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[Bd. 5 S. 178]

3. Kapitel: Die neue Linie der französischen Sicherheitspolitik.

Die beiden Konferenzen im Haag schlossen jene Ära der Reparationen in der europäischen Geschichte ab, die sich von Versailles herleitete. Sie empfingen ihren Charakter von dem Widerstreit der beiden Machtprinzipien: dem weltpolitischen Großbritanniens und dem rein europäischen Frankreichs. Es war nicht entschieden, welches dieser beiden Prinzipien sich eigentlich durchsetzen konnte, denn sie beide waren von gleicher Heftigkeit und Stärke. Das Vermögen, dem einen oder dem andern das Übergewicht zu leihen, ruhte allein bei Deutschland. Der Schuldner, zwischen zwei gleich starke oder auch gleich schwache Gläubiger gestellt, hatte es in der Gewalt, die weltpolitische Linie, welche größere Freiheiten mit sich brachte, dem deutschen Volke seine Selbstbestimmung allmählich zurückgegeben hätte, oder die rein europäische Linie zu wählen, welche für Deutschland auch fernerhin Fügung in die politische Hegemonie Frankreichs bedeuten mußte. Deutschland entschied sich für Frankreich.

  Frankreichs Sicherheit  

Für Frankreich lag in der Entscheidung Deutschlands der Sieg. Dennoch empfand Frankreich das Ergebnis der Haager Konferenz, insonderheit, soweit es mit der Rheinlandräumung zusammenhing, als eine Niederlage. Sie konnte zum Vorteil werden, wenn es Briand gelang, als Gegengabe für das geräumte Rheinland die große Frage der Sicherheit in einem für Frankreich günstigen Sinne endgültig zu lösen. Das heißt also: das System von Locarno, das den Franzosen stets nur als eine Zwischenlösung erschien, mußte erweitert, auf ganz Europa ausgedehnt werden, der Westpakt von 1925 mußte im Sinne des Genfer Protokolls von 1924 vervollkommnet werden. Dann hatte Frankreich als Hüter von Europas Sicherheit auch die Führung Europas in Händen.

Das waren die Erwägungen, welche Briands weiteres Verhalten nach der ersten Konferenz im Haag bestimmten. Und wie schon einmal im Kriege Frankreich es glänzend verstand, [179] sich zum Verteidiger der menschheitsbefreienden demokratischen Idee zu machen, so ward Briand jetzt der beredte Anwalt einer neuen humanitären Idee: der europäischen Union. Wieder einmal, wie schon so oft in Europas Vergangenheit, war der Augenblick gekommen einer res Dei gesta per Francos.

In den ersten Septembertagen 1929, da der Völkerbund in Genf tagte, gab MacDonald den Auftakt zu großen politischen Erörterungen. Er hielt eine Friedensrede, die um eine große, aber gefährliche Achse kreiste: die Abrüstung. Im Herzen befürwortete er die Forderung Deutschlands und der neutralen Staaten, die in der Verminderung der Rüstungen eine Voraussetzung für die internationale Sicherheit erblickten, doch die Stimme der Vernunft gebot ihm, auch die französische Auffassung vom Primat der Sicherheit nicht eindeutig abzulehnen. So war seine Haltung eine schwankende, und dennoch eine starke Bekenntnis für die Möglichkeit enger internationaler Zusammenarbeit auf dem Boden der gegenseitigen Selbstachtung der Völker. An die Stelle des Rüstungsgedankens müsse das Vertrauen treten und das gegenseitige Verständnis, damit eine neue Ära des internationalen Zusammenlebens bald herbeigeführt werden könne.

So war der Boden bereitet für Briand, der nun in glänzender Rede den aufhorchenden Völkern seinen Plan vorlegte. Vorsichtig, in schillernder Verkleidung, sich an Gedanken anlehnend, die bereits im Schoße des Völkerbundes bewegt wurden, aber zielbewußt wirkte hinter seinen Worten Frankreichs harter Wille, die Führung Europas nicht aus der Hand zu lassen um des Lieblingsgedankens der Sanktionen willen:

      "Ich habe mich seit einiger Zeit der Propaganda einer Idee angeschlossen, die man wohl nur deshalb edel nennt, um sie nicht mit dem Worte unvorsichtig zu bezeichnen. Diese Idee, die schon vor Jahren aufgetaucht ist und die Phantasie von Philosophen und Dichtern beschäftigt hat, was ihr einen gewissen Achtungserfolg zuzog, sie hat immer mehr an Bedeutung zugenommen durch ihren eigenen Wert. Sie erscheint heute geradezu als eine Notwendigkeit. Propagandisten haben sich vereinigt, um sie zu vertreten und sie immer mehr in den Geist der Völker eindringen zu lassen. Ich gestehe, daß ich [180] mich unter diesen Propagandisten befinde... Ich denke, daß über den Völkern, die geographisch so nahe beieinander gruppiert sind wie die Völker Europas, eine Art gemeinsamen Bandes bestehen sollte. Diese Völker sollten zu jeder Zeit die Möglichkeit haben, miteinander in Kontakt zu treten, um ihre Interessen zu besprechen, die notwendigen gemeinsamen Entschließungen zu fassen und unter sich ein Band der Solidarität zu knüpfen, das ihnen die Möglichkeit gibt, auch schwierigen Situationen zu begegnen, denen sie gegenüberstehen könnten. Und daran, dieses Band zu schaffen, meine Herren, möchte ich mitarbeiten. Es ist selbstverständlich, daß sich diese Vereinigung in erster Linie auf wirtschaftlichem Gebiete geltend machen wird, denn hier ist sie am dringlichsten. Und ich glaube, daß man hier auch Erfolg haben würde. Ich bin aber der festen Überzeugung, daß auch auf politischem und sozialem Gebiete ein solches gemeinsames Band, das die Souveränität der einzelnen Nationen durchaus nicht zu berühren brauchte, sehr wohltätig wirken könnte. Ich möchte vorschlagen, daß diejenigen meiner Herren Kollegen, die hier europäische Staaten vertreten, während der Dauer der Tagung inoffiziell Veranlassung nehmen, die Frage zu prüfen und ihren Regierungen zum Studium anzuempfehlen, um später, vielleicht in der nächsten Völkerbundsversammlung, die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung im einzelnen zu behandeln."

Es war ein ganz vorsichtiges Sondieren, das diese Rede Briands ausdrückte. Und ebenso vorsichtig betrat der deutsche Außenminister Stresemann den neuen, unbekannten Boden. Er wies auf die ungelösten Kardinalprobleme der Nachkriegszeit hin, das mangelhafte Minderheitenrecht und die noch bis jetzt versäumte allgemeine Abrüstung. Dann hob er die Bedeutung des Kelloggpaktes hervor, und erklärte: "Der Krieg läßt sich nicht dadurch verhüten, daß man den Krieg gegen den Krieg vorbereitet, sondern nur dadurch, daß man seine Ursachen beseitigt." Sehr lebhaft aber ging der deutsche Außenminister auf den Plan Briands ein, doch mit Vorbehalten. Nicht die politische Seite der europäischen Zusammenarbeit schien ihm das Wichtigste, denn da lag noch manches im Argen, das Minderheitenrecht und die Abrüstung, sondern die wirt- [181] schaftliche. Man müsse die europäische Wirtschaftseinigung herbeiführen. Es sei bei der Schaffung neuer Staaten viel Widersinniges gemacht worden. Wo bleibe die europäische Münze, wo die europäische Briefmarke? Er hoffe, daß die 27 Zollgrenzen in Europa in wenigen Jahrzehnten als ein mittelalterlicher Zustand angesehen werden.

Dergestalt begannen die Kräfte des Völkerbundes um ein neues Großes, Unbekanntes zu kreisen. Es war bezeichnend, daß die Initiative von Briand ausging, indem er ein unbewußtes Drängen der andern in französischem Geiste zu formen suchte. Vorsichtig, zurückhaltend, behutsam vorwärtstastend waren sie alle drei, MacDonald mit seinem Abrüstungsideal, Briand mit seinem Sicherheitsideal, Stresemann mit seinem Wirtschaftsideal. Militärisch, politisch, wirtschaftlich konnte man Europa mit Neuerungen beglücken, aber das Entscheidende war, daß die Formel von der europäischen Zusammenarbeit von Briand geprägt worden war.

  Briand im Völkerbund  

Vier Tage nach diesen Auseinandersetzungen, am 9. September, versammelte Briand die Vertreter von 27 europäischen Staaten um sich, die dem Völkerbund angehörten. Hier wurde Briand kühner, konkreter. Selbst das Wirken des Völkerbundes sei durch die Zerstückelung Europas behindert. Dies müsse auf seine geographische Einheit eine moralische Solidarität gründen. So müsse man also eine moralische europäische Union schaffen, man müsse sich über die Einrichtung einer Art von Bundesverhältnis zwischen den europäischen Völkern verständigen, auf diese Weise wolle man eine ständige Solidarität herstellen, um alle Probleme gemeinsam zu lösen. Diese europäische Union solle sich nicht gegen den Völkerbund und andere Erdteile richten, sondern die Tätigkeit des Völkerbundes unterstützen; das war ein Zugeständnis, das Briand Großbritannien und Deutschland, dann auch den andern Staaten machte. Schließlich wurde Briand aufgetragen, ein Memorandum über die Frage auszuarbeiten und dies an die Regierungen zu verschicken, die Antworten sollten dann der nächsten Völkerbundsversammlung vorgelegt werden. So ward die Konstitution der Vereinigten Staaten von Europa bis auf weiteres Frankreich zu getreuen Händen [182] übergeben. Und damit erhielt Frankreich bis auf weiteres auch die moralische Führung Europas.

  Widerstände in Frankreich:  
Angriffe gegen Briand

In Frankreich wirkte und entwickelte sich die neue Idee. Hier gewann sie Form und Gestalt, und zwar in Kampf mit den nationalistischen Gegnern Briands. Und so wurde die Idee der Vereinigten Staaten von Europa ganz von selbst den nationalen Forderungen Frankreichs angepaßt. Am 20. Dezember erklärte der Nationalist Senator Lemery im Senat, man habe nun genug von den platonischen Friedensbeteuerungen des Außenministers Briand. Man wünsche endlich, konkrete Antworten auf konkrete Fragen zu erhalten. Augenblicklich sei die französische Öffentlichkeit ganz besonders an der Lockerung der militärischen Kontrolle im Rheinland interessiert, die demnächst mit der Räumung der dritten Zone ganz aufhören werde. In Genf sei Deutschland bereit gewesen, sich mit einem Kontrollorgan abzufinden, in Haag aber habe sich Briand mit einer Regelung abspeisen lassen, die keinerlei praktischen Wert habe und die dem deutschen Außenminister das Recht gegeben habe, über die endgültige Preisgabe der Militärkontrolle zu triumphieren.

Daraufhin erwiderte Briand: Man mache ihm zum Vorwurf, daß er kein Vertrauen zum Vertrage von Versailles habe. Er stehe demgegenüber nicht an, zu erklären, daß dieser Vertrag sehr viel Gutes und sehr viel weniger Gutes und vor allem sehr viele Lücken enthalte, die auszufüllen von jeher das Ziel seiner Politik gewesen sei. Die Verträge von Locarno seien immerhin eine wertvolle Ergänzung zum Versailler Vertrag gewesen. Auch in der umstrittenen Frage der Militärkontrolle bedeuteten die Abmachungen von Locarno einen wesentlichen Fortschritt gegenüber dem Friedensvertrag. Frankreich habe damit das Recht erhalten, für den Fall, daß Deutschland in der entmilitarisierten Zone Truppen konzentriere oder strategische Bahnen baue, die nötigen Maßnahmen zu treffen, ohne daß diese als feindselige Aktion ausgelegt werden könnten. Die in London geschaffenen Schlichtungsausschüsse aber hätten ausreichende Vollmachten, um jede Verfehlung Deutschlands in der neutralen Zone rechtzeitig kontrollieren zu können. Selbst General Baratier, der Vorsitzende des Interalliierten Militär- [183] komitees, sei der Ansicht, daß mehr beim besten Willen nicht zu erreichen gewesen sei. Im übrigen scheine man wohl vergessen zu haben, daß Deutschland vor wenigen Jahren unter den Augen der Kontrollkommission neue Befestigungen an der Ostgrenze gebaut habe. Darin liege der unwiderlegliche Beweis, daß es mit der Militärkontrolle allein nicht getan sei. Wenn das Parlament die Räumung der dritten Zone zu verhindern wünsche, brauche es nur den Youngplan und die Haager Vereinbarungen abzulehnen, aber es werde dann wohl sehr bald selbst zur Einsicht kommen, daß man einem Volke von 60 Millionen gegenüber die Politik unmöglich auf Zwang und Gewalt aufbauen könne. Ohne eine Politik der Entspannung zwischen den Völkern sei es unmöglich, in Europa den Frieden zu sichern. Jede andere Politik müsse zu den schlimmsten Abenteuern führen. Es sei leicht, über den Völkerbund und den Antikriegspakt zu spotten, sie hätten aber immerhin das Verdienst, bereits zwei bewaffnete Konflikte verhindert zu haben. Auch bei den jüngsten Verhandlungen im Haag sei von der Regierung nichts versäumt und keines der französischen Rechte leichtfertig preisgegeben worden. Das Verlangen nach der dauernden Kontrolle im Rheinlande sei von Frankreich gestellt, aber abgelehnt worden, weil im Vertrage von Versailles keine rechtliche Handhabe dafür vorhanden gewesen sei. Hätte Frankreich deshalb erneut selbständig vorgehen sollen? Die Erfahrungen der vergangenen Zeit seien nicht dazu angetan, die französische Regierung auf diesem Wege zu ermutigen. Die Formel: Wer den Frieden wolle, müsse den Krieg vorbereiten, lehne er ab, denn sie habe bereits zuviel Unheil angerichtet. Die bisherigen Ergebnisse seiner Friedenspolitik aber berechtigten dazu, auch der Zukunft mit Optimismus entgegenzusehen.

Diese Ausführungen Briands zeigten an, daß er auch in seiner Politik der europäischen Union bereits eine Wandlung vorgenommen hatte, insofern nämlich als er jetzt den wirtschaftlichen Vorwand, den er noch in Genf an erste Stelle gesetzt hatte, zurücktreten ließ ganz offen hinter den politischen Zweck der Sicherheit. So war die Briandsche Paneuropaidee in das Bette der französischen Sicherheitspolitik eingemündet, [184] und dieser für die Zukunft vorgezeichnete Weg wurde klar und eindeutig in der Entschließung vorgezeichnet, die der Senat mit 253 Stimmen gegen Lemery und Millerand annahm: "Der Senat hat das Vertrauen in die Regierung, daß sie eine Politik der nationalen Sicherheit und gleichzeitig eine der internationalen Verständigung führt, wie sie sich in den Verträgen von Locarno und Paris ausdrückt." Damit war Briands weiteres Vorgehen in der Frage der europäischen Union klar auf die Linie der französischen Sicherheitspolitik festgelegt.

Diese klare und strenge Formulierung gab anderseits dem Ministerpräsidenten Tardieu die Kraft, der obstinaten nationalistischen Rechten entgegenzutreten, wie er dies in einer Kammersitzung am 26. Dezember tat. Tardieu hatte eine breite geschlossene Front hinter sich, und diesmal ward Herriot zum Sprecher für die Vereinigten Staaten von Europa. Ihre Verwirklichung in naher Zukunft sei das einzige mögliche Mittel zur Rettung des Kontinents. Es handele sich weder um die Aufgabe der nationalen Souveränität noch um einen Zollverein. Frankreich erhebe für sich keinen Anspruch auf eine Vormachtstellung in Europa, aber Europa habe nur die Wahl, sich politisch und wirtschaftlich eine Gemeinschaftsorganisation zu schaffen, oder aber der "Kolonisation" anheimzufallen. Der Anfang zu dieser Organisation sei gemacht mit der Internationalen Zahlungsbank und in den großen deutsch-französischen Industriekartellen. Aufgabe der Staaten sei es, diese Verständigung zwischen den Privatwirtschaften nach Möglichkeit zu fördern, zugleich aber auch dafür zu sorgen, daß in den Verbänden dieser Art die höheren Interessen der Allgemeinheit sich voll auswirken könnten; Frankreich werde der Sache des Friedens einen großen Dienst erweisen, wenn es sobald als möglich in Genf ein konkretes Projekt für die Schaffung der europäischen Föderation einbringe. Amerika, das Europa auf diesem Wege wiederholt ermuntert habe, werde daran keinen Anstoß nehmen. Die moralische Ächtung des Krieges reiche nicht aus, sie müsse in einer starken Organisation des Friedens ihre Ergänzung finden.

Dies also waren die großen Tendenzen der französischen Politik, die im geheimen auch die Verhandlungen im Haag durchdrangen. Es standen sich im Haag, wie schon gesagt, [185] zwei Strömungen gegenüber: die französische, die aus der eben geschilderten Bewegung ihre Kraft zog und die "Befriedung" Europas zum Schutze Frankreichs erstrebte, und die englische, die eine "Befriedung" der Welt zum Schutze Großbritanniens wünschte. Die Auffassung Frankreichs war die stärkere, weil Deutschland ihr beitrat. Die Auffassung Englands aber, welche in der Londoner Flottenkonferenz zur Verminderung der Seerüstungen (21. Januar bis 22. April) zum Ausdruck kam, berührte Europa wenig, Deutschland gar nicht.

Zollkonferenz des
  Völkerbundes 1930  

Eine Stelle aber gab es, die durch die französische Aktion beunruhigt wurde, die eine Rivalität Frankreichs, einen Eingriff in ihre Rechte fürchtete: der Völkerbund in Genf! Ihm lag es am Herzen, durch selbständiges Vorgehen den französischen Bestrebungen zuvorzukommen. Denn es hatte in der Tat von Anfang an den Anschein, als handle es sich um eine rein französische Angelegenheit, die herzlich wenig nach dem Genfer Völkerbund fragte. So wurde dann am 17. Februar beim Völkerbund die seit langem vorbereitete Internationale Zollfriedenskonferenz eröffnet. Ihr Vorsitz lag in den Händen des ehemaligen dänischen Außenministers Moltke. 34 Staaten hatten etwa 200 Delegierte entsandt zu dieser "Konferenz für ein gemeinsames wirtschaftliches Vorgehen". Von Deutschland waren der Reichswirtschaftsminister Schmidt, der Reichsfinanzminister Hilferding und eine Reihe von Sachberatern erschienen.

Über die politische Stellung und Bedeutung der Konferenz war man sich in aller Welt von vornherein klar. Deutsche Zeitungen wie die Magdeburgische z. B. gaben folgende richtige Charakteristik:

      "Die betont europäische Zusammensetzung der Konferenz ist ein Ergebnis der in diesem Falle sehr geschickten Völkerbundsregie. Sie hat es verstanden, den Septembervorstoß Briands zugunsten der politischen Paneuropaidee und die wirtschaftlichen Forderungen Stresemanns und Grahams nach nur europäischer Zusammenarbeit in einem ersten gemeinsamen Versuch zur Schaffung eines größeren europäischen Innenmarktes zu sammeln. Die Fragestellung auf den vorbereitenden Verhandlungen war so, daß schließlich nur die europäischen Staaten als Beschicker der Zollwaffenstillstands- [186] konferenz übrig blieben, ohne daß die übrigen Staaten diese Verhandlungen als unfreundliche europäische Sonderpolitik betrachten können, weil sie eben unter dem neutralen Schutz des Völkerbundes vor sich gehen."

Allerdings hatten die Beteiligten von Anfang an kein großes Vertrauen zum Gelingen ihres Werkes. Man argwöhnte, daß auch in diesem Falle, wie schon so oft, die Theorie stärker sein würde als der praktische Wille. Trotzdem erklärte der deutsche Minister Schmidt, daß man sich an die Ideen Stresemanns halten müsse, wenn man, wie im September beschlossen, an die praktische Beilegung der europäischen Schwierigkeiten herangehen wolle. Allerdings scheine es, als ob der Gedanke an den Abschluß eines allgemeinen Vertrages für einen Zollfrieden etwas ins Wanken geraten sei. Dennoch sei Deutschland bereit, jede Mitarbeit zu leisten, die auf eine wirtschaftliche Verständigung und Annäherung der Nationen bedacht sei.

Und schon nach den ersten Verhandlungstagen war die Zollfriedensbewegung völlig zerrüttet. Vier Gruppen standen mit ihren Wünschen gegeneinander: England, das den Zollfrieden in der beabsichtigten Form verwirklichen möchte, dann ein Block der Randstaaten, Donauländer und belgisch-luxemburgischen Union, wozu auch teilweise Deutschland und Frankreich neigten, welche ein untergeteiltes System von regionalen Zollabkommen befürworteten, drittens Frankreich, das sich in erster Linie auf Abmachungen zwischen den Industrien in Form von Kartellen und Konzernen beschränken wollte, und schließlich Italien, welches das bisherige System der zweiseitigen Handelsverträge nicht aufgeben wollte.

Dann brachte der rumänische Finanzminister Madgcaru neue Sonderwünsche der ost- und südosteuropäischen Agrarländer vor, sie könnten nicht auf den Schutz ihrer jungen und entwicklungsfähigen Industrien verzichten, auch Spanien hatte nicht die Absicht, seinen Industriekörper in den großen Körper der europäischen Wirtschaft aufgehen zu lassen, und Polen und die osteuropäischen Staaten standen auf dem gleichen Standpunkt.

So stritt man fünf Wochen hin und her und erntete endlich am 24. März ein mageres Ergebnis: die Zollfriedenskonferenz [187] unterzeichnete drei Dokumente, ein Handelsabkommen über die Verlängerung der Handelsverträge um ein Jahr; ein Protokoll über die weiteren wirtschaftlichen Verhandlungen und einen offiziellen Schlußakt, der eine unverbindliche Empfehlung für die weitere wirtschaftliche Zusammenarbeit enthielt. Ihre Unterschrift gaben Deutschland, Österreich, Belgien, England, Estland, Finnland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Holland, Schweiz, das dritte Protokoll wurde außerdem von Lettland, Litauen, Griechenland und Portugal unterzeichnet. Kaum die Hälfte aller europäischen Staaten hatte ihre Unterschrift gegeben!

Die Schlußprotokolle waren mehr eine Sache der Form als des Erfolges: die Mächte verpflichteten sich, ihre Handelsverträge bis zum 1. April 1931 nicht zu kündigen, diejenigen, die nicht handelsverträglich gebunden waren, wie England, Dänemark, Holland, Norwegen, verpflichteten sich, ihre Schutzzölle nicht zu erhöhen und keine neuen Schutzzölle einzuführen. Schutzmaßnahmen, die eine Befolgung dieser negativen Verpflichtungen sicherten, waren nicht vorgesehen. Im Gegenteil: verletzte eine Macht dieses Abkommen, so konnte die davon betroffene Macht Verhandlungen anstreben, scheiterten diese, dann war die betroffene Macht berechtigt, das Abkommen zu kündigen, entweder der Macht, die das Abkommen verletzte, oder allen beteiligten Mächten gegenüber. – Nichts war erreicht, und die Zollkonferenz des Völkerbundes bildete ein neues unfruchtbares Intermezzo in der Geschichte des uneinigen Europa. –

  Briands Memorandum  
über Paneuropa

Endlich, am 17. Mai, überreichten die Vertreter Frankreichs den europäischen Regierungen das seit langem angekündigte und erwartete "Memorandum über die Organisation eines Systems eines europäischen Staatenbundes" von Briand. Die Einleitung sagte etwa folgendes:

      "Das Werk der Zusammenfassung Europas entspricht Notwendigkeiten, die dringend und lebenswichtig genug sind, um dieser Zusammenfassung ihren Selbstzweck in wahrhaft positiver Arbeit zu geben, die sich niemals gegen irgend jemand richten kann und richten läßt. Ganz im Gegenteil. Dies Werk muß in vollem freundschaftlichen Vertrauen, oft sogar in Zusammenarbeit mit allen an- [188] dern Staaten oder Staatengruppen betrieben werden, die an der universalen Gestaltung des Friedens genug aufrichtiges Interesse haben, um zu erkennen, wie wichtig es ist, daß in Europa eine größere Einheitlichkeit geschaffen wird; die ferner die heutigen Gesetze der internationalen Wirtschaft klar genug verstehen, um die Stabilität, die für die Entwicklung ihres eigenen wirtschaftlichen Austausches unerläßlich ist, in der besseren Gestaltung eines vereinfachten Europa zu suchen, das eben dadurch der ständigen Gefahr vor Konflikten entrückt wird."

Die Politik europäischer Einigung, die heute das Ziel des Strebens nach einem ersten Bande der Solidarität zwischen europäischen Regierungen sein müsse, berge tatsächlich eine Auffassung in sich, die absolutes Gegenteil derjenigen sei, die früher in Europa die Bildung von Zollunionen bestimmte, bei denen die inneren Zölle abgeschafft, an den gemeinsamen Grenzen dagegen um so höhere Schranken errichtet wurden, d. h. in Wirklichkeit ein Werkzeug zum Kampfe gegen die Staaten waren, die außerhalb dieser Unionen blieben.

Diese europäische Gemeinschaft müsse sich im Rahmen des Völkerbundes halten und eine Art regionaler Untergliederung des Völkerbundes darstellen. Deshalb müßten auch diejenigen Staaten, die dem Völkerbunde nicht angehörten, also Rußland und die Türkei, außerhalb dieser Gemeinschaft bleiben. Auch dürfte trotz der Universalität des Zieles die Souveränität und völlige politische Unabhängigkeit der einzelnen Staaten durch diese Verständigung nicht berührt werden.

So liegt also vor "die Notwendigkeit eines allgemeinen, wenn auch noch so elementaren Vertrages (an anderer Stelle "symbolischen" Vertrages) zur Aufstellung des Grundsatzes der moralischen Union Europas und zur feierlichen Bekräftigung der zwischen europäischen Staaten geschaffenen Solidarität". Dieser Vertrag wäre, wie gesagt, "anfänglich" nur denjenigen europäischen Staaten vorzubehalten, die Mitglieder des Völkerbundes seien.

Dann wäre es auch notwendig, Organe zu schaffen, welche der europäischen Union die Erfüllung ihrer Aufgabe ermöglichen. Es kämen hierzu in Frage eine europäische Konferenz, die etwa der Völkerbundsversammlung entspricht, ein politi- [189] sches Komitee als Ausführungsorgan, entsprechend dem Völkerbundsrate und ein Sekretariat zur Erledigung der technischen Aufgaben, wie auch ein solches beim Völkerbund besteht. Der Vorsitz müsse wechseln und der Reihe nach ausgeübt werden, um das Übergewicht eines Staates zu vermeiden, ganz so, wie es beim Völkerbund der Fall ist.

Ferner muß die allgemeine Richtlinie der Union sein die grundsätzliche Unterordnung des Wirtschaftsproblems unter das politische Problem. Dies war das Neue, Überraschende. Denn ursprünglich stellte Briand das wirtschaftliche Problem als das beherrschende hin, worauf der Völkerbund mit seiner Zollkonferenz antwortete; jetzt aber, bedingt durch die oben geschilderte innerpolitische französische Beeinflussung des Unionsgedankens und durch die Ergebnislosigkeit der Zollkonferenz, trat der politische Gedanke in den Vordergrund.

Der Endzweck des engeren politischen Zusammenwirkens in Europa sei ein Bund auf der Grundlage des Gedankens der Einigung, nicht der Einheit; d. h. er müsse elastisch genug sein, um die Unabhängigkeit und nationale Souveränität jeden Staates zu wahren, aber allen den Vorteil kollektiver Solidarität bei der Regelung der politischen Fragen zu gewährleisten, die das Schicksal der europäischen Gemeinschaft oder eines ihrer Mitglieder betreffen. Der Begriff der wirtschaftlichen Organisation Europas habe den Endzweck, die europäischen Volkswirtschaften unter der politischen Verantwortung der solidarischen Regierungen durch eine solidarische Zollpolitik gegenseitig anzunähern.

Andere Gebiete der europäischen Zusammenarbeit wären: Volkswirtschaft im allgemeinen, wirtschaftliche Ausrüstung, Verkehrsfragen, Finanzfragen, Hygiene, intellektuelle Zusammenarbeit, interparlamentarische Beziehungen, Verwaltung usw. Eine Erwähnung militärischer Interessengemeinschaften wurde aus guten Gründen ängstlich vermieden.

Man müsse möglichst sofort ein einfaches Bundesverhältnis ausfindig machen:

      "Nie war die Stunde günstiger und nie war es dringender, ein Werk des Aufbaues in Europa zu schaffen. Durch die Regelung der wichtigsten materiellen und moralischen Probleme, die der Krieg gezeitigt hat, wird das neue [190] Europa sich bald von der Bürde befreien, die so schwer auf seinem Geiste wie auf seiner Wirtschaft gelastet hat. Schon jetzt erscheint es zu einer positiven Anstrengung befähigt, die einer neuen Ordnung entspricht. Es ist eine Entscheidungsstunde, wo ein waches Europa sein Schicksal selbst bestimmen kann." –

Was Briand hier der Welt anbot, war ganz unverhüllt ein europäischer Völkerbund mit französischen Zielen im allgemeinen Völkerbund. Briand hatte sich als der kleine Wilson Europas entpuppt. Und so faßte Europa auch den französischen Vorschlag auf. Darum fand er nicht freudige Aufnahme, sondern Zurückhaltung, und in der englischen Presse geradezu Ablehnung. Auch Deutschland stimmte Paneuropa in der von Briand vorgeschlagenen Form keineswegs zu. Die allgemeine Auffassung, von der man in Europa und auch in Deutschland ausging, war die: das Einheitsstreben Europas werde nicht hervorgerufen durch einen politischen Willen oder moralische Erkenntnis, sondern durch wirtschaftliche Notwendigkeiten, durch die Gefahr, daß die übermächtige Konkurrenz Amerikas und bald vielleicht auch Asiens die Wirtschaft aller europäischen Völker am Lebensnerv treffen könne. Frankreich aber wollte Paneuropa nur gestatten, wenn es die militärische und politische Hegemonie Frankreichs in Europa bestätige und bekräftige, wenn das Genfer Protokoll Wirklichkeit werde.

Kongreß der
  Paneuropäischen Union  

In der Zeit vom 27. Juni bis 6. August gingen die Antworten der europäischen Regierungen. Sie gaben einen Überblick über die Nöte und Sehnsüchte des geschwächten Europa. Doch unmittelbar nach Veröffentlichung des Memorandums, am 18. und 19. Mai, tagte in Berlin der Kongreß der Paneuropäischen Union, deren Vorsitzender Graf Coudenhove-Kalergi war. Schon hier zeigten sich Gegensätze. Die Franzosen Loucheur und Serruys bewiesen die Notwendigkeit des Zusammenschlusses, um die wirtschaftliche und soziale Not zu lindern. Der Engländer Amery, früher Marineminister, lehnte die Beteiligung an einem europäischen Staatenbund rundweg ab, da Englands Interesse mehr dem Empire als Europa gelte. Doch sei eine Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und Europa in den großen Weltfragen immerhin möglich. Der jugo- [191] slawische Außenminister Nintschitsch bemühte sich, Paneuropa in den Völkerbund einzuordnen.

Graf Coudenhove-Kalergi selbst deckte keineswegs den Briandschen Entwurf: er sei nur eine Etappe auf dem Wege zu Paneuropa. Für ihn, Coudenhove, sei Paneuropa eine moralische Bewegung, deren Ziel Frieden und Rettung der europäischen Kultur und Bekämpfung des Elends sei. Dies Ziel müsse erreicht werden, unbekümmert um die Schwankungen der Tagespolitik, die Stellungnahme der Regierungen und Parteien. Eine dauernde Lösung müsse gerecht und sittlich sein. Jeder wünsche ein Paneuropa auf Kosten seiner Nachbarn, keiner wolle Opfer bringen. Opferwilligkeit sei die Grundbedingung für Paneuropa. Das neue Europa fordere neue Europäer. Deshalb wollte Coudenhove den neuen, europäischen Geist schaffen, eine Aufgabe, für die Thomas Mann seine Mithilfe in Aussicht stellte. – So prallten bereits hier in Berlin die beiden Energien der Paneuropabewegung aufeinander: die ideal-kulturelle pazifistische des Grafen Coudenhove und die militärische französisch-realpolitische Briands. Die Anhänger der Bewegung waren der Ansicht, daß beide Auffassungen sich ergänzen und durchdringen müßten, um erfolgreich in Europa zu sein! –

  Antwort Italiens  

Die erste Großmacht, die Briands Memorandum beantwortete, war Italien mit seiner Note vom 6. Juli. Die faschistische Regierung erklärte sich einverstanden, verlangte aber ausdrücklich, daß der Unterschied zwischen Siegern und Besiegten zu verschwinden habe. Auch Sowjetrußland und die Türkei, die nicht Mitglieder des Völkerbundes seien, sollten zur nächsten Besprechung nach Genf eingeladen werden. Das europäische System müsse in einen Weltzusammenhang gebracht werden, denn das französische Projekt sei nicht nur imstande, das Prinzip des Weltzusammenhanges zu schwächen, sondern auch zur Gruppierung andrer Mächte zu führen, wodurch die Einheit des Völkerbundes gefährdet werden könne. Anderseits solle jeder Teilnehmer der europäischen Föderation auch Teilnehmer des Völkerbundes werden, damit dieser die Exekutive der Föderation in die Hand nehmen könne. Auf diese Weise würde das Sicherheitsproblem gelöst. Die politischen Voraus- [192] setzungen des Völkerbundes sollten auch der europäischen Föderation dienen. Diese dürfe aber nicht das System der Sicherheit erstarren lassen, sondern sei verpflichtet, die sehr deutlichen Verpflichtungen des Völkerbundes zur Abrüstung durchzuführen. Alle Sicherheit sei illusorisch, wenn nicht abgerüstet werde.

      "Wenn man wirklich alle Kräfte in der Richtung auf eine europäische Union vereinigen will, und zwar auf eine Zusammenarbeit, die die Nationen Europas enger aneinanderknüpfen soll, dann ist vor allen Dingen das Problem der Abrüstung anzupacken. Dieses Problem der Abrüstung ist in dem französischen Memorandum nicht ausdrücklich erwähnt worden. Aber es ist die Ansicht der faschistischen Regierung, daß von hier aus der Ausgangspunkt für eine wirkliche Zusammenarbeit der europäischen Nationen und für ihre wahre Sicherheit allein gefunden werden kann."

Neben dieser offiziellen Äußerung der italienischen Regierung gab Benito Mussolini auch in Presseäußerungen seine private Ansicht der Welt bekannt. Er sagte da: Geschlossene Völkergruppen weise die Welt bereits mehrere auf; Großbritannien, Pan-Amerika infolge der Monroedoktrin, Pan-Rußland, Pan-Indien und so fort. Aber es gebe drei Musterbeispiele von Staatenbünden, die die Proben der Zeit und mancherlei Kämpfe überstanden hätten, das Britische Reich, die Vereinigten Staaten von Amerika und das Deutsche Reich.

      "Alle diese drei erfolgreichen Bünde weisen ein gemeinsames Element auf, das zu ihrer Zusammenschmiedung beigetragen hat: ohne den Drang, gemeinsam das Geschick des Bundes zu gestalten, würde bei all diesen Föderationen die aus einem Guß geschaffene Festigkeit fehlen. Der Gedanke vereinter Abwehr feindlicher Angriffe und darüber hinaus der Gedanke einer Schicksalsverbundenheit haben diese drei großen Bundesstaaten zu voller Erkenntnis ihrer Untrennbarkeit geführt. Sie werden in dem Bunde nur solange bleiben, und die Einzelteile werden nur solange verschmolzen sein, wie jenes gemeinsame Ziel, die allen Teilen gemeinsame wesentliche Bedingung vorhanden ist, die in dem unverletzten Verbundenheitsgefühl der einzelnen Gliedstaaten besteht."

Den "Vereinigten Staaten von Europa" aber fehle die Ge- [193] meinsamkeit von Willensrichtung, Ziel und Schicksal. Die Ziele der europäischen Staaten seien nicht nur verschieden, sondern stünden einander sogar im Wege. Europa sei heute zu mannigfaltig, als daß es zu einer Einheit verschmolzen werden könne, in der die Interessen und Ziele der Einzelnen in dem Gedanken an die Wohlfahrt des Ganzen aufgehen könnten. Verschmelzung würde einen Bastard, aber kein Vollblut hervorbringen. Wie wollte man z. B. Großbritannien und Rußland auf ein gemeinsames Ziel vereinigen? "Bevor wir zu einer allgemeinen Verschmelzung der Ziele kommen können, wäre eine ernste und unvoreingenommene Überprüfung der bestehenden Verträge nötig."

Italien verhielt sich also ablehnend, sehr zum Ärger Frankreichs.

  Antwort Deutschlands  

Am 15. Juli antwortete Deutschland. Es empfinde den Mangel der Struktur Europas am stärksten und sei deshalb am meisten an dem Projekt interessiert. Jedoch sei es nicht bereit, einen Europapakt in Briands Sinne schon jetzt zu unterzeichnen, denn man könne doch keinen Pakt schließen, bevor man nicht wisse, in welchem Rahmen sich seine Aufgaben bewegten. Die europäische Solidarität dürfe natürlich keine Spitze gegen außereuropäische Länder, insbesondere die Vereinigten Staaten annehmen. Anderseits könne man auch Rußland und die Türkei nicht ausschließen, zumal diese Länder schon an anderen Völkerbundsberatungen teilgenommen hätten. Bedenklich sei Briands These, die wirtschaftlichen Probleme dem politischen unterzuordnen. Es handele sich dabei um die Sicherheitsfrage, die Frankreich im Sinne des Genfer Protokolls zu lösen wünsche. Aber alle Versuche einer Besserung der politischen Lage in Europa werden davon abhängen, daß die Grundsätze der vollen Gleichberechtigung, der gleichen Sicherheit für alle und des friedlichen Ausgleichs der natürlichen Lebensnotwendigkeiten der Völker zur Anwendung kommen. Wo bestehende Verhältnisse diesen Grundsätzen widersprächen, müßten wirksame Mittel für ihre Änderung gefunden werden. Es wäre aussichtslos, ein neues Europa auf einem Fundament aufbauen zu wollen, das der lebendigen Entwicklung nicht standhalten könne. Nicht Stabilisierung, sondern Evolution – [194] in bezug auf die Minderheitenfrage. Auch müßten die wirtschaftlichen Probleme unabhängig von den politischen behandelt werden. Eine ganze Anzahl politischer Fragen Europas sei noch ungelöst, so die Minderheitenfrage. Auch dürfe der Völkerbund nicht unter den europäischen Bestrebungen leiden. Alle Gruppenbildungen innerhalb des Völkerbundes müßten vermieden werden.

Sachlich und freimütig hatte die deutsche Regierung ihren im Grunde ablehnenden Standpunkt dargetan, indem sie zugleich betonte, sie sei bereit, fördernd am europäischen Gedanken mitzuarbeiten, aber sie fordere dafür unbedingte Gleichberechtigung für Deutschland. Die deutsche Presse von den Deutschnationalen bis zu den Sozialdemokraten bezeichnete die Antwort als geschickt.

  Antwort Groß-Britanniens  

Zwei Tage später antwortete Groß-Britannien. Es könne die Bemühungen nur unterstützen, wenn sämtliche Regierungen des britischen Reiches dazu herangezogen würden. Ein leitender Grundsatz der von der englischen Regierung betriebenen Politik sei, daß das erste aller britischen Interessen der Friede sei. Eine wirtschaftliche Zusammenarbeit Europas sei an erster Stelle und dringend zu wünschen. Man müsse eine großzügige Auffassung der wirtschaftlichen Fragen fördern

"und soweit eine politische Aktion sich dieses Ziel gesetzt habe, ist die englische Regierung bereit, dem in dem Memorandum gemachten Vorschlag für ein Zusammenwirken der maßgebenden politischen und wirtschaftlichen Stellen zuzustimmen. Jedoch sieht die englische Regierung hinsichtlich der Methoden, die die französische Regierung zur Verwirklichung ihrer Absicht vorschlägt, umfängliche Schwierigkeiten voraus".

Die neu zu schaffenden Einrichtungen würden in keiner Hinsicht mit dem Völkerbunde verknüpft sein. Sie würden sich nur, soweit sie dazu willens seien, dem Völkerbunde angleichen.

      "Da die Organe des Völkerbundes bereits begonnen haben, an so ziemlich dem ganzen Programm praktischer Betätigung, das in dem Memorandum entwickelt wird, zu arbeiten, ist es für die englische Regierung schwierig einzusehen, wie diese neuen europäischen Institutionen funktionieren könnten, ohne Konfusion zu stiften und vielleicht neue Rivalität zu schaffen, die, so wenig dies [195] auch von den europäischen Regierungen beabsichtigt oder gewünscht sein mag, kaum eine andere Auswirkung haben kann, als sowohl die Leistungsfähigkeit wie die Autorität der Organe des Völkerbundes zu verändern. Abgesehen von diesem sehr schwierigen Problem der Koordinierung hält es die englische Regierung für sehr möglich, daß eine ausschließlich europäische unabhängige Union der vorgeschlagenen Art den auf eine Rivalität oder Feindschaft zwischen den Kontinenten hinauslaufenden Tendenzen unerwünschten Nachdruck verleihen oder sie sogar neu schaffen könnte, also Tendenzen, die zu verringern und denen aus dem Wege zu gehen im allgemeinen Interesse liegt. Es ist nach englischer Ansicht wesentlich, daß die zugunsten einer engeren europäischen Zusammenarbeit zu ergreifenden Maßregeln keine Besorgnis oder Verärgerung auf andern Kontinenten hervorrufen. Die englische Regierung ist der festen Überzeugung, daß, wenn nicht diese Angelegenheit dauernd im Auge behalten wird, die umfassenderen Interessen Europas und der Welt ernsthaft gefährdet werden könnten."

Daran aber habe Großbritannien kein Interesse. Die Vorschläge Briands müßten sich dem Gerüste des Völkerbundes vollständig einfügen. Die englische Regierung denke etwa an die Errichtung europäischer Ausschüsse der Völkerbundsversammlung, des Völkerbundsrates und seiner technischen Ausschüsse, die eine engere europäische Zusammenarbeit ermögliche, ohne daß man sich den Schwierigkeiten und Gefahren aussetze, die ein System neuer und unabhängiger Institutionen mit sich bringe.

Auch die englische Antwort war also nichts anderes als eine höfliche Absage an Briands Plan. England wollte keineswegs sein mühsam aufrechterhaltenes weltpolitisches Gleichgewicht der europäischen fixen Idee Briands zum Opfer bringen. –

  Antworten der andern  
europäischen Staaten

Die ehedem neutralen Staaten standen dem Briandschen Plane sehr skeptisch gegenüber. Sie fürchteten eine Beeinträchtigung des Völkerbundes, eine Verminderung ihrer Souveränität, und, soweit sie Kolonien besaßen, wünschten sie keine Reibungen mit außereuropäischen Ländern, schließlich waren sie nicht bereit, irgendwelche militärische Sicherheitsverpflichtungen zu übernehmen. Spanien (27. Juni) wünschte, daß [196] seinem Protektorat in Afrika kein Abbruch geschehe. Die Niederlande (1. Juli) verlangten Beteiligung sämtlicher europäischer Mächte. Die Herabsetzung der Zolltarife sei auch ohne politische Vorarbeiten möglich. Die holländische Regierung habe nicht den Eindruck, daß die Schwierigkeiten, die bisher den Erfolg der vom Völkerbund auf dem Gebiet der Sicherheitsfrage unternommenen Versuche verhindert haben, durch die Anwesenheit nichteuropäischer Staaten verursacht oder erhöht worden seien. Nach ihrer Ansicht sei der Boden noch lange nicht genügend vorbereitet. Ein Meinungsaustausch würde nützlich sein und erscheine sogar nötig, um bestimmen zu können, wie man weiter gelangen wolle. Dänemark (10. Juli) hatte Bedenken gegen eine allzugroße Angleichung an den Völkerbund. Vor allem sollten wirtschaftliche Probleme und geopolitische Bindungen geprüft werden. Die Übernahme von Sanktionsverpflichtungen im Sinne von Locarno wurde abgelehnt, denn vorher müßten gemäß Artikel 8 der Völkerbundssatzung die Rüstungen herabgesetzt werden, denn weitgehende Sanktionsgedanken verminderten eher die Sicherheit der Staaten als daß sie diese erhöhten, solange gewisse Staaten beträchtliche Rüstungen aufrechterhielten. Auch Schweden äußerte seine Bedenken (14. Juli), jetzt bereits ein voll ausgebildetes Staatensystem mit ständigem Sekretariat und Konferenzen zu schaffen. Wirtschaftliche Besprechungen könnten doch am zweckmäßigsten im Zusammengehen mit den Völkerbundstagungen stattfinden. Norwegen (14. Juli) sah die Hauptaufgabe in der Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiete. Es sei sehr heikel, auch politische Probleme anzuschneiden, denn militärische Verpflichtungen müsse Norwegen ablehnen. Auch auf wirtschaftlichem Gebiete werde man manche Enttäuschungen erleben. Die Lage und die Umstände, wie sie in verschiedenen Teilen Europas vorgefunden würden, seien so kompliziert, daß zahlreiche wichtige Fragen nur allmählich gelöst werden könnten.

Portugal (16. Juli) warnte infolge seiner engen Beziehungen zu Brasilien vor einer Spitze gegen außereuropäische Staaten. Auch das koloniale Moment müsse berücksichtigt werden. Die gemeinsame Prüfung der wirtschaftlichen Frage setze nicht not- [197] wendigerweise politische Erörterungen voraus; im Gegenteil: die Lösung politischer Probleme werde erleichtert, wenn durch Abkommen mit Unionscharakter die wirtschaftlichen Schwierigkeiten gemildert worden seien. Luxemburg (19. Juli) verlangte hinsichtlich der Garantieverträge unbedingte Respektierung seiner militärischen Neutralität. Auch die Schweiz (6. August) erklärte, daß die Neutralitätsordnung, die seit Jahrhunderten Grundlage der Schweizerischen Verfassung sei, nicht durchbrochen werden dürfe. Auch Kompetenzkonflikte und Rivalitäten mit dem Völkerbunde müßten unbedingt vermieden werden. Die Probleme der Sicherheit könnten mit besserem Erfolg im Rahmen des Völkerbunds verwirklicht werden. Zu einer Zusammenarbeit auf rein wirtschaftlichem Boden, die durchaus möglich sei, sei die Schweiz gern bereit. Griechenland schließlich wünschte (21. Juli) auch die Teilnahme der Türkei, die "ebenso wie Griechenland eine Balkan- und Mittelmeermacht" sei.

Belgien, der treue Trabant Frankreichs, konnte ebenfalls nicht dem Briandmemorandum seine volle Zustimmung geben (16. Juli). Es sei nicht angebracht, einen ständigen politischen Organismus zu schaffen; wo kein Vertrauen und keine Sicherheit herrsche, werde die Koordinierung der wirtschaftlichen Tätigkeit schwerlich Fortschritte machen. Wenn die beiden Beweggründe der Völkerbetätigung, Politik und Wirtschaft, auch einander nicht untergeordnet seien, so übten sie doch beide gegenseitig aufeinander Einfluß aus. So wichtig auch diese politischen Probleme seien, so könne man doch nicht bestreiten, daß eine solidarische Union der europäischen Staaten auf wirtschaftlichem Gebiete heute außerordentlich notwendig sei. Sie entspreche nicht nur einem allgemeinen Streben, sondern sei auch auf Grund der Tatsachen nötig.

In den Antworten der mittel- und osteuropäischen Nachfolgestaaten kamen all die Mängel zum Ausdruck, unter denen diese verkümmerten alten aber traditionslosen neuen Staaten zu leiden glaubten.

Österreich (12. Juli) sah noch manche Probleme, die eine Kriegsgefahr in sich bergen und der Lösung harren. Diese Lösungen könnten aber nur in engster Verbindung mit dem [198] Völkerbund erfolgen. Die wirtschaftlichen Aufgaben sollten nicht den Fachleuten überlassen werden, denn diese würden von den Augenblicksforderungen ihrer heimischen Wirtschaftskreise allzusehr beeinflußt, sondern sie müßten in den Händen der politischen Exponenten der verschiedenen Regierungen zusammenlaufen. Die Tschechoslowakei (14. Juli) verhehlte nicht, daß sie noch manche Zweifel hatte. Es werde eine Arbeit auf lange Sicht sein, man werde sehr vorsichtig und etappenweise vorgehen müssen. Vor allem dürfe nicht der Grundsatz der Souveränität und Gleichberechtigung angetastet werden. Die nächste Völkerbundsversammlung sollte ein Studienkomitee einsetzen, um das Organisationsstatut auszuarbeiten. Die nur europäische Zusammenarbeit werde einmal mehr auf politischem, ein andermal mehr auf wirtschaftlichem Gebiete liegen. Südslawien (16. Juli) begrüßte außerordentlich die föderative Gestaltung Europas, da eine neue Atmosphäre geschaffen werde. So könne doch Annäherung und Friede zwischen den Völkern verwirklicht werden, aber es dürfe sich kein Widerspruch zum Völkerbunde ergeben. Ungarn (15. Juli), das seit 1919 in der gleichen Lage wie Deutschland war, ging einen Schritt weiter als die Tschechoslowakei: Das Prinzip der Souveränität und Gleichberechtigung sollte so ausgelegt werden, daß alle bestehenden Ungleichheiten, welche die Souveränität gewisser Staaten schmälern, beseitigt würden. Solche Abkommen könnten nicht hinübergenommen werden in das auf dem Grundsatz der Gleichberechtigung aufgebaute Europa. Ungarn dachte hierbei in erster Linie an seinen Grenzstreit mit Rumänien. Deswegen erklärte die ungarische Regierung, sie müsse jede Mitarbeit verweigern, wenn die Revision der Friedensverträge für die Zukunft ausgeschaltet werde. Ohne Beseitigung der Gegensätze könne das erhabene Ziel des allgemeinen Friedens niemals erreicht werden. Auch dürfe das Ansehen des Völkerbundes nicht herabgesetzt werden. Allerdings müsse Ranggleichheit der Staaten bestehen, die im Völkerbund nicht zu finden sei. Sehr wichtig sei die Frage der nationalen Minderheiten. Auch müsse die Türkei zur Mitarbeit herangezogen werden. Die Zusammenarbeit sollte zunächst auf wirtschaftlichem Gebiete organisiert werden, dann sei für später eine [199] günstige Atmosphäre auch zur Lösung der wichtigsten politischen Fragen geschaffen.

In ähnlicher Richtung bewegte sich Bulgariens Antwort (19. Juli). Die souveränen Rechte der Staaten dürften nicht geschmälert werden. Die neue Organisation solle sich von dem hohen ethischen Gedanken der politischen und wirtschaftlichen Unterstützung der schwächeren Mitglieder leiten lassen. Die erste Aufgabe der europäischen Entente würde es sein, die Fragen der Minderheiten und der Abrüstung zu lösen. Das wäre gerecht und billig, damit für alle Völker Europas ein Zustand der Gleichberechtigung geschaffen werde und geistige Einheit und gegenseitiges Vertrauen entstehen könnten. Die Zuständigkeit und Autorität des Völkerbundes dürfe in keiner Weise vermindert werden. Für Rußlands Beteiligung lägen vielleicht zur Zeit Hindernisse vor, aber die Türkei müsse herangezogen werden.

Von den Randstaaten war Lettlands Ansicht (9. Juli), daß die Autorität des Völkerbundes und seiner Organe nicht geschwächt werde, auch dürfe kein europäischer Staat ausgeschlossen bleiben. Auch Estland war der Ansicht (15. Juli), daß der Völkerbund nicht unter der europäischen Union leiden dürfe. Finnland schlug (16. Juli) Erweiterung des Schieds- und Vergleichsverfahren vor; es sollte eine Studienkommission für die europäische Frage eingesetzt werden. Litauen aber, das sich Polen gegenüber wegen Wilna in einer ähnlichen Verstimmung befand wie Ungarn Rumänien gegenüber, fand (12. Juli), daß eine europäische Union unmöglich sei, solange zwischen ihren künftigen Mitgliedern die tiefen Gegensätze fortbestünden, die von nicht wieder gutzumachenden Handlungen herrührten. Eine günstige Atmosphäre ließe sich nur auf der Grundlage der Achtung vor den gegenseitigen Rechten schaffen. Die Union solle dem Völkerbunde angegliedert werden. Ein ständiges Sekretariat sei nicht nötig, aber europäische Konferenzen wurden befürwortet.

Der einzige Staat, dessen Antwort am uneingeschränktesten für Frankreichs Vorschlag eintrat, war Polen (10. Juli). Das hatte seinen guten Grund, denn Polen war derjenige Staat Europas, in dem das Unrecht des neuen Europa in stärkstem [200] Umfange in Erscheinung trat. Polen war derjenige Staat, der im fortschreitenden Wandel des europäischen Staatensystems am heftigsten bedroht war. Zu dreien seiner Nachbarn stand das neue Polen in unüberbrückbarem Gegensatz, zu Deutschland, Litauen und Rußland. Darum hatte Polen das größte Interesse an der Stabilisierung und Sicherung seines Zustandes. Zaleski antwortete also, daß er vollständig den französischen Standpunkt teile. Zunächst müsse die politische Sicherheit garantiert werden, ehe man andere Probleme, z. B. die wirtschaftlichen, in Angriff nehme. Als Grundlage würde sich das Genfer Protokoll empfehlen. Die Union dürfe keinen aggressiven Charakter haben, sie solle aber die Durchführung der Völkerbundsbestimmungen erleichtern. Die Völkerbundsversammlung im September solle ein Studienkomitee einsetzen, welche das Problem untersuchen und den europäischen Regierungen Bericht erstatten solle.

Demgegenüber am schroffsten ablehnend war die Antwort der irländischen Regierung, welche nicht die geringste Beeinträchtigung der Souveränität und Unabhängigkeit zugestehen wollte: jeder Staat solle allein darüber befinden, wie und in welcher Weise er an der europäischen Union mitarbeiten wolle. Das war gegen England gerichtet.

Alle diese Antworten zeigten, wieviel Gegensätze und wieviel Argwohn im neuen Europa herrschten, so daß Frankreich kaum darauf hoffen durfte, das gesamte Europa auf die Linie seiner Sicherheitspolitik festlegen zu können, um sich vor der gefürchteten Isolierung zu bewahren. Dagegen jedoch, daß Frankreich seine Sicherheit auf dem status quo von Versailles begründen wollte, lehnten sich die andern auf: Sie forderten Gleichberechtigung aller und Abrüstung, sie lehnten politische und militärische Bindungen ab. Briands These: Europa für Frankreich, fand ein gegensätzliches Echo: Europa gegen Frankreich! Die allerempfindlichste Wunde Europas war die Minderheitenfrage. Aber sie gerade war das Ergebnis jener Neugestaltung des Kontinents, die 1919 und 1920 vorwiegend nach französischen Gesichtspunkten durchgeführt worden war. Und hier stand Frankreichs neue Politik vor einem Hindernis, das sie sich [201] einst selbst aufgerichtet hatte. Blieb dies Problem ungelöst, dann war an keine europäische Union zu denken.

Stellung der
  nationalen Minderheiten  

Die Minderheiten selbst beschäftigten sich am 4. und 5. September auf dem Nationalitätenkongreß in Genf mit dem französischen Plane. Sie kamen zu folgendem Ergebnis, das sie Briand mitteilten:

      "Mit umso schmerzlicherem Bedauern glauben wir bekennen zu müssen, daß der von Ihnen unternommene Schritt schwerlich zu der von Ihnen und uns mit gleicher Leidenschaft angestrebten Befriedung der europäischen Menschheit führen wird, denn Ihre Gedankenwelt sieht allzu einseitig die Staaten als die ausschließlichen Träger europäischer Vergesellschaftung an. Für die vielen Millionen europäischer Menschen, denen sich das von der Gemeinsamkeit des Volkstums diktierte Einheitsstreben nicht in der Erreichung einer gemeinsamen Staatlichkeit erfüllen kann, muß die europäische Union nicht allein auf die Grundlage der Staaten, sondern auch auf der der Völker aufgebaut werden. Niemand ist besser imstande, die großen Vorteile einer Organisation zu werten, aus deren schöpferischer Arbeit die Europäische Union erstehen soll. Jedoch kann es nicht nur darum gehen, neue Brücken von Staat zu Staat zu schlagen; worum es sich heute vor allem handelt, ist, den Weg frei zu machen für eine Verständigung von Volk zu Volk. Dazu ist erstes Erfordernis, daß jeder europäische Mensch für sich und in engstem Zusammenhang mit seinen Volksgenossen seinem Volkstum leben darf. Allen gegenteiligen Versicherungen zum Trotz gehören indessen Entnationalisierungswillen und Unterbindung volklichen Zusammenfindens zum eisernen Bestande staatlicher Innenpolitik. Deshalb richten wir an Eure Exzellenz... den dringenden Appell: Treten Sie mit dem ganzen Gewicht Ihrer hervorragenden Persönlichkeit an unsere Seite und setzen Sie sich dafür ein, daß Sie die Evolution zu einer gesamteuropäischen Lebensgemeinschaft nicht allein auf den Notwendigkeiten der Wirtschaft und den Interessen der Staaten, sondern, gestützt auf die Forderungen höchster Gerechtigkeit, auch auf Zusammenarbeit zwischen den Völkern aufbauen."

Aber mit dieser Forderung rüttelten die Minderheiten an den Grundpfeilern der französischen Politik. So konnten die [202] Absichten Briands, die auf einen Schutz Frankreichs gerichtet waren, geradezu in ihr Gegenteil umschlagen, und das hatte Briand nicht im Sinne. Es zeigte sich bereits, daß die französischen Unionsbestrebungen zur Unfruchtbarkeit verurteilt waren, da Frankreich aus egoistischen Prinzipien nicht in der Lage war, die erste Voraussetzung für das Gelingen der europäischen Union zu erfüllen: das Problem der Minderheiten zu lösen.

Briands Plan
  vor dem Völkerbund  

Im Völkerbundssekretariat fand am 8. September eine Besprechung zwischen den Vertretern der 27 europäischen Staaten statt. Die französische Völkerbundsdelegation legte ein Weißbuch vor: "Schriftstücke über die Organisation einer europäischen föderativen Union", welches die Antworten der Regierungen enthielt. Die französische Regierung faßte die Vorschläge unter folgenden Gesichtspunkten zusammen: alle befragten Regierungen erkennen die Notwendigkeit einer Koordinierung in Europa an. Alle Antworten enthalten das Bestreben, nichts zu unternehmen, was dem Völkerbund zuwiderlaufen könnte, auch solle Europa nicht durch die Union isoliert werden. Auch außereuropäische und nicht zum Völkerbund gehörende Staaten sollen hinzugezogen werden. Dem stünden keine grundsätzlichen Schwierigkeiten im Wege, meinte Frankreich. Die meisten Antworten legen das Schwergewicht auf wirtschaftliche Fragen. Auch wird verlangt, daß Souveränität und Unabhängikeit gewahrt bleiben. Frankreich erkläre, daß jede politische Beherrschung ausgeschlossen sei und daß selbst die extreme Formel der irländischen Regierung kein Hindernis für die weiteren Verhandlungen bilde. Auch mit der Einsetzung eines Studienkomitees ist Frankreich einverstanden. Aber das brennende Problem der Minderheitenfrage wird mit keiner Silbe berührt!

Am Ende der Vertreterbesprechung wurde folgende Entschließung angenommen:

      "Die Vertreter der europäischen Regierungen nehmen Kenntnis von dem Ergebnis der Umfrage zur Schaffung einer europäischen Union. Sie sind überzeugt, daß eine enge Zusammenarbeit der europäischen Völker auf allen Gebieten des internationalen Lebens für die Aufrechterhaltung des Friedens in der Welt von grundlegender Be- [203] deutung ist. Sie sind einmütig in der Auffassung, daß diese Zusammenarbeit im Rahmen des Völkerbundes und im Geiste der Grundsätze des Völkerbundspaktes erfolgen soll."

Die Völkerbundsversammlung begann am 11. September mit der Aussprache über Briands Vorschlag. Zunächst sprach Briand, der seinen Vorschlag als eine weitere große Anstrengung im Dienste des Friedens bezeichnete. Der Engländer Henderson erklärte, England sei bereit, alle Sicherheitsmaßnahmen zu ratifizieren, unter der Bedingung, daß ein allgemeiner Vertrag zur Herabsetzung und Beschränkung der nationalen Rüstungen durchgeführt werde. Nur dann seien die Völker wirklich von der Bedrohung durch den Krieg frei. Seit Versailles und Locarno seien die Völker zur Abrüstung verpflichtet. Übrigens sei jede Sicherheit unmöglich, wenn der Wettbewerb der militärischen Vorbereitungen anhalte. Umfassend äußerte sich der deutsche Außenminister Curtius. Er sprach von der Abrüstung, die nun endgültig gefordert werden müsse, von der Minderheitenfrage, von einer neuen Wirtschaftsordnung. Ein Studienkomitee solle gebildet werden und die Fragen der wirtschaftlichen Kooperation prüfen.

      "Wenn wir von wirtschaftlicher Einigung Europas sprechen und diese im weitesten Sinne verstehen, so heißt das nichts anderes als europäische Wirtschafts- und Zollunion. Wahrlich, ein kühner Gedanke, sich vorzustellen, daß die europäischen Staaten einmal in Zukunft ein einheitliches Wirtschaftsgebiet ohne innere Zollgrenzen bilden könnten. Wer von uns möchte zögern, den Wunsch auszusprechen, daß sich Wege finden lassen, diesen Gedanken zu verwirklichen?"

Auch die kleinen Staaten beteiligten sich an der Aussprache, die in der Hauptsache um die Kernprobleme Abrüstung und Wirtschaftseinigung sich drehte. Der holländische Außenminister Beelaerts van Blokland meinte, die europäische Zusammenarbeit müßte so gestaltet werden, daß die Interessen der einzelnen Staaten mit denen der Allgemeinheit zusammenfallen. Durch eine Befriedung der Minderheiten könne der Völkerbund wirksam zur internationalen Entspannung beitragen. Der dänische Außenminister Munch forderte materielle und moralische Abrüstung. Der Belgier Hymans erklärte: [204] "Schon die Tatsache, daß man immer noch vom Kriege und der Möglichkeit eines Krieges spricht, stellt eine Gefahr dar. Es genügt nicht, daß die Regierungen entschlossen sind, keinen Krieg zu führen, sie müssen dahin kommen, ihn als Wahnsinn, überhaupt als eine Unmöglichkeit zu betrachten."

Graf Albert Apponyi aus Ungarn unterstützte energisch Hendersons Vorschlag und beklagte die in Europa durch die einseitige Abrüstung hervorgerufene Ungleichheit. Der österreichische Bundeskanzler Schober legte das Schwergewicht auf das wirtschaftliche Thema. Er befürwortete regionale Zusammenschlüsse, wie sie auf der Zollfriedenskonferenz im Februar von Deutschland und Frankreich angeregt worden waren.

  Scheitern der Briandschen  
Paneuropa-Idee

So plätscherten die inhaltsreichen, aber tatenlosen Programmreden hin, bis sie in eine Völkerbundsentschließung am 17. September ausliefen. Die Mitglieder des Völkerbunds wurden darin aufgefordert, die begonnenen Untersuchungen auf dem Gebiete fortzusetzen. Ein Studienkomitee, welches die 27 europäischen Völkerbundsstaaten umfaßte, sollte sich der Aufgabe widmen und Vollmachten haben, wenn nötig, nichteuropäische Mitglieder und europäische Nichtmitglieder des Völkerbundes – Rußland und Türkei – zu Beratungen heranzuziehen. Der nächsten Völkerbundsversammlung im Herbst 1931 sollte ein konkreter Bericht vorgelegt werden. Am 23. September trat dieser "Studienausschuß für die Europäische Union" unter dem Vorsitz Briands zum erstenmal zusammen.

Die Überweisung der Europäischen Union an einen Studienausschuß kam der Bestattung in einer schönen Gruft gleich. Briands Vorstoß in Europa war gescheitert. Man hatte es Briand leicht gemacht, einen Rückzug in Ehren anzutreten, indem man ihn zum Vorsitzenden des Studienausschusses ernannte. So lag es in seinen Händen, die Arbeiten zu fördern, wenn die Entwicklung Frankreich günstig war, oder im entgegengesetzten Falle die Arbeiten zu hemmen. Briand tat das zweite, denn er hatte erkannt, daß die Zeiten von 1919 und 1920 vorüber waren, daß Frankreichs Einfluß in Europa nicht mehr der alte war. Der für die Herbsttagung des Völkerbundes [205] 1931 vorgesehene Bericht wurde nicht vorgelegt. Das war das ganz natürliche Ergebnis bei dem Auseinanderlaufen französischer und europäischer Wünsche. Dennoch glaubte die Völkerbundsversammlung, Briand eine schöne Geste schuldig zu sein, indem sie den Auftrag an den Studienausschuß 1931 erneuerte, "das unternommene Werk gemäß den in der Entschließung vom 17. September 1930 niedergelegten Grundsätzen fortzusetzen."



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra