgültig festgelegt werden?

11. Soll das Bombenabwurfverbot allgemein und absolut sein, oder welchen Einschränkungen soll es unterworfen werden?

12. Sind die Ausführungen des Aide-Mémoire über die Kontrolle des Kriegsmaterials so zu verstehen, daß Frankreich für sich nur die Kontrolle der Fabrikation und der Einfuhr anzunehmen bereit ist, oder soll sich diese Kontrolle auch auf die Bestände an im Dienst befindlichen und lagernden Material erstrecen?

13. Welche Stellung nimmt die französische Regierung hinsichtlich der Rüstungen zur See ein?

  Simon bei Mussolini  

Nun war inzwischen Anfang Januar 1934 der englische Außenminister Simon bei Mussolini in Rom gewesen. Einig waren beide Staatsminister in drei Punkten: Die direkte deutsch-französische Auseinandersetzung werde zu keinem Ziele führen, ein beginnendes Wettrüsten müsse verhindert werden, England und Italien müßten zusammenarbeiten und den Völkerbund wieder beleben. Mussolini meinte, eine weitgehende und wirksame Abrüstung sei nicht zu erreichen, dahingehende Forderungen Deutschlands seien unerfüllbar, es wäre besser, wenn Deutschland etwas Spielraum gegeben [135] werde, um dadurch künftige übertriebene Forderungen zu verhindern; die sogenannte schrittweise Abrüstung in Perioden müsse abgelehnt werden; die Völkerbundsreform müsse unter drei Gesichtspunkten erfolgen: Lösung der Völkerbundssatzung von den Friedensverträgen, Beseitigung der Sanktionsverpflichtung, Abänderung der Rechtsstellung der verschiedenen Mitgliedstaaten entsprechend der Last ihrer Verantwortlichkeiten. Bezüglich dieses letzten Punktes war es Mussolinis Ziel, seinem Lieblingsgedanken vom Vier-Mächtegremium zu verwirklichen, zu dem in erweiterter Form sich ja auch der Große Faschistische Rat Anfang Dezember bekannt hatte und gegen den Frankreich und seine Trabanten scharf Stellung nahmen.

Der Engländer stimmte dem Duce darin bei, daß die Rüstungsverhandlungen möglichst schnell und erfolgreich weitergeführt werden sollten, daß Frankreichs Vorschlag einer vierjährigen "Probezeit" undurchführbar sei, während er hinsichtlich der Völkerbundsreform eine gewisse Zurückhaltung zeigte. Für ihn war die Völkerbundsreform eine Frage zweiter Ordnung, auch kam sie für ihn nur insoweit in Frage, als sie den bestehenden Zustand stärken, nicht schwächen wolle. Simon faßte die Ausführungen Mussolinis nicht etwa als einen eigentlichen Reformplan auf, sondern lediglich als eine Richtlinie, in der nach Ansicht des Duce eine Reform durchgeführt werden könne. Im Grunde nämlich gingen in dieser Beziehung die Ansichten Englands und Italiens auseinander: England beanspruchte für sich die Rolle des alleinigen Vermittlers und Schiedsrichters über die großen europäischen Streitfragen innerhalb des Völkerbundes, weil dieser den Engländern jederzeit eine zentrale Kontrolle über die europäische Politik ermöglichte, während Italien glaubte, die großen Streitfragen Europas müßten von den vier Großmächten gemeinsam gelöst werden. Es war für beide Staaten ihr Standpunkt eine Frage der Ehre und des Ansehens. Simon unterstrich seine Auffassung durch die überraschende Tatsache, daß er vor seiner Abreise aus Rom den französischen Botschafter am Quirinal persönlich von seiner Unterredung mit dem Duce unterrichtete.

Nach Simons Rückkehr wurde in London stark an Vor- [136] schlägen zur Abrüstung gearbeitet, die das Ziel hatten, Deutschland durch Zugeständnisse wieder in die Abrüstungskonferenz und in den Völkerbund zu bringen. Dabei spielte auch eine italische Anregung eine Rolle: es sei unmöglich, zu einem umfassenden Abrüstungsabkommen zu gelangen, deswegen werde vorgeschlagen, durch Beibehaltung gewisser Typen der Angriffswaffen eine vorläufiges Abkommen zu treffen. Neue Arbeiten kündigten sich an, so daß sich Henderson entschloß, den Termin des Wiederzusammentritts der Abrüstungskonferenz vom 21. Januar, wie vorgesehen, auf einen späteren Tag zu verschieben. Man wollte Deutschland genügend Zeit lassen, sich auf die französische Denkschrift zu äußern, man wollte erst die Ankunft des Amerikaners Norman Davis abwarten, man wollte das italische Memorandum, das Simon mitgebracht hatte, gründlich studieren, Henderson wollte die Möglichkeit haben, mit den europäischen Regierungen in Verbindung zu treten.

Inzwischen traf die bereits oben mitgeteilte Antwort des Führers in Paris ein. Für Frankreich waren die Ausführungen Adolf Hitlers undiskutierbar. In England aber formte sich der Plan einer Vermittlung auf der Basis von drei Punkten:

1. Die Probezeit wird abgelehnt, das wichtigste Ziel ist die Erreichung einer Rüstungsbeschränkung auf der Grundlage der Gleichheit.

2. Die einzige praktische Grundlage für eine Begrenzung der Luftmacht sei die eines "Einmachtstandards". Auf dieser Grundlage kann Deutschland leicht die Entschließung für das Verbot des Bombenabwurfs annehmen; die Begrenzung würde nur für Militärflugzeuge gelten.

3. Die Möglichkeit einer internationalen Luftpolizeimacht solle zwar erörtert, die Wichtigkeit dieser Frage aber der sofortigen Festlegung der nationalen Streitkräfte auf einen vereinbarten Stand nachgestellt werden. Der praktische Wert einer solchen internationalen Luftmacht ist, wie England meint, schwer festzustellen.

Die Franzosen standen der englischen Vermittlungsabsicht sehr ablehnend gegenüber. Sie wollten gar keine weiteren direkten Aussprachen, sie wollten nach wie vor, wie es in der Entschließung Bérenger vom 18. Januar hieß, ihr "Friedens- [137] werk im Rahmen des Völkerbundes fortsetzen, um ihre internationalen Freundschaften zu stärken und ihre nationale Verteidigung zu sichern, sowie die Sicherheit Frankreichs zu festigen". Von diesem Standpunkte aus mußte ihnen jede englische Vermittlung als Quertreiberei erscheinen.

  Englands Vermittlung  
vom 29. Januar 1934

3.

Am 29. Januar wurde dem Reichskanzler durch den englischen Botschafter Sir Eric Phipps das vermittelnde englische Abrüstungsmemorandum in Abänderung des vorjährigen Macdonaldplanes überreicht. Es ging aus von dem Satze, daß Gleichberechtigung in der Rüstungsfrage nicht weniger wichtig sei als der Grundsatz der Sicherheit. Er unterstrich die Bereitwilligkeit des Kanzlers zum Abschluß von Nichtangriffspakten, denn sie sei eine Stärkung für Frieden und Sicherheit. Der Anspruch Deutschlands auf den sofortigen Besitz aller Defensivwaffen wie die Ablehnung der "Probezeit" wurden anerkannt. Eine Heeresstärke von 300 000, statt 200 000, und eine Dienstzeit von 12 statt 8 Monaten wurden zugestanden. Deutschland solle 15,5 cm-Geschütze und Kampfwagen bis zu 6 t besitzen dürfen, die anderen Staaten sollten innerhalb 5 Jahren alle Tanks über 16 t und innerhalb 7 Jahren alle Geschütze, die ein größeres Kaliber als 15,5 cm hätten, zerstören. Wenn innerhalb von 2 Jahren die Abschaffung der Luftwaffe noch nicht beschlossen sei, sollten alle Länder das Recht auf Militärluftfahrt besitzen. Mit Befriedigung nahm England Kenntnis von Hitlers Bereitwilligkeit, die SA. und SS. zu verringern, forderte aber, daß das Verbot der sogenannten "militärähnlichen Ausbildung" genau kontrolliert werde. – Zur Gleichberechtigung erklärte die Note:

      "Die Fünfmächteerklärung vom 11. Dezember 1932 hat im Zusammenhang mit der Abrüstungsfrage den Grundsatz der 'Gleichberechtigung in einem System der Sicherheit für alle Nationen' aufgestellt und erklärt, daß dieser Grundsatz in einem Abrüstungsabkommen Verwirklichung finden soll, das [138] eine wesentliche Herabsetzung und Begrenzung der Rüstungen herbeiführt. Von dieser Erklärung ist die englische Regierung niemals zurückgetreten und bestätigt jetzt aufs neue, daß sie an ihr uneingeschränkt festhält. Die englische Regierung zögert nicht, zu erklären, daß der Grundsatz der Gleichberechtigung in der Rüstungsfrage nicht weniger wesentlich ist als der Grundsatz der Sicherheit. Die englische Regierung entnimmt mit Freude aus den Erklärungen des Reichskanzlers Hitler, daß Deutschland darauf verzichtet, den Besitz von 'Angriffswaffen' zu beanspruchen, und sich auf eine normale 'Verteidigungsbewaffnung' beschränkt, wie sie für die Armee benötigt wird, die in dem Abkommen für Deutschland vorgesehen würde. Überdies macht der deutsche Kanzler diesen Vorschlag in der Annahme, daß die schwer gerüsteten Staaten nicht bereit sind, auf Grund des Abkommens irgendeinen Teil ihrer jetzt bestehenden Waffen aufzugeben."

Im Unterhaus gab Simon am 29. Januar von dieser Denkschrift Kenntnis. Er erklärte zum Schluß: Die englische Regierung sei der Ansicht, daß irgendwelche mit der Völkerbundsreform in Verbindung stehende Fragen hinter der unmittelbaren und wichtigeren Frage der Abrüstung stehen und auf diese folgen müßten. – Die Abrüstungsdenkschrift wurde auch in Paris und Rom überreicht. Sofort regte sich in Frankreich der Widerspruch, und der englische Außenminister mußte durch seine Unterhausrede vom 6. Februar die Unbelehrbaren belehren: Man könne und dürfe sich Deutschlands Anspruch auf Gleichberechtigung in der Rüstung nicht widersetzen, weil wenig Wahrscheinlichkeit auf Frieden in der Welt bestehe, wenn man versuche, ein großes Land und eine große Rasse unter eine minderwertige Jurisdiktion zu setzen. Jedes Abrüstungsabkommen bedeute in gewissem Sinne eine Wiederaufrüstung Deutschlands, aber Großbritannien wünsche keine Regelung, welche die Gleichberechtigung ohne irgendwelche Abrüstung in irgendeinem Teile der Welt vorsehe. Der Minister wies auf den wahren Friedenswillen Adolf Hitlers hin, der sich in dem soeben zustande gekommenen Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und Polen zeige.

Dieser englische Vorschlag, der übrigens nicht nur in Berlin, [139] Paris und Rom, sondern auch in Washington, Warschau, Prag und Brüssel überreicht wurde, war ein Kompromiß im alten Stile, wie man es seit Jahren immer wieder erlebt hatte: man gießt Weiß und Schwarz zusammen und erhält dann Grau.

Amerikas Antwort
  vom 9. Februar 1934  

Die Regierung der Vereinigten Staaten stimmte mit ihrer Antwort vom 19. Februar in vielen Punkten den englischen Anregungen zu, in anderen Punkten meinte sie, daß die englischen Vorschläge hinsichtlich der tatsächlichen Abrüstung nicht soweit gingen, wie es Roosevelt gewünscht hätte. – Roosevelt hatte am 28. Dezember 1933 seine Friedensverträge [Scriptorium merkt an: Friedensvorschläge?] in folgende drei Punkte gegliedert:

1. progressive Beseitigung aller Angriffswaffen, wobei jedes Land das Recht der Grenzbefestigung mit unbeweglichen Verteidigungswerken behalten soll;

2. das Versprechen jeden Landes, seiner bewaffneten Macht den Eintritt in ein anderes Land zu verwehren, und

3. ein Abkommen, durch das sich jeder Staat verpflichtet, das obige Abrüstungsprogramm zu befolgen. Dieses Nichtangriffsabkommen der Welt soll in Kraft treten, wenn es von allen Staaten unterzeichnet sei. Doch sei anzuerkennen, daß die britische Regierung der tatsächlichen Lage in Europa Rechnung tragen wolle. Die Vereinigten Staaten hätten selbstverständlich kein Interesse daran, Deutschland wehrlos zu erhalten. Sollte sich eine Lösung finden, die Deutschlands Wünsche auf einen angemessenen Ausbau seiner Landverteidigung erfülle und gleichzeitig Frankreich veranlasse, seine Rüstungen nicht zu vergrößern, so würden die Vereinigten Staaten das nicht als Aufrüstung Deutschlands auffassen.

Im übrigen habe Amerika nicht die Absicht, sich in das europäische Problem der deutsch-französischen Auseinandersetzung einzumischen, bevor bei den hochgerüsteten Staaten ein ernster Abrüstungswille zu erkennen sei. Erst der Beweis dieses Willens würde Amerika veranlassen, sich für die weiteren Abrüstungsverhandlungen zu interessieren. Nichtsdestoweniger wiederhole die Regierung der Vereinigten Staaten den Wunsch, daß sämtliche Staaten einen Welt-Nichtangriffspakt abschließen möchten. – Grundsätzlich also stimmte die amerikanische Regierung mit den britischen Vorschlägen überein.

  Der italische Vorschlag  

Von wesentlich anderer Art als der englische war der [140] italische Vorschlag zum Rüstungsstreit, der zur gleichen Zeit Anfang Februar in Berlin, Paris und London bekanntgegeben wurde. Mussolini sagte: In der Abrüstungsfrage sei keine Zeit mehr zu verlieren, wenn nicht Europa in feindliche Mächtegruppen zerfallen und ein Rüstungswettlauf eintreten solle. Komme es dahin, daß die vertraglich zugestandene Gleichberechtigung sich außerhalb der getroffenen Übereinkommen vollziehe, dann stehe man vor der Notwendigkeit, Sanktionen anzuwenden, um den Verstoß gegen die Verträge zu unterdrücken. Deutschland sei die Gleichberechtigung zugestanden. Die Unmöglichkeit, daß die hochgerüsteten Mächte sofort auf den der deutschen Abrüstung entsprechenden Rüstungszustand zurückgingen, verleihe den deutschen Forderungen eine juristisch-moralische Kraft, deren Vorhandensein nicht wegzuleugnen sei. Die italische Regierung könne nicht umhin, den Friedenserklärungen des Präsidenten Hindenburg und des Reichskanzlers Hitler die größte Beachtung zu schenken. Man müsse zugeben, daß die Erklärungen des deutschen Regierungschefs ein sicherer Unterpfand dafür seien, daß klare und freiwillig angenommene Abkommen nicht nur nicht gebrochen, sondern nicht einmal für die Dauer ihrer Geltung durch weitergehende und auf Abänderung zielende Forderungen diplomatisch verfälscht würden.

Die italische Regierung glaube, daß folgendes Abkommen im Rahmen des Möglichen liege:

Es könne gelten bis zum 31. Dezember 1940 und müßte folgende Verpflichtungen enthalten:

1. Abschaffung des chemischen Krieges mit Kontrolle über Vorbereitungen und Ausbildung.

2. Verbot des Bombenabwurfs auf Zivilbevölkerung, wobei zu bemerken ist, daß auf dem Gebiete der Abschaffung des Luftbombardements noch radikalere Maßnahmen erreicht werden können. Diese Maßnahmen würden die Lösung der Frage der deutschen Gleichberechtigung in der Luft sehr erleichtern.

3. Beschränkung der Militärausgaben der durch die Friedensverträge nicht beschränkten Mächte auf ihren gegenwärtigen Stand.

4. Beschränkung des Heeresmaterials der gleichen Mächte auf den gegenwärtigen Stand.

6. [sic] Was die [141] Effektivstärken betrifft, so geht die deutsche Forderung nach 300 000 Mann von der Tatsache aus, daß die bewaffneten Mächte ihre Effektivstärken nicht auf die Ziffern des Macdonald-Planes heruntersetzen, sondern die augenblicklichen Ziffern beibehalten. Wenn die Herabsetzung in die Praxis folgen wird, erklärt sich Deutschland bereit, über die obengenannte Ziffer mit sich reden zu lassen.
      Bei dieser Lage zweifelt die italische Regierung, wenn sie die augenblicklichen Effektivstärken, zum Beispiel Frankreichs, Polens und der Tschechoslowakei betrachtet, ernstlich daran, ob man mit Recht die Behauptung aufstellen kann, daß die im Macdonald-Plan angedeuteten Verhältnisse in den deutschen Vorschlägen zugunsten Deutschlands verändert worden seien. Das Problem der Herabsetzung und gegenseitigen Abwägung der Effektivstärken ist so kompliziert und wirft so viel Fragen auf, daß dadurch der Abschluß eines Abkommens in Frage gestellt würde. Es ist deshalb besser, auf der Basis des Status quo und der von den deutschen Vorschlägen angebotenen Beschränkung zu verhandeln. Während es schwer zu sein scheint, den deutschen Forderungen in bezug auf defensive Rüstung (15-Zentimeter-Geschütze, Flugabwehrgeschütze, Panzerwagen zu 6 t, Erkundigungs- und Jagdflugzeuge) grundsätzlich die Zustimmung zu versagen, so können die Grenzen und die Verhältnisse zwischen Defensivwaffen und Effektivstärken noch Gegenstand der Diskussion bilden.

7. Für die Seerüstungen müßte eine Revision zur nächsten Seekonferenz erfolgen.

8. Den hier vorgesehenen Zugeständnissen gegenüber würde Frankreich einen sofortigen und wirksamen Gegenwert erhalten in der Aufrechterhaltung seiner Gesamtrüstung.

9. Was die Sicherheit durch die Verträge betrifft, so ist es überflüssig, an den Pakt von Rom und an den Pakt von Locarno zu erinnern. Der Viererpakt erhält seinen Wert durch die in ihm vorgesehene dauernde und methodische Zusammenarbeit der großen Westmächte.

10. Ein letzter und wesentlicher Gegenwert für die Annahme der deutschen Forderungen könnte die Verpflichtung Deutschlands sein, nach Genf zurückzukehren.

Zum Schluß betont die italische Regierung ausdrücklich [142] die Notwendigkeit, daß der augenblicklich im Gange befindliche Gedankenaustausch endlich so viel Fortschritte zeitigte, daß er eine Zusammenberufung der Außenminister oder Regierungschefs der vier großen Westmächte rechtfertigen würde.

Dieser italische Vorschlag hatte den Vorteil, daß er nicht, wie der englische, in den alten Bahnen des Kompromisses auf dem Boden einer als illusorisch erwiesenen, tatsächlich undurchführbaren Abrüstungstendenz sich bewegte, sondern wirklich mutig und entschieden die Absicht zeigte, positive Wege zum Fortschritt auf dem augenblicklichen Status quo des tatsächlichen europäischen Rüstungsstandes zu erschließen.

  Frankreichs Ablehnung  

Jedoch Frankreich war nicht gewillt, nachzugeben. War die Regierung von vornherein entschlossen, die Anregungen des Führers vollkommen unbeachtet zu lassen, so nahm die Regierung wie auch der größte Teil des Volkes die Vorschläge Englands und Italiens sehr kühl entgegen.

Eine Aufrüstung Deutschlands, wie sie Italien etwa vorschlage, komme nicht in Frage, ganz und gar aber nicht, wenn damit zugleich eine Abrüstung Frankreichs verbunden sei, wie England es vorschlage. Ihren diplomatischen Niederschlag fand die Auffassung Frankreichs in einem Schreiben Barthous an Henderson vom 10. Februar 1934. Henderson hatte die französische Regierung gebeten, dem Büro der Abrüstungskonferenz zum Studium und zur Fortsetzung ihrer Arbeit die seit Oktober 1933 vorliegenden Abrüstungsurkunden zu übermitteln und ihre eigene Auffassung mitzuteilen. Das tat Frankreich mit der schriftlichen Mitteilung vom 10. Februar. Darin stellte Barthou vier Grundsätze auf:

1. Anrechnung der SA. und SS. auf die deutsche Heeresstärke (aber Nichtanrechnung der 5 Millionen militärisch ausgebildeter Reserven auf die französische Heeresstärke).

2. Ablehnung jeder sofortigen Rüstungsherabsetzung Frankreichs bei gleichzeitiger qualitativer Aufrüstung der Entwaffneten.

3. Außerordentlich wichtig sei die Frage der Durchführungsgarantien eines Abrüstungsabkommens.

4. Die gegenwärtige Lage erfordere eine rasche Lösung des Abrüstungsproblems. –

Mit anderen Worten: das Ideal Frankreichs war es, daß der gegenwärtige Zustand weiterhin endgültig für Recht erklärt wurde. Frankreich glaubte, [143] sich außenpolitisch nicht belasten zu können durch das Bekenntnis zu einem neuen Rüstungssystem in Europa.

In Frankreich hatte sich allerdings im Monat Januar viel ereignet. Seit Dezember 1933 befand sich dieser Staat in einer dauernden Regierungskrise. Anfang Januar wurde ein ungeheurer Finanzskandal enthüllt, dessen Mittelpunkt eine dunkle Kreatur, der Jude Stavisky, war, und der einen immer mehr an Ausdehnung gewinnenden bodenlosen Sumpf der Korruption bis in die höchsten Regierungsstellen aufdeckte. Eine gewaltige, revolutionäre Unruhe erfaßte das ganze Volk. Regierungen kamen und gingen. Die Legitimisten wiesen auf die tiefe Korruption in der Republik hin, gingen auf die Straße und demonstrierten: "Vive le roi!" Die Republikaner hielten die Republik für bedroht und veranstalteten ihrerseits Demonstrationen. Schließlich stiegen die Marxisten, mit den Arbeitslosen verbündet, auf die Barrikaden: Anfang Februar tobten schwere Straßenkämpfe nicht nur in Paris, sondern in ganz Frankreich, die Hunderte von Verletzten und zahlreiche Tote forderten. Aus der Verwirrung ging endlich die Regierung Doumergue hervor, ihr Außenminister war Louis Barthou. Dem war es ganz gleichgültig, was Deutschland geantwortet hatte, was England und Italien vorschlugen: er hatte von Anfang an nur die eine Absicht, die Verhandlungen abzubrechen, denn Deutschland wolle ja keine Abrüstung, sondern die Aufrüstung!

So antwortete denn Barthou Mitte Februar dem Führer. Die französische Regierung müsse auf dem in dem aide mémoire vom 1. Januar niedergelegten Standpunkt verharren, dessen Vorschläge der Reichskanzler beiseitegeschoben habe. Der Fragebogen der deutschen Regierung könne nur unter Beteiligung aller interessierten Staaten beantwortet werden. Die Formationen der SA. und SS., die militärischen Charakter hätten, müßten bei der Festsetzung der Höchstzahlen berücksichtigt werden. Im übrigen müsse die französische Regierung eine weitgehende Kontrolle des deutschen Rüstungsstandes und vor allem der "militärähnlichen Formationen" SA., SS. und Stahlhelm als besonders wichtig betrachten.

  Eden auf dem Kontinent  

[144] 4.

Europa stand also wieder da, wo es im Oktober 1933 stand: alle Bemühungen der deutschen, italischen und englischen Staatsmänner waren fruchtlos gewesen. In der zweiten Februarhälfte bereiste der englische Großsiegelbewahrer Eden Paris, Berlin, Rom und nochmals Paris, um festzustellen, wieweit das englische Memorandum von den einzelnen Regierungen angenommen werden könne und inwieweit nicht. Bei seinem ersten Pariser Aufenthalt am 16. und 17. Februar versuchte Eden, die versteifte Haltung der Franzosen zu lösen, die dadurch noch hartnäckiger geworden war, daß Simon erklärt hatte, England könne neue Verpflichtungen nicht übernehmen. Edens "Aufklärungs"tätigkeit war deshalb von vornherein aussichtslos. Schon bald kam man an den Scheideweg, da die Auffassung der Franzosen sich von der englischen erheblich trennte. Als nämlich die Franzosen die Notwendigkeit von Sanktionen im Falle eines Bruches der Abrüstungskonvention vorbrachten, entgegnete Eden: "Nein, nur Konsultationen!" Darauf entgegneten Doumergue und Barthou, daß Frankreich bei der gegenwärtigen Lage nicht in eine "Aufrüstung" Deutschlands und in eine Herabsetzung seiner eigenen Streitkräfte einwilligen könne, und Herriot bekräftigte diese Auffassung, indem er auf die Unzulänglichkeit der Sicherheitsbürgschaften hinwies. – In Berlin zerteilte Eden, wie er sagte, einige Mißverständnisse und gelangte zu der Auffassung, daß Adolf Hitler nach wie vor verständigungsbereit sei, daß er den englischen Plan als Verhandlungsbasis nicht ablehne, aber grundsätzlich seine unveränderte Haltung beibehalte. Eden überzeugte sich, daß prinzipielle Gegensätze zwischen Berlin und London nicht bestanden, daß das Ziel Adolf Hitlers lediglich deutsche Gleichberechtigung und Sicherheit in maßvoller Form war. – Am 26. Februar war Eden in Rom und gewann auch hier den Eindruck, daß Mussolini bereit sei, auf der Grundlage der englischen Denkschrift die künftigen Abrüstungsverhandlungen zu führen. – Als Eden aber am letzten Februartage zu eintägigem Aufenthalt in Paris abermals eintraf, erklärte ihm Barthou sehr unverblümt, Frankreich sei [145] einmal bereit gewesen, abzurüsten, damit Deutschland nicht aufrüste, aber die neue französische Regierung habe diese Absicht vollständig fallen lassen und stehe daher einer englischen Vermittlung gleichgültig gegenüber; ein Vorschlag wie der englische, der zu gleicher Zeit eine Aufrüstung Deutschlands und eine Abrüstung Frankreichs in Betracht ziehe, sei für Frankreich unannehmbar. Wenn Frankreich wählen solle, dann sei ihm der italische Plan immer noch sympathischer als der englische. Immerhin, Frankreich wolle die englische Denkschrift "weiter prüfen" und demnächst das Ergebnis nach London mitteilen: die Tür blieb scheinbar offen, sie wurde nicht ganz zugeschlagen. Jedoch der lodernde Zorn, mit dem man am Quai d'Orsay und in den Redaktionsstuben gegen die "Verwirrung", die "Verständnislosigkeit" und "politische Unfähigkeit" Englands und seines Außenministers zu wettern begann, als François Poncet nach Paris berichtet hatte, daß sich der deutsche Kanzler und der englische Lordsiegelbewahrer in der grundsätzlichen Behandlung der Abrüstungsfrage verständigt hätten, ließ nicht hoffen, daß irgendein Erfolg zu erwarten sei. Auch der Umstand, daß die britische Regierung Ende Februar den 67jährigen Lord Tyrrell, der seit 1928 Botschafter in Paris und ein unerschütterlicher Deutschenfeind und Verfechter von Versailles war, abberief, weil er die Altersgrenze erreicht habe, trug nicht zur Entspannung, sondern zunächst zur Vertiefung des englisch-französischen Zwiespaltes bei.

Nun war eigentlich jetzt schon alles aus, weitere Verhandlungen waren menschlichem Ermessen nach zwecklos. Aber Adolf Hitler ließ sich nicht beirren und beeinflussen. Klar und eindeutig war sein Standpunkt. Minister Goebbels erklärte Anfang März einem Matin-Vertreter: kein Staatsmann könne zulassen, daß sein Volk ohne jede Verteidigung bleibe, die Gleichberechtigung sei für Deutschland eine Frage auf Leben und Tod. Den Vertretern der Auslandspresse legte der Minister dar: Deutschland habe eine offene und ehrliche geistige Auseinandersetzung mit der Welt nicht gescheut.

      "Deutschland will den Frieden, es will in Frieden arbeiten und aufbauen, es bringt allen Völkern gleiche Achtung und [146] gleiche Sympathie entgegen, es verlangt aber von ihnen, daß sie mit Respekt und Vorurteilslosigkeit seinem gigantischen Kampf gegen die Not gegenübertreten. Es hat Beweise seiner Friedensliebe gegeben, man muß es hören, wenn es seine Forderungen auf Gleichberechtigung unter den anderen Nationen erhebt." –

Auch Belgien trat hinter die Auffassung Englands und Italiens. Am 6. März gab Ministerpräsident Graf de Brocqueville eine Erklärung zur Abrüstungsfrage ab. Er verurteilte die Auffassung, daß man die militärische Erstarkung Deutschlands durch eine Völkerbundsaktion oder durch einen Präventivkrieg verhindern könne. In Genf und in Beratungen unter sich seien Frankreich, England und Italien Ende 1932 dazu gekommen, Deutschland das Recht gleicher Behandlung zuzuerkennen. Man müsse sich also von unnützem Bedauern und vergeblichen Hoffnungen abwenden und das Problem so ansehen, wie es im März 1934 sei. Es handle sich nicht darum, ob und in welchem Ausmaße man die Aufrüstung Deutschlands dulden werde, sondern in erster Linie darum, einen Rüstungswettlauf zu vermeiden, der zum Kriege führe. Darin liege die Gefahr, die alle Völker Europas, Deutschland nicht ausgeschlossen, bedrohe. Es müssen durch internationale Konventionen die Rüstungen beschränkt werden. Das sei das einzige Mittel, um einen Rüstungswettlauf und damit den Krieg zu vermeiden. Am folgenden Tage bekräftigte diesen Standpunkt der belgische Außenminister Hymans durch eine Rede, die in der Auffassung gipfelte: die Gefahr eines Rüstungswettlaufes könne nicht ausgeschaltet werden durch irgendwelche Zwangsmittel gegen Deutschland, sondern nur auf dem Verhandlungswege durch den Abschluß eines internationalen Abkommens.

Frankreich mußte erkennen, daß es allein stand. Indem es die wartenden Engländer mit der Eden zugesagten Erklärung über das Ergebnis der weiteren Prüfung des englischen Vorschlages noch eine Zeitlang vertröstete – Barthou hatte indessen langwierige Besprechungen mit General Weygand, dem Generalinspekteur der gesamten französischen Streitkräfte, mit Massigli, dem französischen Abrüstungsspezialisten in [147] Genf, mit dem Sowjetbotschafter Dowgalewski, mit den Gesandten Polens, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens, sowie mit dem deutschen Botschafter Köster – ließ es nichtsdestoweniger den Engländern gegenüber unzweifelhaft durchblicken, daß für Frankreich keine Abrüstung in Frage komme, solange Deutschland "aufrüstet". Die Franzosen ließen sich überhaupt auf nichts mehr ein, alle englischen Vorschläge wurden verworfen: grundsätzliche Voraussetzung für weitere Verhandlungen sei die Kontrolle der deutschen "Rüstungen". Die durch die Ausführungen Brocquevilles stark erboste französische Presse warf der englischen Regierung geradezu vor, sie leiste den deutschen "Erpressungsmanövern" Vorschub. Die Temps behauptete, von einer "Gleichberechtigung Deutschlands" sei in der Dezembererklärung von 1932 überhaupt keine Rede; es sei nur das Prinzip ins Auge gefaßt unter der Voraussetzung, daß die Sicherheit organisiert werde. Deutschland sei nach wie vor an die Bestimmungen von Versailles gebunden, es sei jedoch keine Rede davon, daß in dem Friedensvertrag Deutschland die Abrüstung der übrigen Mächte versprochen worden sei. In einigen Zeitungen wurde erklärt, Frankreich werde im Januar 1935 das Saargebiet nicht herausgeben, da Deutschland den Versailler Vertrag gebrochen habe. In der Kammer berichtete General Pétain über den erfreulichen Fortgang des Ausbaus der Grenzbefestigungen gegen Deutschland und forderte unverzügliche Verstärkung der Effektivbestände in den Garnisonen. In vollem Chore posaunte die Presse in die Welt hinaus: Die Regierung werde in Genf öffentliche Anklage gegen Deutschlands "vertragswidrige Wiederbewaffnung" erheben, auf Grund der seit Monaten am Quai d'Orsay liegenden Denkschrift über die deutschen Verfehlungen gegen Versailles!

Für England, das in zäher Ausdauer an seiner Vermittlerrolle festhielt, war es eine schwierige Lage. Am 14. März gab es eine große Unterhausdebatte über die Abrüstung. Eine große Hoffnungslosigkeit beherrschte die Gemüter, und sie wich auch nicht, als Eden über seine Europareise Bericht erstattete. Er sagte: Für England steht mehr auf dem Spiel, wenn der Frieden in Europa nicht aufrechterhalten werde, als [148] für andere Nationen. Eine Politik der Isolierung sei völlig ausgeschlossen. England habe, wenn die Abrüstungskonferenz fehlschlage, genau soviel Grund zu Sorge und Beunruhigung wegen seiner Sicherheit wie irgendein anderer Staat. Zwei Ziele habe deshalb die englische Außenpolitik nach dem Kriege:

1. die Abrüstung, und hier sehe er keine Möglichkeit außerhalb des im englischen Memorandum gegebenen Rahmens und der dort gezeigten Richtlinien,

2. die Wiederherstellung der Autorität des Völkerbundes, die nur dadurch erreicht werden könne, daß alle Mächte, und vor allem die Großmächte, wieder aktiv im Völkerbunde zusammenarbeiteten. Hierin sei die englische Regierung mit der französischen völlig einig: sie sähen beide im Völkerbund ein unentbehrliches Werkzeug für eine gemeinsame Politik und für die Erhaltung des Friedens in Europa.

Dann aber mußte die englische Regierung schwere Angriffe über sich ergehen lassen, die entweder zugunsten Frankreichs oder zugunsten Deutschlands erfolgte. Einig waren die Gegner der Regierung darin, daß die Europareise Edens vollkommen erfolglos gewesen sei, was vom Außenminister Simon bestritten wurde.

In der öffentlichen Meinung des Landes herrschte ein Umschwung der Stimmung zugunsten Adolf Hitlers vor, der in dem Chaos seinen kühlen Kopf bewahrte und stets bereit zur Verständigung sei. Frankreich aber töte alle Abrüstungshoffnungen. Und darüber war man sehr bedrückt. Praktische Arbeit aber leistete die Regierung: sie gab Auftrag zum Bau neuer Flugzeug-Geschwader und Tanks sowie motorisierter Tankabwehrbatterien. Insbesondere bereitete den Engländern die Verstärkung ihrer Luftrüstung Sorge.

Henderson ließ am 10. März die bisher im Abrüstungsstreit gewechselten Aktenstücke, die ihm Frankreich auf seine Bitte am 10. Februar zugestellt hatte, durch das Genfer Völkerbundssekretariat veröffentlichen. Die Welt erfuhr jetzt den Wortlaut der sogenannten deutschen Punktationen vom 18. Dezember 1933, aber sie erfuhr zugleich die Existenz jenes Schreibens, das Barthou am 10. Februar an Henderson gerichtet hatte, und die Antwort der Vereinigten Staaten vom 19. Februar. Gerade über das französische Schreiben vom [149] 10. Februar aber war die englische Öffentlichkeit bitter enttäuscht. So hatte der Schritt Hendersons die beabsichtigte Wirkung, nämlich das Volk auf die Seite der Regierung zu bringen, welche entschlossen war, unter allen Umständen die Verhandlungen fortzusetzen; ja, die Regierung äußerte sogar, eine internationale Abrüstungskonferenz nach Stockholm einzuberufen. Sie sollte mit dem Völkerbunde nichts zu tun haben und die Teilnahme Deutschlands ermöglichen. Es blieb aber lediglich bei dieser Anregung, da der Zweck, Deutschland in die Verhandlungen einzubeziehen, doch nicht erreicht wurde. – Seufzend mußte sich England nun deutlicher zu der Erkenntnis durchringen, daß es mit einer weiteren Aufrüstung zu Wasser und in der Luft nicht länger warten könne. Eine allgemeine Panikstimmung breitete sich aus: in Deutschland triumphiere der militärische Geist, Frankreich erscheine vor der Welt mit der Märtyrerkrone und der größten Gangsterpistole, also könne England nicht zurückstehen.

Frankreich jedoch fühlte sich stark und unerschütterlich. Ein Teil der maßgebenden Persönlichkeiten unterlag der verhängnisvollen Selbsttäuschung, daß es durch Starrköpfigkeit und Unnachgiebigkeit dennoch Zugeständnisse von Adolf Hitler erlangen werde. Dies erscheine gar nicht so unmöglich, im Hinblick darauf, daß der deutsche Kanzler, koste es, was es wolle, einen diplomatischen Erfolg erreichen wolle. Daß dies ein Irrtum war, bewies alsbald die Antwort, die Adolf Hitler am 13. März der französischen Regierung erteilte. Darin hieß es:

  Deutschlands Note  
vom 13. März 1934

Die deutsche Regierung hat den Eindruck gewonnen, daß die Ausführungen der französischen Regierung in verschiedenen Punkten von Mißverständnissen über die vorangegangenen deutschen Erklärungen beeinflußt worden sind. Es erscheint ihr wichtig, diese Mißverständnisse aufzuklären, um zu verhüten, daß die weitere Diskussion des Abrüstungsproblems dadurch beeinträchtigt wird. In der Frage der Beurteilung der in Deutschland bestehenden politischen Organisationen steht die deutsche Regierung auf dem Standpunkt, daß diesen Organisationen kein militärischer Charakter beigemessen werden kann. Die französische Regierung glaubt eine andere Auf- [150] fassung vertreten zu sollen. Das ist eine Meinungsverschiedenheit über eine reine Tat[sachen?]frage. Was den Zeitpunkt der Ausstattung der künftigen deutschen Armee mit den notwendigen Verteidigungswaffen anbelangt, so hat die französische Regierung auch im Aide-Mémoire vom 14. Februar keinerlei Grund angegeben, der es rechtfertigen könnte, diesen Zeitpunkt noch um Jahre hinauszuschieben, damit die Diskriminierung Deutschlands zu verlängern und der deutschen Armee während der Periode der Umwandlung der Reichswehr in ein Heer mit kurzer Dienstzeit die volle militärische Verwendungsfähigkeit vorzuenthalten. Die Diskussion ist jetzt so weit fortgeschritten, daß sich zwei Wege abzeichnen, auf denen man zu einer Lösung gelangen kann. Man kann entweder eine Konvention mit kürzerer Geltungsdauer, etwa von fünf Jahren, wählen, die sich mit der Limitierung der Rüstungen der hochgerüsteten Staaten auf ihren gegenwärtigen Stand begnügt, oder man kann in die Konvention gewisse Abrüstungsmaßnahmen der hochgerüsteten Staaten einbeziehen und ihr dafür eine längere Geltungsdauer verleihen. Daß für Deutschland unter keinen Umständen mehr ein Rüstungsstand, wie er im Versailler Vertrag festgelegt wurde, in Betracht kommen kann, ist eine von allen Seiten längst anerkannte Tatsache.

Die deutsche Regierung hat sich in den Vorschlägen, die sie zuletzt für das Rüstungsregime Deutschlands während der Dauer der ersten Abrüstungskonvention gemacht hat, eine so weitgehende Beschränkung auferlegt, daß sie bei dem Minimum dessen angelangt ist, was zur Anbahnung der Sicherheit und zur Verteidigungsmöglichkeit des Landes zu diesem Zeitabschnitt erforderlich ist. Sie hält auch sonst alle Voraussetzungen einer Verständigung für gegeben und ist der Ansicht, daß es nur noch auf den Entschluß zu dieser Verständigung ankommt.

Am gleichen Tage aber teilte der Pariser Generalstab der französischen Regierung nochmals nachdrücklichst seine Ansicht mit: Abrüstung sei für Frankreich unmöglich, solange die "Aufrüstung" Deutschlands andauere. Im Gegenteil, die französische Armee müßte verstärkt, ihr Material vermehrt werden, und [151] der gegenwärtige Rüstungsstand Deutschlands müsse einer Kontrolle unterworfen werden. Mit anderen Worten: der französische Generalstab wollte die in Versailles festgelegte militärische Überlegenheit Frankreichs in keinem Punkte preisgeben.

  Frankreichs Antwort  
an England

Am 16. März hatte der Senatsausschuß für Auswärtige Angelegenheiten sich einstimmig zu dem am 18. Januar 1934 vom Senat mit 257 gegen 3 Stimmen angenommenen Beschluß bekannt,

"wonach Frankreich angesichts der Aufrüstung Deutschlands und mangels jeder organisierten Sicherheit sich nicht durch ein Abkommen binden kann, dessen Wortlaut es zwingen würde, entweder seine Rüstungen herabzusetzen oder auf die unerläßlichen Bedingungen seiner eigenen Sicherheit zu verzichten".

Das war zugleich die Antwort auf Adolf Hitlers Ausführungen vom 13. März wie auf die englischen Vorschläge vom Januar. In diesem Sinne gab, mit einstimmiger Billigung des Ministerrates, Barthou am 17. März den Engländern die seit langem erwartete Antwort auf ihre Vorschläge vom 29. Januar.

Die Ausführungen Frankreichs vom 1. Januar und 14. Februar 1934 stünden auf der Grundlage der Genfer Verständigung vom 14. Oktober 1933. Frankreich könne nicht zulassen, daß Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund Deutschland neue Rechte verschaffe und Frankreich neue Opfer auferlege, unter denen leicht seine Landesverteidigung leiden könne. Frankreich verstehe England nicht, wie es mit übertriebenen Aufrüstungsansprüchen der einen Seite Abrüstungsforderungen für andere Mächte begründen könne. Eine deutsche Heeresvermehrung auf 300 000 Mann müsse strikt abgelehnt werden, sie bedeute eine Verletzung der Verträge und der Völkerbundssatzung. Unter Hinweis auf die "militärischen Verbände" erklärte Barthou, Kontrolle allein genüge nicht, wenn nicht gegen eine durch die Kontrolle aufgedeckte Vertragsverletzung unverzüglich mit allen als unerläßlich angesehenen Mitteln des Druckes vorgegangen würde, wobei "das Ausmaß der Sanktionen der Schwere der Vertragsverletzung anzupassen" wäre. Immer wieder müsse man auf den Völkerbund und seine Satzungen zurückgreifen. Deutschland könne, wie [152] es ja auch die britische Regierung meine, keine bessere Garantie für das Gleichgewicht der Mächte geben als durch seine frei von allem Zwang erfolgende Rückkehr in eine Staatengemeinschaft, in die es aufgenommen sei. Die Republik könne keinen Vorschlag annehmen, der Frankreichs Abrüstung verschärfen würde, indem er Deutschland gleichzeitig eine sofortige und schwer zu begrenzende Legalisierung einer Aufrüstung zubillige, die es schon jetzt unter Verletzung der Verträge durchführe.

Frankreich hatte deutlich gesprochen: Deutschland sollte auf den Stand vom Herbst 1926 zurückgeführt und damit das Reich Adolf Hitlers nicht nur außenpolitisch, sondern auch innerlich zerbrochen werden, Rheinlandbesetzung als Sanktion, Rückkehr in den Völkerbund, Militärkontrolle. Alle Schuld für die Erfolglosigkeit der Abrüstungsverhandlungen wurde auf das Deutschland Adolf Hitlers gehäuft. In Washington war die Regierung enttäuscht, in London sprach man von peinlichen Mißverständnissen. Der Ministerpräsident Göring erklärte einem Vertreter der Zeitung Le Jour, eine Aussöhnung mit Frankreich sei möglich, wenn die beiden führenden Staatsmänner beider Länder einmal persönlich zusammenkommen würden, um eine Lösung zu finden.

Louis Barthou.
[Bd. 8 S. 288b]      Louis Barthou.
Photo Scherl.
Barthou kannte nur ein Ziel: das neue, einige Deutschland, das ihm gefährlich erschien, zu zerbrechen. Gefährlich erschien dem Franzosen der Geist der neuen deutschen Einheit. Beizukommen glaubte er ihm mit politischen Angriffen auf die Reichswehr und die politischen Verbände. Am 27. März hatte Barthou mit dem belgischen Außenminister Hymans in Brüssel eine Besprechung, in der die beiden die europäische Lage prüften und ihre Übereinstimmung feststellten bezüglich der europäischen Gefahr, die in einer Wiederaufrüstung Deutschlands liegen würde. Beide erkannten eine ebensogroße Gefahr in einem Rüstungswettlauf. Beide bezeichneten als das einzige Mittel, ein Wettrüsten zu verhindern, den Abschluß einer internationalen Konvention, die sowohl eine zuverlässige Kontrolle als auch ernste Garantien für ihre Befolgung enthalten müsse. Denn Kontrolle allein, wie der Franzose meinte, genüge nicht einem so bekannten [153] Partner wie Deutschland gegenüber. Hymans glaubte noch einen anderen Weg zeigen zu müssen: eine Entente zwischen Frankreich, Italien und England.

Frankreichs
  Verschleierungstaktik  

5.

In Frankreich selbst waren dunkle, untergründige Wühlkräfte am Werke. Ende März stand das Land infolge der Notwendigkeit, zur Beseitigung der schwierigen Finanzlage rücksichtslos zu sparen und die Gehälter zu kürzen, vor einer neuen inneren Krisis. Da gab es nun Elemente – in der Schwerindustrie –, die als einzige Rettung aus der inneren Gefahr außenpolitische Abenteuer gegen Deutschland und Adolf Hitler vorschlugen. Ihrer Vorbereitung widmeten gewisse Kreise – im Generalstab – ihre Zeit, und zwar im Einvernehmen mit Hoch- und Landesverrätern, die in Deutschland saßen. Es wurde geraunt und geflüstert von einem neuen Einmarsch ins Rheinland als Sanktion für die angebliche Aufrüstung Deutschlands, die von landesverräterischen Lumpen den Franzosen vorgespiegelt wurde. Es hat den Anschein, als sei die französische Regierung nicht unberührt geblieben von diesem Treiben. Als nämlich die englische Regierung Ende März eine neue Abrüstungsiniative mit verschiedenen Anfragen an Frankreich einleitete, verhielten sich die Franzosen zunächst gleichgültig, versuchten dann aber durch Täuschungen und Hinhaltung Zeit zu gewinnen. Sie gaben sich plötzlich auffallenderweise den Anschein, als wollten sie Zugeständnisse in der Frage der "defensiven" Aufrüstung Deutschlands und der Sanktionen machen, als seien sie bereit, weiterzuverhandeln, mit der Einschränkung jedoch: nicht auf Grund der englischen Note vom 29. Januar, weil grundsätzlich nicht gleichzeitig eine Aufrüstung Deutschlands und eine Abrüstung Frankreichs zugelassen werden könne, und mit der andern Einschränkung, daß England von vornherein gewisse Mindestgarantien, die über das in Locarno festgesetzte Maß hinausgingen, übernehmen würde. Die plötzliche scheinbare Kursänderung Frankreichs ging soweit, daß die englischen Staats- [154] männer hofften, eine neue Reihe von diplomatischen Besprechungen werde ihren Anfang nehmen.

Am 7. April hatte Henderson in Paris mit Barthou eine persönliche Aussprache, die länger als eine Stunde dauerte. Hier prägte Barthou die neue Formel: "Nicht mehr Abrüstung, sondern Rüstungsstillstand bei gleichzeitiger gewisser Aufrüstung Deutschlands." In England wurde die neue französische Haltung in zwei Punkte fixiert:

1. Frankreich ist bereit, mit England über eine Abrüstungsvereinbarung zu verhandeln, worin Deutschland eine genau begrenzte Aufrüstung zugestanden wird und jeder Staat der gleichen internationalen Kontrolle unterworfen wird.

2. Frankreich ist einverstanden mit Englands Andeutungen einer Bereitschaft zur Übernahme weiterer Ausführungsbürgschaften.

Ohne Zweifel hatte sich Frankreichs Haltung geändert, es war nachgiebiger geworden. Bestimmte Anzeichen deuten aber darauf hin, daß diese Nachgiebigkeit einer Erwartung entsprach, aus der heraus die Franzosen glaubten, daß sie mit ihrer veränderten Haltung nicht mehr der Regierung Adolf Hitlers entgegentreten würden, sondern einem deutschen Regime, das sich aus dem Sturze des Führers und des Nationalsozialismus entwickeln würde. Mit Adolf Hitler wollte Barthou nach wie vor nichts zu tun haben. Ein Teil der französischen und der englischen Öffentlichkeit betrachtete die Entwicklung bereits so hoffnungsfroh, daß man von einem Besuche Barthous in Berlin sprach. Aber das amtliche Dementi, das am 9. April in Paris ausgegeben wurde, war ein Beweis unzweideutiger und unversöhnlicher Unfreundlichkeit. Deutschland habe, so kommentierte nun die Pariser Presse, stets die Möglichkeit, mit Frankreich auf diplomatischem Wege zu verkehren.

England wollte die Entwicklung nicht stören. Als am 10. April das Büro der Abrüstungskonferenz in Genf zusammentrat, gab Eden einen umfassenden Bericht und meinte, man solle den direkten Meinungsaustausch nicht durch die Konferenz unterbrechen und die Arbeit zunächst auf den 30. April vertagen. Man werde allerdings den englischen Vorschlag in verschiedenen Stücken abändern müssen, aber immerhin könne [155] man schon bald auf positive Ergebnisse des direkten diplomatischen Gedankenaustausches rechnen. Der französische Vertreter Massigli enthielt sich jeder Äußerung und wies nur auf eine bevorstehende französische Antwort an England hin. Einstimmig vertagte sich das Büro der Abrüstungskonferenz auf den 30. April.

  Unklarheit und Unruhe  

Aber bereits in diesem Augenblick begann offensichtlich eine neue Verdunkelung der ganzen Frage. Das englische Unterhaus fühlte sich beunruhigt durch das Anwachsen des deutschen Heeres- und Marineetats, der am 26. März von der Reichsregierung im Reichshaushaltsplan veröffentlicht wurde und 700 Millionen betrug. (Ein Viertel des französischen Militäretats!) Die englische Regierung fragte deshalb in Berlin an und erhielt von der deutschen Regierung die Antwort, daß der Versailler Vertrag keine Begrenzung des deutschen Wehrhaushaltes vorsehe. Die Erhöhungen für das Landheer seien bedingt durch die geplante Umstellung der Reichswehr in eine kurzfristig dienende Miliz, die größeren Marineausgaben hätten ihren Grund in einer Überalterung des Schiffsmaterials der Reichsmarine. Die erhöhten Ausgaben für das Luftfahrtministerium wurden hervorgerufen durch die Einstellung mehrmotoriger Verkehrsflugzeuge sowie durch den größeren Aufwand für den Luftschutz.

Bedenklicher war es schon, daß die Franzosen den zurückhaltenden Standpunkt Englands in der Frage der Ausführungsgarantien mit Unwillen erkannten. Macdonald und Simon, so hieß es im Oeuvre, hätten Eden die Weisung mit nach Genf gegeben: Man müsse doch eine, wenn auch noch so geringe Abrüstung im Austausch für die von Frankreich geforderten Garantien erlangen. Denn die öffentliche Meinung Englands und die Innenpolitik erwarteten, daß die britische Regierung wenigstens irgendeine Abrüstung vorweisen könne. Es war kein Zweifel, daß trotz aller Bemühungen, zu einer Übereinstimmung zu gelangen, zwischen England und Frankreich die von diesem geforderten Ausführungsgarantien trennend standen.

In diesem Wirrsal täglich wechselnder Stimmungen und Leidenschaften behielt allein der Führer seine gerade und [156] klare Linie. Er und seine Mitarbeiter erklärten immer wieder, Deutschland sei bereit zu Entgegenkommen und Verständigung, müsse aber jedes Diktat entschlossen ablehnen! Adolf Hitler war sogar bereit, dem französischen Prestige, das nicht Abrüstung Frankreichs bei gleichzeitiger Aufrüstung Deutschlands vertrug, und den französischen Sicherheitsforderungen entgegenzukommen. Sein Vorschlag, der sich aus seiner Antwort vom 13. März ergab und in einer Note vom 16. April niedergelegt wurde, war eine zehnjährige Konvention, in deren ersten Hälfte Deutschland aufrüsten dürfe, während die Verpflichtung zur Abrüstung für die anderen Mächte erst nach Ablauf des fünften Jahres in Kraft treten solle. Auch erklärte er sich ausdrücklich an den Locarnopakt gebunden. Dieses Entgegenkommen des Führers wurde in England wohlwollend aufgenommen.

Auch die Neutralen versuchten sich um diese Zeit in die Vermittlungsaktion einzuschalten. Schweden, Norwegen, Dänemark, Niederlande, Schweiz und Spanien übergaben dem Völkerbunde am 16. April eine Denkschrift, die zwischen dem englischen und französischen Standpunkte vermitteln sollte: Mäßige Aufrüstung Deutschlands, teilweise Abrüstung in bescheidenem Umfange bei den andern, praktische Durchführung der Gleichberechtigung, Verstärkung der Sicherheitsbürgschaften, Rückkehr Deutschlands in den Völkerbund. Wenn auch solche Vorschläge dem deutschen Standpunkt in keiner Weise gerecht wurden, so ließen sie doch den guten Willen erkennen, Frankreichs Hartnäckigkeit zu erweichen.

  Frankreichs Ablehnung  
vom 17. April 1934

Jedoch mit seiner Antwort an England vom 17. April 1934 ohne jegliche Rücksicht auf die deutsche Haltung zieht das unnachgiebige Frankreich den endgültigen Schlußstrich unter die Abrüstungsbesprechungen. Die Regierung setzte zunächst ihren Garantiestandpunkt auseinander: mit allgemeinen Loyalitätsversicherungen sei da nichts geschaffen, die allgemeinen Garantien im Abkommen müßten in der Staffelung: diplomatische Sanktionen, finanzielle Sanktionen, scharfe wirtschaftliche Sanktionen (Blockade!), militärische Sanktionen (Rheinlandbesetzung!) genau festgelegt sein. Der englische Unterschied zwischen Sicherheitsgarantien und Ausführungsgaran- [157] tien sei spitzfindig. Von einer Beseitigung der Angriffswaffen sei keine Rede. Frankreich müsse sich das Recht vorbehalten, sein altes Material zu erneuern, und zwar entsprechend dem Niveau des neuen Materials, mit dem das deutsche Heer ausgerüstet werde. Auch werde Frankreich nicht einen Mann entlassen, sondern müsse die Möglichkeit haben, die Militärdienstzeit zu erhöhen. Aber der erhöhte Wehretat Deutschlands beweise dessen Aufrüstung und Vertragsbruch. Auch kümmere sich die Reichsregierung weniger darum, die halbmilitärischen Verbände zu beseitigen oder zivilen Zwecken zuzuführen, als ihren für den Krieg angepaßten Gebrauch zu vervollkommnen. Dadurch werde eine vollendete Tatsache geschaffen. Weitere Verhandlungen seien aus diesem Grunde zwecklos, die Angelegenheit betreffe nun alle und könne daher nur noch in Genf verhandelt werden.

Diese Note war der Sieg der militärisch-wirtschaftlichen Koalition zwischen Generalstab und Rüstungsindustrie über die politische Linie der direkten diplomatischen Verhandlungen, die der Führer eingeschlagen hatte.

Die französische Presse gab dazu folgenden Kommentar: Es gebe vier Möglichkeiten; erstens eine allgemeine Abrüstung, wie sie anfangs das Ziel der Abrüstungskonferenz war; dies Ziel sei unerreichbar geworden durch die von Deutschland unter Mißachtung der Verträge vorgenommene Aufrüstung. Zweitens eine Herabsetzung der Effektivbestände und der Materialien der durch diese Verträge nicht entwaffneten Mächte, verbunden mit einer Erhöhung der Effektivbestände und des Materials, das Deutschland zugestanden worden war; diesen Vorschlag des englischen Planes vom 29. Januar habe Frankreich am 17. März zurückgewiesen. Drittens, Frankreich würde einer teilweisen Aufrüstung Deutschlands zustimmen, ohne selbst zur Herabsetzung seiner Rüstungen gezwungen zu sein; dies sei der Inhalt der italischen Denkschrift gewesen. Viertens, Frankreich lehne eine Legalisierung der "geheimen Aufrüstung" Deutschlands ab; das sei der Inhalt der französischen Note vom 17. April. In der Kammersitzung vom 9. Mai versuchte Barthou die Haltung seiner Regierung nochmals zu rechtfertigen: Der Umstand, der [158] die Lage völlig verändert habe, behauptete er, könne nicht Frankreich zur Last gelegt werden, sondern liege in der Wiederaufrüstung Deutschlands, die Berlin bisher nicht zugegeben habe.

Rom und London waren bitter enttäuscht; Simon, Henderson, Eden, Mussolini hatten diese schroffe Zurückweisung nicht erwartet. Tatsächlich waren damit die direkten Verhandlungen, die Ende 1933 begonnen worden waren, zu Ende. Die Abrüstungsfrage war wieder auf das tote Gleis in Genf geschoben worden, aber die allgemein international verbreitete Auffassung war die, daß nun auch die Genfer Verhandlungen ihren Wert verloren hätten. Frankreich glaubte, seine Handlungsfreiheit wiedergewonnen zu haben und hoffte auf den Erfolg der Wühlarbeit, die die Verräter in Deutschland verrichteten. Anfang Mai nahmen in Paris Pläne einer Neubesetzung von Rhein und Ruhr Gestalt an, – allerdings auf Belgiens Unterstützung war diesmal nicht zu rechnen!

Dem Vertreter des englischen Reuterbüros erklärte Ministerpräsident Göring, daß Deutschland immer wieder militärische Luftfahrt fordern werde und Maßnahmen zur Abwehr von Luftangriffen vorbereite, jedoch müsse er energisch bestreiten, daß Deutschland aufrüste. Er frage alle Flieger der Welt nach einer Antwort: ob er etwa 3600 Flugzeuge – soviel habe Frankreich – unbemerkt bauen könne?

  Diplomatenreisen  

6.

Ein Zwischenspiel bildeten die Diplomatenreisen Ende April. Am 22. April weilte Barthou in Warschau. Hier stellte er fest, daß Polen infolge des deutsch-polnischen Paktes von Frankreich erheblich abgerückt war und keine Neige zu einer von Frankreich erwünschten engeren Verständigung mit der Tschechoslowakei zeigte. Barthou gewann den Eindruck, daß die französisch-polnische Militärallianz zerbröckelte. Hier in Warschau ist es wohl gewesen, wo Barthou äußerte, er sei nicht bereit, der Hitlerregierung in der Abrüstung irgendwie Zugeständnisse zu machen, denn die Tage des Hitlerregimes in [159] Deutschland seien gezählt. (In dem französischen Berichte hierzu hieß es: In der Abrüstungsfrage habe der französische Außenminister seinen polnischen Kollegen genau über die Haltung der französischen Regierung aufgeklärt.) Dann begab er sich nach Prag, um die alte Freundschaft mit den Tschechen und die beiderseitige Völkerbundstreue neu zu bekräftigen.

Inzwischen reiste der Italier Suvich nach Paris, um sich von Doumergue sagen zu lassen, daß Frankreich es ablehne, sich "auch nur grundsätzlich auf den italischen Plan festzulegen". In London versicherte sich Suvich, daß die italisch-englische Bundesgenossenschaft in der Vermittlerrolle zwischen Deutschland und Frankreich noch weiterhin fortbestand, ohne jedoch durch seinen Besuch einen greifbaren Fortschritt zu erzielen, und in Brüssel nahm er zur Kenntnis, daß nach den Äußerungen Brocquevilles und Hymans Belgien die Politik Frankreichs nicht mehr mitmachen könne, ein Wettrüsten verhindern wolle und sich der englisch-italischen Auffassung anschließe. Wenn man als das bescheidenste Ziel der Reise Suvichs die Weisung Mussolinis bezeichnen will, daß in der Abrüstung grundsätzlich keine gegen Deutschland gerichtete Front sich bilden dürfe, dann war dies Ziel wenigstens erreicht; mehr aber nicht!

Abschließend zu den Ereignissen der letzten Wochen stellte am 27. April der Reichsaußenminister von Neurath die Lage und den Willen Deutschlands im internationalen Abrüstungswirrwarr klar heraus. Er charakterisierte die vergeblichen Kämpfe mit dem Satze, es sei so, daß Frankreich bestimmen wolle und Deutschland gehorchen müsse. Er fuhr dann fort:

      "Ein einfaches Verbleiben Deutschlands bei dem ihm in Versailles aufgezwungenen Rüstungsregime wäre deshalb nur dann in Frage gekommen, wenn die anderen Mächte sich entschlossen hätten, ihre Rüstungen auf das gleiche Niveau herabzusetzen. Aber diese Forderung ist kategorisch abgelehnt worden, und seitdem konnten sich die Verhandlungen, soweit sie Deutschland betrafen, nur noch um die Frage bewegen, auf welche andere Weise die deutsche Gleichberechtigung zu verwirklichen wäre. Das ist in der bekannten Fünf-Mächte-Erklärung vom Dezember 1932 ausdrücklich und [160] bindend festgelegt und durch die seitherigen Abrüstungsverhandlungen, so ergebnislos sie auch sonst verlaufen sind, bestätigt worden. Mit Recht hat deshalb die deutsche Regierung in ihrem an die französische Regierung gerichteten Memorandum vom 13. März d. J. es als eine selbstverständliche, von allen Seiten längst anerkannte Tatsache hingestellt, daß für Deutschland unter keinen Umständen mehr ein Rüstungsstand in Betracht kommen könne, wie er in Versailles festgelegt wurde......
      Die Reichsregierung ist sich stets der Tatsache bewußt gewesen, wie segensreich sich gerade eine Einigung über das Abrüstungsproblem für die Wiederherstellung des Vertrauens und die politische und wirtschaftliche Zukunft aller Länder auswirken würde. Deshalb wünschen wir nach wie vor das baldige Zustandekommen einer Konvention. An den Vorschlägen und Zugeständnissen, wie wir sie zuletzt gemacht haben, halten wir fest. Alle Behauptungen, als ob wir uns nicht nur auf die Vorbereitung einer defensiven Aufrüstung, sondern auf die Ausrüstung mit Angriffswaffen eingestellt hätten, verweise ich auf das entschiedenste in das Reich der Fabel. Nachdem die französische Regierung den von uns eingeschlagenen, nach unserer Ansicht allein zweimäßigen Weg durch ihren plötzlichen Entschluß verbaut hat, kann es nicht unsere Sache sein, ihn von neuem zu eröffnen. Wir sind uns über den Ernst der Lage im klaren. Unser Standpunkt ist aber zu fest begründet, als daß wir der weiteren Entwicklung etwa mit Angst entgegensehen müßten. Die deutsche Regierung steht glücklicherweise nicht allein mit ihrer Überzeugung. Die englische und italische Regierung haben ihre Auffassung über die anzustrebende Lösung seit langem bekanntgegeben, eine Auffassung, die in den entscheidenden Grundlinien mit unserer eigenen übereinstimmt. Auch die neutralen Mächte haben sich für die Notwendigkeit des Abschlusses einer Abrüstungskonferenz ausgesprochen.
      So können wir erwarten, daß sich die Gesetze der Vernunft und der Billigkeit, die in diesem Falle so klar zutage liegen, schließlich doch Geltung verschaffen werden. Die Reichs- [161] regierung hat dafür, soweit es an ihr liegt, alle Voraussetzungen geschaffen."

Wie ein schwerer Alp lag der Mißerfolg in der Abrüstungsfrage auf den Gemütern der europäischen Staatsmänner. Insbesondere England grollte. Weil es die von Frankreich gewünschten weitgehenden Sicherheitsverpflichtungen nicht eingehen konnte und wollte, darum war es außerstande, die Übereinstimmung zwischen Frankreich und Deutschland herbeizuführen. Henderson hatte die Verhandlungen des Büros der Abrüstungskonferenz, die am 30. April in Genf beginnen sollten, auf Ende Mai verschoben. Am 10. Mai weilte er selbst in Paris und mußte sich davon überzeugen, daß die französische Unnachgiebigkeit nach wie vor bestand und die Aussichten für Genf hoffnungslos waren.

  Haltung Adolf Hitlers  

Um nicht alle Fäden direkten Meinungsaustausches abreißen zu lassen – diese Gefahr bestand durch die Note Frankreichs vom 17. April – ernannte Adolf Hitler am 24. April Herrn Joachim von Ribbentrop zum Sonderbeauftragten für Abrüstungsfragen, dessen Aufgabe darin bestand, die dauernde Verbindung mit den europäischen Hauptstädten außerhalb des diplomatischen Verfahrens aufrechtzuerhalten. Ribbentrop, der einer Offiziersfamilie entstammte, hatte 1932 zwischen Adolf Hitler und Papen vermittelt und die berühmt gewordene Zusammenkunft beider Männer Anfang 1933 in Köln zustande gebracht. Er schien der geeignete Mann, um auch in dieser verantwortungsvollen Lage erfolgreich für Adolf Hitler wirken zu können. Er verhandelte im Mai und Juni in London, Rom und Paris, erfuhr aber in Frankreich ebenfalls nur Ablehnung.

Inzwischen hatte der rührige Barthou einen neuen Bundesgenossen an Stelle des verlorenen polnischen gewonnen: Sowjetrußland. In aller Verschwiegenheit schlossen die beiden Mächte nach fünfmonatigen Verhandlungen einen Beistandspakt, im Mai. Schon seit Jahresbeginn unternahm es Barthou, für Sowjetrußlands Aufnahme in den Völkerbund zu wirken und es in nähere Verbindung mit der Kleinen Entente zu bringen. Dabei störte es ihn wenig, daß die Schweiz mit ihrem [162] Austritt aus dem Völkerbunde drohte, falls Rußland aufgenommen werde.

Ende Mai versuchte Frankreich seine Haltung in der Abrüstungsfrage durch die Herausgabe eines Blaubuches zu rechtfertigen. Aber gerade dieser Aktenspiegel, der 24 Schriftstücke vom 10. Oktober 1933 bis 17. April 1934 enthielt, zeigte klar wie noch nie die krumme, uneinheitliche, ja unaufrichtige Politik Frankreichs, die nur erklärt werden kann durch untergründige Beziehungen gewisser politischer Kreise in Frankreich zu Hoch- und Landesverrätern in Deutschland einerseits wie durch die Beeinflussung der französischen Regierung durch militaristische und schwerindustrielle Kreise anderseits.

  Die Abrüstungskonferenz  

7.

Die schwere Zerrüttung des Völkerbundes und der Abrüstungskonferenz offenbarte die Tagung der Konferenz, die vom 28. Mai bis 11. Juni 1934 in Genf stattfand. Mit Groll im Herzen kamen die Staatsmänner, und die Verhandlungen kündigten sich als Duell zwischen England und Frankreich an. Jeder der beiden Staaten hatte seine Gefolgschaft: im englischen Lager standen Norwegen, Schweden, Dänemark, Niederlande, Schweiz und Spanien, im französischen die Kleine Entente und Rußland, während Italien und Ungarn sich abseits hielten.

Die Engländer, Henderson und Simon, warfen sofort mit offenen und weniger offenen Worten Barthou vor, daß er schuld sei am Scheitern der Konferenz. Barthou versuchte auf Deutschland, das die Konferenz verlassen habe und wo der preußische Geist die Oberhand gewonnen habe, alle Schuld abzuwälzen. Deutschland, so sagte Barthou, habe Genf brüsk und brutal verlassen, rüste auf und wolle jetzt Frankreich kommandieren. Frankreichs Haltung sei unverändert. – Bei der Gegensätzlichkeit der Standpunkte war auf einen Erfolg der Konferenz kaum zu hoffen.

Der Amerikaner Norman Davis versuchte, außerhalb der Sphäre der politischen Leidenschaften, am 29. Mai einen Vor- [163] schlag zu machen: es gebe nur zwei Wege, um Sicherheit zu schaffen, entweder überwältigende Rüstungsüberlegenheit in Verbindung mit Bündnissen, wie früher, der Weg, der zu Wettrüsten und Krieg führte, oder ehrliche Abrüstung, daß einem erfolgreichen Angriffskrieg von vornherein alle Aussichten genommen seien.

      "Wir sind bereit, jeden praktischen Weg zu beschreiten, mit dem Ziel, ein allgemeines Abrüstungsabkommen zu erreichen und so dem allgemeinen Frieden und dem Fortschritt der Welt zu dienen. Wir sind weiter bereit, in Verbindung mit einer allgemeinen Abrüstungskonvention ebenfalls über einen allgemeinen Nichtangriffspakt zu verhandeln und mit anderen Nationen über alle Probleme zu sprechen, die aus Verträgen erwachsen können, an denen wir teilnehmen.
      Die Vereinigten Staaten haben aber nicht die Absicht, an den politischen Verhandlungen und Abmachungen europäischer Mächte teilzunehmen und werden sich auf keine Vereinbarung einlassen, die den Zweck haben könnte, ihre bewaffnete Macht für die Regelung irgendeines Streitfalles einzusetzen. Die Politik der Vereinigten Staaten hat das Ziel, sich außerhalb jedes Krieges zu halten, aber auf jede Weise zu helfen, wenn es gilt, den Krieg zu verhüten."

Das war im wesentlichen die Wiederholung dessen, was die amerikanische Regierung in ihrer Note vom 19. Februar zum Ausdruck gebracht hatte.

Nach dem Amerikaner überraschte der Sowjetrusse Litwinow die Versammlung mit einem Vorschlag, den er in den vorhergehenden Tagen mit Barthou ausgearbeitet hatte und der von diesem in privater Unterhaltung bereits den Engländern in großen Umrissen dargelegt worden war. Zunächst deutete er die Möglichkeit eines Systems von Nichtangriffspakten oder regionalen Pakten an, dann aber kam die Hauptsache: die Abrüstungskonferenz solle in eine ständige und regelmäßig tagende Konferenz umgewandelt werden, die keine andere Aufgabe habe, als mit allen Mitteln den Frieden zu sichern. Die Abrüstungskonferenz solle also eine Friedens- bzw. Sicherheitskonferenz werden. Bisher hätten Friedenskonferenzen nur nach dem Ende eines Krieges getagt. Diese [164] Friedenskonferenz aber solle den Krieg und seine Folgen verhindern. Ihre Aufgabe sei, alle Mittel zu vervollkommnen, mit denen die Sicherheit gestärkt würde, und rechtzeitig alle Maßnahmen zur Erhaltung des Friedens zu treffen, wobei es sich um moralische, wirtschaftliche, finanzielle, aber auch "andere Mittel" handle. Es sei nicht daran gedacht, die Befugnisse des Völkerbundes zu schmälern, sondern dieser solle nur von einer Aufgabe entlastet werden, die von einem andern Organ besser und wirksamer wahrgenommen werden könne. Die Friedenskonferenz könne sehr wohl als ein Organ des Völkerbundes gelten.

  Englisch-französische  
Spannungen

Am folgenden Tage, den 30. Mai, sprach Simon. Er wies auf die Unnachgiebigkeit der französischen Regierung und auf das Entgegenkommen Adolf Hitlers hin. Man müsse doch irgendwie zu einer internationalen Verständigung kommen. Er regte an, sich zu einigen über den chemischen Krieg, die Offenlegung der Rüstungsausgaben und die Einsetzung einer ständigen Abrüstungskommission. Nach dem Engländer ergriff Barthou das Wort: man müsse ausgehen vom 14. Oktober 1933, Deutschland habe das damalige Programm abgelehnt, und weil Deutschland ablehne, darum suche Simon eine andere Lösung! Frankreich habe am 17. April die Tür zu Verhandlungen nicht zugeschlagen, aber gerade in dem Augenblick, als Frankreich im besten Zuge war, positive Arbeit zu leisten, mit England über Ausführungsgarantien verhandelte, da sei das deutsche Budget mit seiner starken Erhöhung der zugegebenen Rüstungsziffern erschienen. Der Krieg sei die nationale Industrie Preußens. Der Sinn der oft allzu leidenschaftlichen Rede des Franzosen war: Deutschland, Deutschland und immer nur das vom preußischen Geiste beherrschte Deutschland ist schuld!

Somit war der Abrüstungsgegensatz zwischen England und Frankreich offen dargelegt. Nach einer nochmaligen erregten Aussprache mit Barthou reiste Simon am 1. Juni aus Genf ab. Die Konferenz war wirklich tot. Die Neutralen versuchten noch einen zaghaften Schritt, indem sie am 4. Juni einen Kompromiß vorschlugen, der aus der französischen Note vom 1. Januar, der italischen Note vom 4. Januar, der englischen [165] Note vom 29. Januar und der deutschen vom 16. April zusammengebraut werden sollte. Aber eine Erkenntnis beherrschte jetzt alle: die Konferenz war tot, weil Deutschland sie verlassen hatte, und sie blieb tot, wenn Deutschland nicht zurückkehrte, – durch die Schuld Frankreichs, das die moralische und politische Gleichberechtigung Deutschlands trotz aller feierlichen Versprechungen nicht gelten lassen wollte.

Henderson erklärte mit nüchternen Worten, es müßten Schritte getan werden, um die Konferenz zu retten. In erster Linie komme es hierbei darauf an, Deutschland durch Verhandlungen wieder in die Konferenz zurückzuführen, andernfalls sei die Lage aussichtslos.

Den nächsten Tag schlug Henderson eine Verständigung auf Grund des neutralen Kompromißvorschlages vor. Barthou stellte wieder die Sicherheitsfrage in den Vordergrund und lehnte den Vorschlag Hendersons in großen Teilen ab. Mit außerordentlicher Schärfe wandte sich jetzt Henderson gegen Barthou und drohte mit seinem Rücktritt. Der Franzose suchte daraufhin eine Entspannung am 6. Juni herbeizuführen, indem er ein Arbeitsprogramm einreichte, das die Sicherheit und Kontrolle als Hauptsache behandelte, die Einsetzung dreier Sonderausschüsse zur Behandlung dieser Fragen forderte und schließlich in dem russischen Vorschlag gipfelte, die Konferenz unter dem Namen einer Friedenskonferenz in Permanenz zu erklären. In seiner Ansprache sagte er: die Frage der Rückkehr Deutschlands belaste die Beratungen. Kein Land würde sich mehr als Frankreich beglückwünschen, wenn Deutschland zurückkehrt. Keine Tür sei geschlossen...

      "Ich erinnere daran, daß man weder Bedingungen von Deutschland annehme, noch ihm solche aufwälzen darf. Die Tür muß offen bleiben. Es ist nötig, daß Deutschland durch sie eintritt mit vollständiger Gleichheit der Rechte, und indem es hier die Verantwortlichkeiten übernimmt, die dann gemeinsam sein werden. Die Abwesenheit Deutschlands ist kein Hindernis für die Beratungen, aber die Anwesenheit Deutschlands würde den Beratungen ihren wahren Charakter geben und würde es vielleicht ermöglichen, zu einer Lösung zu gelangen."

In der an- [166] schließenden Aussprache erklärte Eden, daß er dem Entwurfe Hendersons den Vorzug gebe vor demjenigen Barthous.

  Der Kompromiß  

Nach stundenlangen Verhandlungen einigten sich am Abend des 7. Juni Eden, Norman Davis und Barthou auf ein Arbeitsprogramm, das ausgehend vom Kompromißvorschlag der Neutralen, fordert, eine Lösung der in Schwebe gebliebenen Fragen zu finden, "unbeschadet der besonderen Besprechungen, die die Regierungen etwa einleiten wollen, um den Enderfolg durch die Rückkehr Deutschlands zur Konferenz zu erleichtern". Ferner soll ein Sonderkomitee für Sicherheit und ein solches für Ausführungsgarantien und Kontrolle eingesetzt werden. Die Arbeiten über Luftfahrt, Waffenherstellung und Waffenhandel sollen in dem dafür bestimmten Sonderausschuß durchgeführt werden. Und schließlich sollen die Regierungen mit dem russischen Vorschlag, die Konferenz unter der Bezeichnung als Friedenskonferenz in Permanenz zu erklären, befaßt werden. Diese Einigung, die eigentlich gar nichts besagte, wurde vom Hauptausschuß der Abrüstungskonferenz am 8. Juni angenommen. Italien, Polen und Persien machten Vorbehalte. Nachdem, unter mühseliger Überwindung von Gegensätzen, die drei Sonderkomitees gebildet worden waren, vertagte am 11. Juni Henderson den Hauptausschuß der Abrüstungskonferenz, ohne einen neuen Zeitpunkt seines Wiederzusammentritts festzusetzen. In seinen Schlußworten erinnerte Henderson nochmals an die in der Entschließung gewünschten Verhandlungen der Regierungen, als deren Ziel die Rückkehr Deutschlands in die Abrüstungskonferenz bezeichnet worden war.

Damit war das aufregende internationale Spiel eines halben Jahres beendet mit dem Erfolge, daß Europa der Abrüstung ferner war denn je. Der ehrliche Friedenswille des Führers, durch direkte Verhandlungen zu einem Ergebnis zu kommen, hatte sich nicht durchsetzen können, da Frankreich beharrlich auf seinem unnachgiebigen Standpunkt beharrte.

Der Streit um die Abrüstung war in Genf mit der üblichen Gewandtheit begraben worden – das Wettrüsten hatte freie Bahn. Am 11. Juni äußerte der Staatssekretär Hull der Vereinigten Staaten:

      "Wir können nicht umhin, stark beunruhigt [167] zu sein; denn jenseits des Ozeans gibt es viel Grund zur Sorge. Im Augenblick nehmen die Rüstungen zu. Die Theorie, daß die Nationen nicht als Feinde, sondern als Nachbarn und Freunde leben sollten, scheint aufgegeben worden zu sein."

Die englische Regierung plante, in dem kommenden Jahrfünft ihre Luftflotte durch 50 neue Flugzeuggeschwader zu verstärken. Rußland baute Tausende von Kriegsflugzeugen, in Frankreich geschah dasselbe. Die ganze lothringische Grenze wurde in einzige Festung verwandelt. Verdoppelung des stehenden Heeres wurde geplant. In allen französischen Rüstungsfabriken herrschte Hochbetrieb, während in Marseille, Toulouse, Lyon Mitte Juni blutige Straßenkämpfe zwischen Polizei und Kommunisten stattfanden. Obwohl die Marxisten von der französischen Regierung rücksichtslos niedergeschlagen wurden, hatte die Sowjetregierung keine Bedenken, in Frankreich den Bau von Kriegsschiffen zu bestellen. In Genf war Barthou nicht müßig gewesen, dort hatte er die Annäherung Rußlands an die Tschechoslowakei und Rumänien betrieben. Sein Werk war der Vertrag, den am 9. Juni 1934 in Genf Sowjetrußland mit Rumänien schloß – der erste Vertrag zwischen beiden Staaten; er beseitigte die lange Feindschaft wegen Beßarabien. Außerdem erhielt Rumänien von Frankreich eine Rüstungsanleihe von 8 Millionen Pfund Sterling, die in erster Linie wieder der französischen Rüstungsindustrie zugute kam. Allein diese Tatsache kennzeichnete wieder einmal die Lage Frankreichs: die französische Regierung durfte nichts versäumen, um die Rüstungsindustrie ihres Landes bei guter Laune zu erhalten.

Die drei Lager in Europa hoben sich schärfer denn je ab: Deutschland, Polen, Ungarn; England, Italien und die Neutralen; Frankreich, Rußland und die Kleine Entente.

8.

In diese Zeit der politischen Hochspannung fielen zwei bedeutsame Reisen deutscher Staatsmänner. Minister Goebbels war von der "Intellektuellen-Union" nach Warschau einge- [168] laden worden. Am 13. Juni hielt der Minister dort eine Rede über den deutschen Nationalsozialismus. Dieser sei eine Äußerung des deutschen Charakters und habe lediglich eine deutsche Aufgabe zu erfüllen, er sei keine Exportware. Die nationalsozialistische Regierung strebe nach dem Frieden und der Versöhnung der Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung. Während seines Besuches wurde der deutsche Minister auch von Marschall Pilsudski empfangen. Die Begegnung der beiden Staatsmänner trug wesentlich zur Festigung der deutsch-polnischen Beziehungen bei und durchkreuzte die französischen Umtriebe in Osteuropa.

  Der Führer beim Duce  

Zur gleichen Zeit, vom 14. bis 16. Juni, weilte Adolf Hitler bei Mussolini. Es war eine welthistorische Begegnung zwischen dem Führer des deutschen Nationalsozialismus und dem Duce des italischen Faschismus; diese beiden mächtigen Volksbewegungen bildeten gleichsam eine Schicksalsgemeinschaft insofern, als ihr Sinn die rücksichtslose Ausrottung der übervölkischen und überstaatlichen Mächte, insbesondere des Marxismus war. Der Sinn der Zusammenkunft war es, den Kräften entgegenzutreten, die Italien und Deutschland verfeinden wollten, es waren dies Österreich und der Jesuitismus, und auch jenen, die den Frieden des neuen Europa gefährdeten durch die Rückkehr zur imperialistischen Politik von 1914. Hier handelte es sich um Frankreich.

Überall, wohin der Führer kam, wurde er von den Massen der Italier umjubelt. Überall wurde er mit "Evviva"-Rufen begrüßt. Das Volk bewies unverhohlen seine Sympathie für den Führer der Deutschen. Mussolini bezweckte mit dem Besuch Adolf Hitlers nicht die Demonstration einer ausschließlich italisch-deutschen Zusammenarbeit, für ihn blieb das Ideal nach wie vor die europäische Zusammenarbeit auf der Grundlage des von ihm geschaffenen Viererpaktes. So hatte die Begegnung in Venedig mehr den Wert einer persönlichen Fühlungnahme beider Staatsmänner, wobei in großen Zügen die allgemeine politische Lage durchgesprochen wurde, ohne daß irgendwelche festen politischen Abmachungen getroffen wurden. Dabei wurde weitgehende Übereinstimmung in den An- [169] sichten über den Zustand Europas festgestellt. In der Abrüstungsfrage stimmten, wenigstens nach der italischen Verlautbarung, beide Männer darin überein, daß, wenn für Deutschland die Gleichberechtigung tatsächlich und wirksam geworden sei, es in den Völkerbund zurückkehren könne. Hinsichtlich Österreichs waren Adolf Hitler und Mussolini, ebenfalls nach italischer Verlautbarung, darin einig, daß immer auf der Basis der österreichischen Unabhängigkeit die Herstellung normaler Beziehungen zwischen Deutschland und Österreich wünschenswert sei.

Adolf Hitler und Mussolini in Venedig.
[Bd. 8 S. 96a]      Adolf Hitler und Mussolini in Venedig.      Photo Scherl.

Am Vormittag des 15. Juni nahmen Mussolini und Adolf Hitler in Venedig den Vorbeimarsch der faschistischen Verbände ab. In der Ansprache, die der Duce bei dieser Gelegenheit hielt, sagte er:

      "Es hat in diesen Tagen in Venedig ein Treffen stattgefunden, auf das sich die Aufmerksamkeit der Welt konzentriert hat. Aber ich sage euch Italiern und allen jenseits der Grenzen, daß Hitler und ich uns hier getroffen haben, nicht um die politische Karte Europas und der Welt umzuarbeiten oder gar zu modifizieren oder um sonstige Motive der Unruhe noch denjenigen hinzuzufügen, die alle Länder schon beunruhigen, vom äußersten Orient bis zum äußersten Okzident. Wir haben uns vielmehr hier vereinigt zu dem Versuch, die Wolken zu verscheuchen, die den Horizont des politischen Lebens Europas verdunkeln.
      Noch einmal sei gesagt, daß eine schreckliche Alternative vor dem Bewußtsein aller europäischen Völker steht: Entweder finden sie ein Mindestmaß politischer Einheit, wirtschaftlicher Zusammenarbeit und moralischen Verstehens, oder das Geschick Europas ist unwiderruflich vorgezeichnet."

In der Morgenfrühe des 16. Juni kehrte der Führer von Venedig im Flugzeug nach Deutschland zurück. –

Der Führerbesuch in Venedig bewog Barthou, auf seiner Reise nach Bukarest am 20. Juni in Wien mit Dollfuß zusammenzutreffen, ihm nochmals persönlich die Unabhängigkeit auf Grund der Erklärung von Mitte Februar 1934 zu garantieren (siehe 6. Kapitel) und die Förderung der wirtschaft- [170] lichen und finanziellen Entwicklung Österreichs im Rahmen der Empfehlungen der Konferenz von Stresa in Aussicht zu stellen. Auch lud er Dollfuß nach Paris ein. Der Sinn der Balkanreise Barthous war der Abschluß eines Ostlocarno- und eines Mittelmeerpaktes zwischen Frankreich und der Kleinen Entente, worüber nicht nur in Italien, sondern auch in Ungarn größte Unruhe herrschte. Frankreich glaubte, mit diesen Pakten nicht nur Italien, sondern auch Deutschland zu lähmen.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra