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[Bd. 4 S. 285]
8. Kapitel: Völkerbund, Kellogg-Pakt und Reparationen.

Der Höhepunkt der äußeren Entwicklung Deutschlands nach dem Weltkriege lag in den Monaten vom Anfang Oktober 1925 bis Anfang September 1926. Deutschlands Eintritt in den Völkerbund vereinigte zum ersten Male die Mehrheit des Volkes in einer Front von den Deutschnationalen bis zu den Sozialdemokraten. Die Deutschnationalen, die noch im Herbst 1925 Locarno verurteilten und um der dort geschlossenen Verträge willen ihren Teil an der Reichsregierung preisgaben, stimmten ein Jahr darauf der Völkerbundspolitik zu und hießen damit nachträglich auch Locarno gut. Die deutschnationalen Politiker zwar waren schon im Oktober 1925 soweit wie ein Jahr später, der Widerstand lag in den deutschnationalen Massen. Diese Konformität der außenpolitischen Ziele bei den großen Parteien war ein weiteres Moment für die innere Konsolidierung. Dennoch gingen die Ansichten über die Wege, die einzuschlagen seien, auseinander. Stresemann selbst charakterisierte diesen Zustand in seiner großen Rede auf dem Kölner Parteitag der Deutschen Volkspartei mit folgenden Worten:

      "Ich glaube, man kann sagen, es gibt nicht eine Außenpolitik der Partei, sondern nur eine deutsche Außenpolitik. In ihrem Ziele ist sich die große Mehrheit des deutschen Volkes über diese Außenpolitik durchaus einig; ihre Methode ist umstritten. Ob sie richtig ist, wird an ihrem Erfolge zu messen sein."

Der Freiherr von Rheinbaben erkennt den großen politischen Wert der Ereignisse vom September 1926 nicht sosehr darin, daß Deutschland als schwächste Großmacht im Völkerbund mitwirkt, sondern er verlegt ihn vielmehr in die Zukunft, an den Zeitpunkt, da sich herausstellen wird, daß die europäischen Großmächte sich nicht mehr wie in Jahrzehnten vor dem Weltkriege in verschiedenen Lagern gruppieren werden. Sehr richtig aber ist sein Urteil, daß dem Höhepunkt von "Locarno" eine "weitgehende Erschlaffung in der Initiative [286] zu einer Fortentwicklung der 'Großen Politik' gefolgt ist." Die außenpolitischen Ereignisse Deutschlands drehten sich in den Jahren 1927 bis 1929 vornehmlich um zwei Dinge: Völkerbund und Reparationen. Aus der Vermischung beider Fragenkomplexe ergab sich die Rheinlandräumung.

Die Tätigkeit der deutschen Regierung in ihrer Eigenschaft als Völkerbundsmitglied konzentrierte sich hauptsächlich um zwei Aufgaben: um die Verwirklichung der allgemeinen Abrüstung und um die Befreiung des Rheinlandes. Graf Bernstorff vertrat sogar in etwas überbetonter Weise die Auffassung Mitte 1929, Völkerbundspolitik und deutsche Politik seien identisch. Mit beharrlicher Energie forderten die Delegierten immer wieder in Genf die Herabsetzung der Rüstungen bei den anderen Mächten. Sie wiesen auf die furchtbaren Maße eines kommenden Krieges hin, der in weit stärkerem Umfange die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft ziehen werde. Der deutsche Bevollmächtigte in Genf, Graf Bernstorff, erklärte, "daß der nächste Krieg nicht in erster Linie, auch nicht einmal hauptsächlich, zwischen den Militärs der Nationen sich abspielen wird, sondern daß die Zivilbevölkerung, die sich nicht zu schützen vermag, noch viel mehr als die Militärs von den Leiden des Krieges mitgenommen werden wird". Auch im Auswärtigen Ausschuß des Reichstages wurde geäußert, daß in einem kommenden Kriege der Soldat vielleicht am wenigsten gefährdet sein werde (Bredt). Die Waffen des Flugzeuges und des Giftgases seien imstande, weite Landstriche des feindlichen Gebietes der Vernichtung auszuliefern. Daher war die praktische Abrüstung in bezug auf die Zahl der ausgebildeten Soldaten und auf das vorhandene Kriegsmaterial eine ständige Forderung des Grafen Bernstorff in Genf. Darüber hinaus verlangte er ein Verbot des Giftgaskrieges für die Zukunft. Doch die Völkerbundsfreunde waren auf diesem Ohre völlig taub. In keiner Weise wurden die deutschen Abrüstungsvorschläge berücksichtigt. Es zeigte sich oben immer wieder, daß ein wehrloses Deutschland keine Macht besaß, seinen verständigen Forderungen Gehör zu verleihen. Dennoch blieb die Abrüstung das größte Problem der Weltpolitik. Die meisten Völker waren von dieser Idee fas- [287] ziniert, und in ihrer Verwirklichung lag der Schlüssel zur endgültigen Befreiung Deutschlands.

  Kampf um die Abrüstung in Genf  

In Kürze soll Deutschlands vergeblicher Kampf um die Abrüstung in Genf geschildert werden. Als die beiden im Mai eingesetzten Unterkommissionen ihre Berichte fertiggestellt hatten, trat im Frühjahr 1927 aufs neue die Vorbereitende Abrüstungskommission zusammen. Bei dieser Gelegenheit erwies sich, daß die deutsche und die französische These sich unvereinbar gegenüberstanden. Die Franzosen lehnten nämlich die von Deutschland mit englischer Unterstützung geforderte Herabsetzung der Dienstzeit oder des jährlichen Rekrutenkontingentes entschieden ab. Außerdem wollten die meisten Staaten nur das im Gebrauche befindliche Material, aber nicht die gelagerten Vorräte beschränken. Es gelang nicht, einen vorliegenden englischen und einen eingebrachten französischen Vertragsentwurf zu einem einheitlichen zu verschmelzen, und es kam nur ein Bericht zustande, worin die verschiedenen Auffassungen niedergelegt wurden.

So konnte die Völkerbundsversammlung im Herbst 1927 noch keine weiteren Schritte unternehmen. Sie konnte lediglich feststellen, daß die gegenwärtige Sicherheit genüge, um eine staffelmäßige Abrüstung einzuleiten. Die erste Abrüstungskonferenz, der weitere zu folgen hatten, sollte möglichst bald auf dem Boden der gegenwärtigen Sicherheit stattfinden und den Umfang der ersten Abrüstungsetappe festlegen. Ein Sicherheitskomitee sollte gebildet werden, welches für den Fortschritt der Sicherheit sorgen sollte. So trat, kurz vor Weihnachten 1927, die Abrüstungskommission zusammen, um das Sicherheitskomitee einzusetzen. Zum ersten Male waren auch Vertreter der Sowjetunion erschienen. Sie brachten äußerst radikale Abrüstungsvorschläge mit, deren Erörterung infolge eines deutschen Vorschlages auf den März 1928 vertagt wurde.

Im Frühjahr 1928 war, außer bei den Deutschen und Russen, das Interesse an der Abrüstung merklich gesunken. Man glaubte, nur diplomatische Verhandlungen könnten zum Ziele führen. Am liebsten hätten die Franzosen und ihre Trabanten gewünscht, daß die Sitzung der Abrüstungskommission [288] abgesagt würde. Das war aber nicht mehr möglich, da neuerdings außer den Russen auch die Nordamerikaner und Türken eingeladen worden waren. In den Sitzungen ging es recht stürmisch her, da die Abrüstungsgegner die Aufmerksamkeit vom Hauptpunkte abzulenken versuchten, indem sie ihren ganzen Groll über die Politik der Sowjetunion, ihre Unehrlichkeit und Sabotage der Abrüstung entluden. Auf der Völkerbundsversammlung im September 1928 stand es höchst hoffnungslos um die Abrüstungsfrage. Schließlich machten die anderen widerwillig den Deutschen das Zugeständnis, daß im Frühjahr 1929 die Abrüstungskommission einberufen werden solle, denn die bestehende Sicherheit gestatte die erste Etappe der Abrüstung.

In der Abrüstungskommission des Frühjahres 1929 riß der amerikanische Vertreter Gibson die Führung an sich. Er versuchte den Ideen des Kellogg-Paktes ein positives Fundament zu verschaffen, indem er energisch für die Abrüstung eintrat. Zwei Lager standen sich gegenüber, das eine, in dem Frankreich an der Spitze der Abrüstungsgegner stand, das andere, in dem sich neben Deutschland und Rußland auch Amerika und England befanden. Doch auf dem Wege eines amerikanisch-französischen Kompromisses siegte Frankreich. – Drei Jahre lang hatte Deutschland vergeblich für seine berechtigte Forderung der allgemeinen Abrüstung gekämpft. Es war, waffenlos und wehrlos, noch ebenso von hochgerüstetem Ausland umgeben wie zur Zeit von Versailles. –

  Rheinlandfragen  

Die Rheinlandfrage war, wie wir sahen, durch das Ereignis vom September 1926 in ein neues Stadium getreten. Durch den Versailler Vertrag, durch Locarno und durch den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund hatte das Reich ein dreifach verbürgtes politisches Recht darauf, als gleichberechtigte souveräne Macht behandelt zu werden, frei zu werden von fremder militärischer Besatzung und in freier, unbeeinflußter Volksabstimmung das Saargebiet zurückzuerhalten; denn das Friedensdiktat sei ausgeführt und für die Erfüllung der Reparationen seien alle nur möglichen Garantien gegeben worden. Diesen Standpunkt vertrat die deutsche Regierung und der Reichsaußenminister Stresemann seit Thoiry in un- [289] veränderter Weise. Auch das Rheinland selbst erhob diese Forderung und stärkte so Stresemanns Vorgehen. So sandte der Wirtschaftsausschuß für die besetzten Gebiete in Koblenz am 11. Januar 1927 an die Reichsregierung ein Schreiben, worin es hieß:

      "Solange durch die Besatzung im Rheinland eine Art von Kriegszustand aufrechterhalten wird, der Rechtsunsicherheiten schafft, die ständig die Beunruhigung vor Willkürakten wachhalten und dadurch einen lähmenden Druck auf die gesamte Bevölkerung ausüben, solange kann sich auch das Wirtschaftsleben in dem besetzten Gebiet nicht frei entfalten... Wir danken der Reichsregierung, daß sie sich als nächstes Ziel die baldige Befreiung des Rheinlandes gesetzt hat, und begrüßen es, daß Verhandlungen eingeleitet wurden, die durch eine Reform der Ordonnanzen für die verbleibende Übergangszeit Erleichterungen schaffen sollen. Wir bitten dabei besonders Gewicht auf die Herbeiführung größerer Rechtssicherheiten zu legen. Daß Deutsche auf deutschem Boden hinfort noch von fremdländischen Kriegsgerichten abgeurteilt werden können, bedeutet, wenn Locarno und Genf einen Sinn haben sollen, eine Unmöglichkeit."

Die Engländer waren den deutschen Forderungen in bezug auf die Rheinlandräumung zugänglicher als Frankreich. Poincaré versuchte, aus der Angelegenheit ein Geschäft zu machen. Er formulierte das Prinzip von Thoiry in seiner Weise: Rheinlandräumung nur gegen finanzielle Konzessionen Deutschlands! Er wollte, indem er die deutsche Reparationspolitik mit dem Problem der französischen Schulden an England und Amerika verquickte, erreichen, daß bei Festsetzung der deutschen Endsumme Frankreich möglichst seine eigenen Schulden an Amerika loswerde und darüber hinaus noch deutsche Jahresleistungen erhalte. Wenn Deutschland sich diesen französischen Wünschen füge, dann war Frankreich bereit, das Rheinland zu räumen. Allerdings sollte dann fernerhin, zeitlich unbegrenzt, am Rhein eine dauernde Völkerbundskontrolle eingesetzt werden. Jedes Wort, das Poincaré in dieser Sache sprach, lief den Verträgen zuwider: Die Verknüpfung der französischen Schulden mit den deutschen Reparationen, die Verknüpfung der deutschen Reparationen mit [290] der Rheinlandräumung, die dauernde Völkerbundskontrolle am Rhein. Frankreich knüpfte einen gordischen Knoten, dessen Kern die ganz unerlaubte Verbindung der Reparationsfrage mit der Rheinlandräumung war, der die Forderungen Deutschlands aus seiner Völkerbundspolitik mit den deutschen Verpflichtungen aus der Reparationspolitik vermengte. Diese Wendung war allerdings dem deutschen Rheinland nicht willkommen. Wiederholt betonte es, daß es sich ausdrücklich dagegen verwahren müsse, wenn Deutschland die Räumung durch finanzielle Zugeständnisse erkaufen müsse. Deutschland solle es ablehnen, für sein gutes Recht noch Zahlungen leisten zu sollen. –

Inzwischen hatte Amerika einen neuen Versuch unternommen, nicht, um die Abrüstung zu verwirklichen, sondern um den Krieg als Mittel der Politik auszuschalten. Bereits am 6. April 1927 hatte Briand den Vereinigten Staaten vorgeschlagen, jeden Krieg zwischen Frankreich und U.S.A. auszuschließen. Mag sein, daß bei diesem Schritte Briands allgemeine Friedenssentiments ausschlaggebend gewesen sind. Nach reiflicher Überlegung schlug die Regierung der Vereinigten Staaten vor (21. Juni 1927), über Briands Entwurf offizielle Verhandlungen zu eröffnen. Wie sich Amerika die weitere Entwicklung dachte, ging aus einer Rede des Londoner U.S.A.-Botschafters Houghton hervor, die er am 23. Juni 1927 vor der Harvard-Universität hielt. Er erklärte, ein Friedensbund großer Völker, die ohne Volksbefragung nicht zu einem Kriege schreiten dürften, sei durchaus möglich. Die Vereinigten Staaten wollten also diesen Friedenspakt nicht bloß auf Frankreich beschränkt wissen, und so schlug der Staatssekretär Kellogg am 28. Dezember 1927 der französischen Regierung einen multilateralen Kriegsverzichtpakt vor, der alle Großmächte umfassen sollte.

Mit einigem Widerstreben ging Frankreich hierauf ein. Am 5. Januar 1928 erklärte die französische Regierung ihr Einverständnis mit dem amerikanischen Vorschlage, jedoch mit dem Vorbehalte, den Kriegsverzicht auf "Angriffskriege" zu beschränken. Kellogg erwiderte, daß die Vereinigten Staaten nur einen multilateralen Vertrag mit Verzicht auf jeden [291] Krieg als Mittel der nationalen Politik schließen wollten. Nach einigem Hin und Her erklärte die französische Regierung am 26. März ihre bedingte Zustimmung zu einem multilateralen Kriegsverzichtpakt. Zehn Tage später vereinbarte Staatssekretär Kellogg mit dem französischen Botschafter Claudel, den Notenwechsel über den Kriegsverzicht den Großmächten Deutschland, Großbritannien, Italien und Japan zu unterbreiten.

In England fand der Vorschlag geteilte Aufnahme. Lord Grey erklärte sich am 25. April vor dem Völkerbundsausschuß des Britischen Parlaments für den Kellogg-Pakt. Am nächsten Tage aber trat Sir Austen Chamberlain für eine Angleichung des amerikanischen an den französischen Paktvorschlag ein. Polen und die Tschechoslowakei erklärten sich unter gewissen Vorbehalten auch für den Pakt. Ebenfalls Belgien war zur Annahme bereit, denn es erblickte in dem Pakte eine Verstärkung seiner Garantien aus den Locarnoverträgen und aus der Völkerbundssatzung. Eine bedingungslose Zustimmung sprach nur die deutsche Regierung aus (27. April und 3. Juli). Die Verhandlungen unter den Mächten zogen sich bis gegen Ende Juli hin.

  Kelloggpakt  

Am 27. August 1928 schließlich wurde der multilaterale Kriegsächtungspakt Kelloggs in Paris von den Großmächten sowie von Polen, Belgien und der Tschechoslowakei unterzeichnet. Die beiden maßgebenden Artikel des Vertrages lauteten:

      "Artikel 1: Die Hohen Vertragschließenden Parteien erklären feierlich im Namen ihrer Völker, daß sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitigkeiten verurteilen und auf ihn als ein Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten.
      Artikel 2: Die Hohen Vertragschließenden Parteien vereinbaren, daß die Beilegung oder Lösung aller Streitigkeiten und Konflikte, die, welcher Natur und welchen Ursprungs immer sie seien, zwischen ihnen entstehen könnten, niemals anders als mit friedlichen Mitteln angestrebt werden soll."

Nach der Völkerbundssatzung war ein Krieg noch zugelassen, wenn eine Vermittlungsaktion des Völkerbundes [292] scheitert oder ein Spruch des Haager Schiedsgerichts nicht anerkannt wird. Der Kellogg-Pakt ächtet den Krieg aber schlechthin. Dies schien eine großartige Aktion, welche die ganze Genfer Arbeit zur Erhaltung und Sicherung des Friedens überflügeln sollte. Allerdings hatte es Chamberlain in seiner Vorliebe für Frankreich verstanden, auch die Aufnahme der französisch-europäischen Bündnispolitik in Richtung auf Erhaltung des Status quo in den Pakt durchzusetzen und so die französischen Bundesgenossen Belgien, Polen und Tschechoslowakei mit heranzuziehen. So brachte der Kriegsächtungspakt Kelloggs, dem Deutschland ebenfalls beigetreten war, Deutschland, ganz gegen den ursprünglichen Willen Kelloggs und durch das Eingreifen Chamberlains, in die Mitte der französisch-antideutschen Allianz. Aber die schwache Seite des "Kriegsächtungs"-Paktes war außerdem, daß er eine Begleitnote hatte, welche den "Verteidigungskrieg" zuließ und das Recht der "Selbstverteidigung" ziemlich vage und unbegrenzt auffaßte:

      "Jede Nation ist jederzeit und ohne Rücksicht auf Vertragsbestimmungen in der Verteidigung ihres Gebietes gegen einen Angriff oder einen Einbruch frei und allein berufen, zu entscheiden, ob die Umstände es erfordern, zu ihrer Selbstverteidigung zum Kriege zu schreiten. Wenn sie eine gute Sache vertritt, wird die Welt ihrem Vorgehen zustimmen und dieses nicht verurteilen."

Dies ausdrückliche Recht der Selbstverteidigung könne im Vertrage ebensowenig definiert werden wie der Begriff "Angriff". Insofern könne keine Vertragsbestimmung etwas zu dem natürlichen Recht auf Selbstverteidigung hinzufügen. Schließlich kannte der Pakt auch keine Instanz, welche über den Angriffs- oder Verteidigungscharakter des Krieges zu entscheiden hatte. Mit anderen Worten: Kellogg ächtete den Krieg de jure, ließ ihn aber zu de facto. Nichts konnte den Völkern deutlicher beweisen, daß sich die Welt in den letzten anderthalb Jahrzehnten um nichts gebessert hatte, als der bedenkliche Passus von der "guten Sache". Wohin das "Recht der Selbstverteidigung" und seine moralische Auslegung führen konnte, hatte bereits der Weltkrieg gelehrt: Die Alliierten ergriffen die Waffen "zur Verteidigung gegen den deutschen Nationalismus", und daraus [293] entstand die Kriegsschuldlüge.

Letzten Endes lehrte der Kellogg-Pakt den Deutschen aufs neue, daß Macht vor Recht geht. Denn schließlich muß sich auch ein Rudel Wölfe gegen ein Lamm verteidigen, das den Versuch unternimmt, sich gegen seine Feinde zu wehren. Solange die allgemeine Abrüstung nicht vollendete Tatsache war, blieb das anerkannte Recht der Selbstverteidigung die Achillesferse des Genfer Protokolls von 1924 und des Kellogg-Paktes von 1928. Sehr verhängnisvoll war es, einen unkontrollierbaren moralischen Begriff so leichthin in Verbindung zu bringen mit der schwersten Entscheidung in der Politik, denn bekanntlich ist die Unschuld einer Nation grundsätzlich eine andere als die Unschuld einer Jungfrau. Das war schon zu Thukydides' Zeiten so, als er zwischen de[m Anlaß]* und der [wahren Ursache]* eines Krieges unterschied. Alexander der Große würde mit ruhigem Gewissen den Kellogg-Pakt unterschreiben können und dennoch seinen Feldzug gegen Persien unternehmen dürfen. Der Kellogg-Pakt, dieser amerikanisch-französisch-englische Kompromiß, denn etwas anderes war er nicht, war letzten Endes nur ein Spiel mit Worten. Er war ein überflüssiges Siegel auf die sonderbare pazifistische Weltpolitik des letzten Jahrzehnts. – [*Scriptorium merkt an: im Original stehen hier zwei griechische Worte in griechischen Buchstaben, die wir zum besseren Verständnis übersetzten.]

Reparaktionskommissar Seymour Parker Gilbert.
[Bd. 4 S. 160a]
Reparaktionskommissar
Seymour Parker Gilbert.

Keystone View Co.

  Die Dawes-Reparationen  

Wir wenden uns jetzt dem politischen Hauptproblem zu: den Wiedergutmachungserfüllungen von seiten Deutschlands auf Grund des Dawes-Planes. Das deutsche Volk hatte alljährlich gewissenhaft seine Tribute bezahlt. Der Reparationsagent Parker Gilbert gab am Schlusse jedes Dawes-Jahres einen Bericht heraus, in dem er seine Zufriedenheit über die deutschen Zahlungen ausdrückte. Zwar lebe Deutschland noch sehr verschwenderisch, das zeige sich in dem Aufwand der Gemeinden und Länder, in der sozialen Fürsorge und in anderen Dingen, immerhin aber habe er die Zuversicht, daß der Dawes-Plan weiterhin funktionieren werde. Parker Gilbert entwickelte in den ersten Berichten einen unbekümmerten Optimismus, der in weiten Kreisen des deutschen Volkes bedenklich aufgenommen wurde. Denn es stand für das deutsche Volk keineswegs fest, daß es auf die Dauer in der Lage sein werde, die Tribute auf unbestimmte Zeit aufzubringen. Allerdings arbeitete Parker Gilbert schon seit Dezember 1927 auf [294] eine Abänderung des Dawes-Planes hin. Höhe und Dauer der deutschen Jahresleistungen und die deutsche Gesamtschuld unter Vereinbarung eines entsprechenden Zinsfußes sollten festgesetzt werden. Diese endgültige Lösung bedinge, daß Deutschland unter eigener Verantwortung ohne ausländische Überwachung und ohne Transferschutz seine Reparationen leiste. Im Zwischenbericht des sogenannten "Tributagenten" vom Juli 1929 waren bereits verschiedene pessimistische Töne über die deutsche Wirtschaft enthalten. Zwar sei die Höhe der deutschen Steuereingänge "frappant" und der Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft seit dem Kriege erwecke den stärksten Eindruck, doch vermied es Parker Gilbert wie früher zu erklären, daß die deutsche Wirtschaft "blühe" und endlose Beträge abwerfen könne. Er stellte eine weitere Zunahme der öffentlichen Verschuldung um 2,3 Milliarden auf annähernd 17 Milliarden fest, die Konkurse hätten um ein Fünftel zugenommen, die Not der Landwirtschaft verstärke sich, es sei wegen der hohen Zinssätze für die Deutschen schwierig, amerikanische Kredite zu erhalten.

  Deutsche Sachlieferungen  

Eine besondere Rolle in den deutschen Leistungen spielten die Sachlieferungen. Diese waren vom Dawes-Komitee widerstrebend als Notbehelf anerkannt worden, doch Deutschland sah gerade in ihnen eine Möglichkeit, die auf ihm ruhende Last zu erleichtern. Es war eher möglich, Millionen Tonnen in Deutschland geförderter Kohle zu liefern als den Gegenwert in Geld dafür zu zahlen. Im Jahre 1924 und Anfang 1925 vergaben die Alliierten die Sachleistungen durch amtliche Stellen. Da sich dies Verfahren als zu umständlich erwies, überließen die alliierten Regierungen vom 1. Mai 1925 ab dem freien Verkehr der beiderseitigen Interessenten, kaufmännischen und industriellen Organisationen, den Abschluß von Sachlieferungsverträgen. Die Regierungen behielten sich nur die Genehmigung dieser Verträge vor. Dieser Modus wirkte außerordentlich belebend. In den beiden ersten Dawes-Jahren (31. August 1924 bis 31. August 1926) schrieb der Reparationsagent für 1099 Millionen Goldmark Sachlieferungen dem Reiche gut; davon erhielt Frankreich den Löwenanteil von [295] 756 Millionen, Belgien erhielt 177. Den Hauptanteil an den Sachlieferungen nahm die Kohle ein mit etwa 646 Millionen Mark. Synthetischer Stickstoff und künstlicher Dünger wurden für 102 Millionen geliefert. Ferner führte Deutschland ab: Nutztiere, Steine, Erden, Kohlennebenprodukte, Farbstoffe, Chemikalien, Pharmazeutische Erzeugnisse, Zellstoff, Papier, Bücher, Zeitschriften, Tabak, Zigarren, Zucker, Eisenbahnschwellen, Telegraphenstangen, Schnittholz, Holzhäuser usw. Hamburger Werften bauten ununterbrochen Schiffe, geradezu ganze Flotten für die Reparationsgläubiger. So entstand der 6500 Tonnen große Dampfer "Quanza", der im September 1929 nach Portugal in See stach, auf der Werft von Blohm & Voß. Die Deutsche Werft lieferte eine ganze Flotte von Spezialfahrzeugen nach Jugoslawien; ein 7000 Tonnen großes Schwimmdock, ein Werkstattmotorschiff, einen Tauchertender. Eine andere Werft, Stülken & Sohn, lieferte vier Schlepper auf Reparationskonto nach Jugoslawien. Die Deutsche Werft erhielt von der französischen Regierung den Auftrag, zwei 6500-Tonnen-Tankschiffe für die französische Kriegsmarine zu bauen. Ja noch mehr! Deutsche Ingenieure und deutsche Arbeiter gingen selbst nach Frankreich, um dort Werke zu schaffen, die den deutschen Wiedergutmachungsverpflichtungen gutgeschrieben wurden. Aus deutschem Geist und deutscher Kraft entstanden moderne Brücken über Flüsse, z. B. die Maas. Im Hafen von Bordeaux bauten Deutsche das Amont-Becken aus. Im Schweiße ihres Angesichtes, in unerträglicher Sonnenglut schufen sie hier wuchtige Bauten aus Eisen und Beton. Es schien, als sei die Weltgeschichte um zweitausend Jahre zurückgeschritten, als seien die Zeiten wiedergekehrt, da die besiegten Völker ihren Siegern harte Sklavendienste leisten mußten! – Der Sachlieferungshandel vermehrte sich von Jahr zu Jahr: 1925: 520 Millionen, 1926: 630, 1927: 578, 1928: 658, 1929 (1. Januar bis 30. Juni): 382 Millionen.

Die umfangreichen deutschen Sachlieferungen nach Frankreich, Belgien, Südslawien, Italien, Rumänien und anderen Staaten erregten Besorgnisse in englischen und französischen [296] Industriekreisen. Trotzdem die französische Regierung bei der Genehmigung von Sachlieferungsverträgen sehr vorsichtig war und alle Anträge ablehnte, welche von der eigenen Industrie ausgeführt werden konnten, stieg die Nachfrage nach deutschen Erzeugnissen, besonders bei chemischen Grundstoffen, Säuren und Salzen, bei elektrischen Erzeugnissen und Maschinen. England andererseits nahm vor allem an den deutschen Kohlenlieferungen Anstoß und sann auf Mittel, seinem notleidenden Bergbau zu Hilfe zu kommen.

Nach einer vierjährigen Dawes-Praxis sahen sich also die Völker genötigt, eine Revision der deutschen Wiedergutmachungsleistungen vorzunehmen. Deutschland hatte infolge seiner sich mehr und mehr verschlechternden Wirtschaftslage ein Interesse daran, die Endsumme seiner Verpflichtungen kennenzulernen und gleichzeitig eine Erleichterung der Jahrestribute zu bewirken. Andererseits mußte der provisorische Dawes-Plan durch eine endgültige Regelung ersetzt werden, um das letzte Hindernis für das Inkrafttreten des Artikels 431 zu beseitigen, das heißt die Räumung des Rheinlandes herbeizuführen. Frankreich mußte am 1. August seine fällig werdende Schuld von 400 Millionen für gelieferte Kriegsvorräte an Amerika abtragen. Man wollte dies ohne Inanspruchnahme der Steuerzahler, sondern auf Deutschlands Kosten durchführen. Darüber hinaus hatte Frankreich noch 3 Milliarden Dollar Kriegsschulden an die Vereinigten Staaten. Es war nun ein amerikanisch-französisches Schuldenabkommen getroffen worden, welches diese Schuld durch bis 1987 reichende Jahreszahlungen beseitigen sollte. Die Ratifikation dieses Abkommens durch die Französische Kammer war aber nur dann möglich, wenn bis 1987 die entsprechenden deutschen Reparationsleistungen unbedingt gesichert wären. Da dies durch den Dawes-Plan nicht erreicht wurde, mußte also eine endgültige Neuregelung erfolgen.

  Sachverständigenkonferenz  
in Paris

Infolge dieser beiden Wünsche Deutschlands und Frankreichs – Endsumme, Rheinlandräumung; französisch-amerikanisches Schuldenabkommen – beschloß der Völkerbundsrat am 16. September 1928: erstens Eröffnung einer offiziellen Verhandlung über die Forderung des Deutschen Reichskanzlers [297] auf alsbaldige Rheinlandräumung, zweitens eine Kommission von Finanzsachverständigen der beteiligten sechs Regierungen (Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan) einzusetzen, um das Reparationsproblem vollständig und endgültig zu regeln. – Nach langen und schwierigen Verhandlungen mit den beteiligten Regierungen und dem Reparationsagenten wurde schließlich am 22. Dezember 1928 eine Sachverständigenkommission berufen. Sie sollte aus unabhängigen Sachverständigen bestehen, die an keinerlei Instruktionen ihrer Regierungen gebunden sein sollten.

Die Regierungen ernannten jetzt je zwei Sachverständige (Deutschland: Dr. Schacht, Präsident der Deutschen Reichsbank, und Dr. Albert Vögler, Vorstandsvorsitzender der Vereinigten Stahlwerke, A.G.) und je zwei Ersatzmänner. Von Amerika erschienen Owen D. Young, Aufsichtsratsvorsitzender der Amerikanischen Bundesbank und der Electric Company, und der Bankier J. P. Morgan. Die Kommission trat am 9. Februar 1929 in Paris zusammen und tagte dort 17 Wochen unter dem Vorsitz Youngs. Ich schließe mich im folgenden der übersichtlichen Darstellung Friedrich Raabs an.

Die 14 Sachverständigen hatten keinerlei politische Missionen zu erfüllen. In dieser Richtung waren ihnen die Hände gebunden. Schacht sagte darüber:

      "Die Umgrenzung des Auftrages an die Sachverständigen machte es völlig unmöglich, Fragen der großen Politik aufzurollen, wie etwa die Kriegsschuldlüge. Als in der ersten Sitzung der Konferenz von französischer Seite die Ausdrücke unmoralisch und unfair fielen, haben wir ersucht, solche Ausdrücke künftig zu vermeiden. Wenn die Fragen der internationalen Moral und Fairneß erörtert werden sollten, so seien wir durchaus bereit, uns daran zu beteiligen, und wir wären in der Lage, darüber sehr viel zu sagen, wir glaubten aber nicht, daß der Zweck der Konferenz dadurch praktisch gefördert würde. Dieser Hinweis hat genügt, um alle derartigen Betrachtungen für die Folgezeit aus der Konferenz auszuschalten. Ebensowenig haben wir auf der Konferenz politische Erörterungen angestellt über die Rheinlandräumung, die Rückgabe des Saar- [298] gebietes, die Herbeiführung einer unparteiischen Abstimmung in Eupen-Malmedy, die Wiedergutmachung des oberschlesischen Unrechts, die sinnlose Abtrennung Ostpreußens vom übrigen Reich, den Raub des deutschen Privateigentums oder die Wegnahme der deutschen Kolonien. In allen unseren Erörterungen haben wir uns auf rein wirtschaftliche und finanzielle Gedankengänge beschränkt. Wir haben nicht einmal den schon im Dawes-Plan uns auferlegten Grundsatz bestritten, daß Deutschland bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit zahlen soll. Diese und andere bestehende Ungerechtigkeiten der bestehenden Verträge haben wir nicht erörtert, nicht etwa deshalb, weil wir sie billigen, sondern weil sie auf dieser, mit begrenzter Aufgabe betrauten Konferenz keine Rolle spielen konnten."

  Verlauf der Pariser Konferenz  

Die Konferenz spielte sich in drei Phasen ab. Der erste Abschnitt währte bis gegen Ende März. Man beschäftigte sich mit der Prüfung der deutschen Leistungsfähigkeit. Man untersuchte den kranken deutschen Wirtschaftskörper nach jeder Richtung. Man verglich die Steuerlast, die Lebenshaltung und Verschuldung des deutschen Volkes mit den entsprechenden Vorgängen bei anderen Völkern. Dann brachten die einzelnen Delegationen der Völker ohne Rücksicht auf die Aussprache über Deutschlands Leistungsfähigkeit ihre Reparationsforderungen vor, die, entgegen den ursprünglichen Instruktionen, von den politischen Wünschen ihrer Regierungen beherrscht waren. Die Forderungen der Alliierten hatten eine enorme Höhe, und eine Einigung über eine vernünftige Herabsetzung wurde nicht erzielt. Kurz vor Ostern machte der Vorsitzende Owen Young einen Kompromißvorschlag, der ebenfalls die erörterte deutsche Leistungsfähigkeit unberücksichtigt ließ und lediglich versuchte, die Forderungen der Gläubigervertreter auf eine einheitliche Formel zu bringen. Der Kern des Vorschlages war, von Deutschland zunächst einmal diejenigen Beträge zu fordern, welche die Reparationsgläubiger von 1930 ab jährlich brauchten, um ihre Kriegsschulden an Amerika zu bezahlen. Young kam zu dem Ergebnis von 58 Jahresraten und einer Gesamtsumme von 92½ Milliarden. Doch die- [299] ser Vorschlag wurde von den Gläubigern Deutschlands abgelehnt.

Die zweite Phase der Konferenz reichte von Ende März bis Anfang Mai. Die Gläubigervertreter hatten eine Denkschrift ausgearbeitet, worin sie insgesamt etwa 122 Milliarden forderten. Die Deutschen antworteten mit einem Memorandum, worin sie die Zahlung von insgesamt 61 Milliarden während der Dauer von 37 Jahren anboten. Sie wiesen darauf hin, daß Deutschland seit 1918 bereits, ganz vorsichtig geschätzt, 46½ Milliarden bezahlt habe (unter dem Dawes-Plan 7 Milliarden). Dies sei das Äußerste, was innerhalb der schon recht optimistisch geschätzten Leistungsfähigkeit Deutschlands mit gutem Gewissen versprochen werden könne. Jedoch auch der deutsche Vorschlag wurde verworfen. Vergebens bemühte sich Owen Young zu vermitteln, und es schien, als sollte die Konferenz scheitern. Die deutsche Delegation reiste nach Berlin, um der Reichsregierung Bericht zu erstatten, und erhielt ihre volle Handlungsfreiheit ausdrücklich aufs neue bestätigt. Die französische Presse warf den Deutschen vor, sie wollten die Konferenz zum Scheitern bringen. Die Bank von Frankreich versuchte durch Zurückziehung kurzfristiger Kredite einen Angriff auf die deutsche Währung, welcher der Reichsbank einen doppelt so großen Goldabfluß wie der gesamte Ruhrkampf kostete. Doch die Reichsbank schlug den Ansturm durch Erhöhung des Diskontsatzes auf 7½ Prozent ab.

Die dritte Phase begann Anfang Mai und endete Anfang Juni. Owen Young hatte einen neuen Kompromißvorschlag vorgelegt, wonach Deutschland innerhalb 58 Jahren insgesamt etwa 114 Milliarden zu zahlen hatte. Die deutsche Delegation, die von der Regierung dazu ermächtigt worden war, war zum Nachgeben bereit und ging von ihren bisherigen Richtlinien ab, welche die Berücksichtigung der deutschen Leistungsfähigkeit und die Sicherung der Lebenshaltung des deutschen Volkes verlangten. Die Deutschen machten für ihre Bereitwilligkeit zur Unterzeichnung gewisse Vorbehalte, die sich auf die Möglichkeit der [300] Abänderung des Young-Planes, Einstellung aller Liquidationen von Privateigentum, Freistellung der Deutschen Reichsbahngesellschaft, Befreiung von sämtlichen Diskriminierungen durch den Versailler Vertrag erstreckten. Außerdem beantragten sie Aufnahme der sogenannten politischen Klausel in den Plan, welche ausdrücklich feststellte, daß das Ergebnis nicht nur nach wirtschaftlichen, sondern auch nach politischen Gesichtspunkten erfolgt sei, und Aufnahme der Bestimmung, daß durch den neuen Plan sämtliche deutsche Zahlungsverpflichtungen aus allen bisherigen Verträgen abgegolten seien. Da nicht alle deutschen Vorbehalte berücksichtigt wurden, erklärte der deutsche Delegierte Dr. Vögler seinen Rücktritt. Am 31. Mai stimmten Dr. Schacht und Geheimrat Kastl, der Ersatzmann für Dr. Vögler, der von den Gläubigervertretern vorgenommenen Abänderung der deutschen Vorbehalte zu, und am Nachmittag des 7. Juni wurde der englische Text unterzeichnet. –

  Der Young-Plan  

Dieser sogenannte Young-Plan legte Deutschland die Last von etwa 114 Milliarden Mark auf. Davon sollte Frankreich erhalten rund 60 Milliarden, England 23½ Milliarden, und der Rest verteilte sich auf Italien, Belgien, Rumänien, Serbien, Griechenland, Portugal, Japan, selbst Polen erhielt bis 1966 20 Millionen, während die Vereinigten Staaten mit 3 Milliarden befriedigt wurden. Deutschland mußte ausdrücklich darauf verzichten, alles bisher Geleistete (46 bis 50 Milliarden) irgendwie geltend zu machen. Dies unbillige Verlangen zeigt, wie sehr auch der Young-Plan trotz aller Versicherungen der Gegenseite nicht den Versuch darstellte, nach Recht und Billigkeit zu entscheiden, sondern ein Instrument politischer Macht war. Aber auch er fühlt sich nicht als unumstößlich und schlägt bereits Vorkehrungen für seine Abänderung vor.

In vielen Beziehungen unterscheidet sich der Young-Plan vom Dawes-Plan. Zunächst durch die Herabsetzung der Annuitäten und deren zahlenmäßige Bestimmung auf 58. So wurde, im Gegensatz zum Dawes-Plan, auch die Endsumme der deutschen Tribute fixiert. Auch der Fortfall des Wohlstandsindex, der im Laufe der Jahre einen bedeuten- [301] den Umfang angenommen hätte, war bemerkenswert. Die Quellen der Jahreszahlungen wurden auf zwei beschränkt: Reichsbahn und Reichshaushalt. Die Industrie wurde von der Haftung befreit. In die Annuitäten nicht eingeschlossen wurden die Kosten für die Kommissionen und die laufenden Besatzungsausgaben, im Gegensatz zum Dawes-Plan. Auch wurde mit sämtlichen politischen Kontrollen, wie sie durch den Versailler Vertrag – Reparationskommission – und den Dawes-Plan – Generalagent und Spezialkontrolleure – eingesetzt waren, aufgeräumt. Sie wurden beseitigt und an ihre Stelle trat die neu zu gründende "Bank für den internationalen Zahlungsausgleich", deren Sitz noch bestimmt werden sollte. Diese Bank sollte keinen politischen, sondern "im wesentlichen finanziellen und kommerziellen Charakter" haben. Auch die Sachlieferungen sollten nach dem Wunsche der von ihren Industrien beeinflußten französischen und englischen Regierung allmählich verschwinden. Man wollte sie noch zehn Jahre beibehalten mit einem von 750 allmählich auf 300 Millionen jährlich absinkenden Betrage. Dann sollten sie ganz aufhören. Die Besatzungskosten waren nicht mehr, wie im Dawes-Plan, in den Annuitäten enthalten, sondern sollten künftig besonders erstattet werden. Die Zahlung der Annuitäten sollte nicht in deutscher, sondern in ausländischer Währung erfolgen. Neu war im Young-Plan die Verteilung der deutschen Annuitäten auf die Gläubiger und deren Verzicht auf weitere Liquidationen deutschen Eigentums. Jedoch enthielt auch er die Bestimmung, daß er nur als unteilbares Ganzes angenommen oder abgelehnt werden müsse. Sein Zweck war hauptsächlich die "Kommerzialisierung", das heißt die möglichst enge Angleichung der Reparationsverpflichtungen an eine normale geschäftliche Verbindlichkeit. Insofern leitete er das dritte Stadium in der Reparationsangelegenheit ein, deren erstes von 1920 bis 1924 ausschließlich politischen Charakter trug. Die Reparationskommission war eine politische Instanz, die den Machtwillen der alliierten Regierungen vertrat und sich zu deren Vollstrecker machte, ein Verfahren, das schließlich zur Ruhrbesetzung führte. Das zweite Stadium, das Dawes- [302] Stadium von 1924 bis 1929, stellte eine Mischung vorwiegend wirtschaftlicher Tendenz mit politischen Momenten dar, welche bedingt war aus der einseitigen Zusammensetzung des Komitees aus Vertretern der ehemals alliierten und assoziierten Mächte. Das dritte Stadium also leitete das Young-Komitee ein, indem es versuchte, unter Beteiligung von Deutschen die Reparationsangelegenheit ausschließlich in kommerzielle und finanzielle Bahnen zu leiten. Doch erklärten die Deutschen ausdrücklich, daß politische Erwägungen ausschlaggebend gewesen seien bei der Festsetzung der Gesamthöhe der von Deutschland zu zahlenden Reparationen wie auch bei verschiedenen speziellen Bestimmungen, z. B. Abbau der für Deutschland günstigen Sachlieferungen.

Bei der kritischen Würdigung des Young-Planes erblickt Friedrich Raab einen der wesentlichsten Vorteile im Fortfall des Wohlstandsindex. Auch die Befreiung der Industrie sei ein Fortschritt. Aber abgesehen von der Entlastung der Industrie werde im übrigen die Verpfändung deutschen Vermögens und deutscher Einkünfte nur gemildert, in einer Hinsicht sogar verschärft, nicht aber beseitigt. Durch das Verschwinden des Kontrollapparates einschließlich der Reparationskommission und durch die Errichtung der "Bank für den internationalen Zahlungsausgleich" dürfe "lediglich die Wahrung der finanziellen Rechte der Gläubiger aufrechterhalten bleiben". Raab betont hiermit die Entpolitisierung der Reparationsfrage. Er führt dann noch 13 ungeklärte Punkte an, die dringend der Aufklärung bedürften. Allerdings unterliege die Annahme des Young-Planes durch Deutschland vor allem zwei Voraussetzungen: einer außenpolitischen, die in der sofortigen Räumung des gesamten Rheinlandes bestehe, und einer innenpolitischen, die das Ziel habe, die produktive Kapitalbildung zu fördern und unproduktive Kapitalverwendung (Arbeitslosenfürsorge) zu vermeiden. "Alles dies vorausgesetzt, dürfte die Annahme des Young-Planes als das kleinere Übel zu betrachten sein." –

  Haltung der Sozialdemokratie  

Bereits im April, als noch die deutschen Sachverständigen in Paris verhandelten, erklärte der sozialdemokratische Ministerpräsident Preußens, Braun, im Preußischen Landtage:

[303]   "Daß man jetzt die Entrichtung dieses Tributs als Reparation bezeichnet und zur moralischen Verbrämung mit der Kriegsschuldfrage in Verbindung bringt, ändert an seinem uralten, brutalen Wesen nichts. Ich habe bange Zweifel, ob das, was unsere Experten in Paris angeboten haben, jährlich 1650 Millionen 37 Jahre lang, nachdem wir bereits viele Milliarden überwiegend aus der Substanz unseres Volksvermögens geleistet haben, mit der Leistungsfähigkeit unseres Volkes noch in Einklang zu bringen ist. Angesichts des Darniederliegens unserer Wirtschaft, der furchtbaren Krise in der Landwirtschaft, angesichts der Millionen Arbeitslosen und der drückenden inneren Kriegslast will es mir schlechterdings unmöglich erscheinen, für ein Menschenalter 1650 Millionen jährlich zu leisten, ohne den Lebensstandard und damit die Leistungsfähigkeit der arbeitenden Bevölkerung Deutschlands stark herabzudrücken und große Teile unseres Volksvermögens, die für die Erhaltung unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit unentbehrlich sind, an das Ausland abzugeben."

Doch diese an und für sich vernünftigen Gedanken wurden bald durch das Machtgebot der Sozialdemokratie zum Schweigen gebracht. Diese Partei, die im entscheidenden Augenblick bisher stets die Erfüllungspolitik befürwortete, gab auch diesmal wieder den Widerstand gegen die unmäßigen Forderungen der Gläubigerstaaten auf und entzog auf diese Weise den deutschen Sachverständigen in Paris die Möglichkeit einer Ablehnung. Schacht erklärte später, grundsätzlich biete eine Verständigungspolitik mit dem Gegner die einzige Möglichkeit, in geduldiger, friedlicher Arbeit aus der verhängnisvollen Lage herauszukommen, in die uns der verlorene Krieg gebracht habe. Dabei brauche man durchaus nicht etwa an Waffengewalt zu denken. Eine gewaltsame Befreiungspolitik sei nicht möglich. Auch eine passive Abwehr oder eine geschlossene Willensbetätigung gegen ungerechte Zumutungen würden uns in mancher Frage Erleichterungen verschaffen. Allein an einer solchen geschlossenen Willensbetätigung fehle es zur Zeit dem deutschen Volke völlig. – Es war lediglich der Deutschnationalen Volkspartei vorbehalten, den aussichtslosen Kampf gegen den Young-Plan zu führen.

[304] Inzwischen war die Zeit herangerückt, daß sich der Tag der zehnjährigen Wiederkehr des Versailler Vertrages einstellte: der 28. Juni. An diesem schwarzen Tage der jüngsten deutschen Geschichte fanden überall im deutschen Lande gewaltige Protest- und Trauerkundgebungen statt, die unter Führung der vaterländischen Verbände, vor allem des "Stahlhelms", energisch eine Revision des Schmachfriedens forderten. Der Eindruck dieser Erinnerungen bestärkte alsogleich auch den erbitterten Widerstand gegen den Young-Plan. In allen Städten, bis in die kleinsten Dörfer hinein, fanden von Seiten der Deutschnationalen Volkspartei stark besuchte Kundgebungen statt, die sich vor allem gegen die fast 60jährige Dauer der deutschen Tributverpflichtungen richteten. Kinder und Kindeskinder würden versklavt, und schließlich werde dem deutschen Volke jede Möglichkeit genommen, neue Lebenskraft zu entwickeln. Es bildete sich ein Ausschuß mit dem Ziele, die Einführung des Young-Planes zu vereiteln. Der von Seldte geführte "Stahlhelm", Hitler, der an der Spitze der Nationalsozialisten stand, und Hugenberg, der Vorsitzende der Deutschnationalen Volkspartei, schlossen sich zum Kampfe gegen den neuen Tributplan zusammen. Der Widerstand, der bisher spontan aufgetreten war, wurde organisiert, und der Plan, ein Volksbegehren und einen Volksentscheid über die Ablehnung des Tributplanes einzuleiten, tauchte auf und wurde tatkräftig betrieben. Allerdings wurde der Erfolg dieses Volksentscheides von vornherein schon stark beeinträchtigt durch die Tatsache, daß hierbei nicht unbedingt auf die Mitwirkung der Deutschen Volkspartei zu rechnen war. Das Verhalten der Deutschen Volkspartei wurde durch den Umstand bestimmt, daß Stresemann auf der politischen Konferenz im Haag (August 1929) auf Grund des Young-Planes die endgültige Rheinlandräumung betrieb.

Mit der Abfassung des Young-Planes war die Aufgabe der Amerikaner in Europa fürs erste beendet. Die Vereinigten Staaten betrieben eine vorzügliche Politik. Indem ihre Regierung erklärte, das Problem der deutschen Reparationen sei in keiner Weise mit dem Problem der interalliierten Schulden [305] zu verquicken, schloß sie mit ihren Schuldnern in Europa, den alliierten Staaten, Abkommen über die Rückzahlung dieser Schulden. Die amerikanischen Gläubiger verschafften sich aber darüber hinaus eine zweite Sicherheit: den Young-Plan, wodurch sie unter Berücksichtigung der alliierten Wünsche tatsächlich doch das Reparationsproblem mit den alliierten Schulden verknüpften. Dieser zweite Weg stellte für Amerika eine praktische Erleichterung dar, seine Außenstände wieder zu erhalten, ohne daß er ein Risiko enthielt für den Fall, daß Deutschland nicht mehr in der Lage sein würde, seinen Verpflichtungen nachzukommen; denn in diesem Augenblicke würde sich Amerika auf die Schuldenabkommen berufen und ohne Rücksicht auf die deutschen Reparationsleistungen von seinen Schuldnern Zahlungen verlangen. Damit waren Amerikas europäische Sorgen zunächst also erledigt.

  Haager Konferenz  

Es war sehr notwendig, daß sich die am Young-Plan beteiligten Regierungen Deutschlands, Englands, Belgiens, Frankreichs, Italiens und Japans über die politische Ingangsetzung des neuen Tributplanes bald einig wurden. Diesem Zwecke diente die Konferenz im Haag, die im August 1929 stattfand und sehr stürmisch verlief.

Vier deutsche Minister, Stresemann, Wirth, Wirtschaftsminister Curtius und Finanzminister Hilferding, reisten mit einem Stab von etwa 70 Referenten in die holländische Residenz. Ihr Programm bestand in zwei Punkten: Forderung der Rheinlandräumung durch die Alliierten, dann Annahme des Young-Planes. Zwar waren die Deutschen der Ansicht, daß zwischen Rheinlandräumung und Young-Plan keinerlei innere Beziehungen bestanden, aber man glaubte den Young-Plan benutzen zu können, um damit der Rheinlandräumung einen schärferen Nachdruck zu verleihen. Es zeigten sich aber deutlich schwere Erschlaffungssymptome der deutschen außenpolitischen Initiative im Haag, die sich schon seit etwa zwei Jahren angekündigt hatten. Das Gefühl dieser Erschlaffung hatte auch Stresemann, als er nach seiner Rückkehr von der Konferenz ernstliche Rücktrittsabsichten äußerte.

Ein Umstand, der die deutsche Erschlaffung wesentlich förderte, war der in der Außenpolitik wieder vorherrschend [306] gewordene sozialdemokratische Einfluß. Ein Sozialdemokrat, Hermann Müller, war Reichskanzler, der Sozialist Hilferding Finanzminister. Er sowohl wie der Erfüllungspolitiker Wirth stellten eine starke Belastung der deutschen Delegation im Haag dar. Die Idee einer Verständigung mit Frankreich, die zur Zeit von Locarno und Genf eine Berechtigung hatte, um das europäische Gleichgewicht so gut es ging wiederherzustellen und Deutschland als gleichberechtigte Macht in die Große Politik wieder einzuführen, war zu einer Art Zwangsvorstellung bei der sozialistisch beeinflußten Reichsregierung geworden. Sie fühlte nicht, daß das Reich, welches 1925/26 diese Idee aus eigener Initiative durchführte, jetzt ins Schlepptau Frankreichs geriet, nachdem sich zwischen Frankreich und England die Beziehungen geändert hatten.

  Konflikte im Haag  

England hatte nicht das Bedürfnis, sich dauernd in der Abhängigkeit Frankreichs zu befinden, in die es durch Chamberlains Politik geraten war. England glaubte, nachdem Deutschland als politischer Faktor in Europa wieder anerkannt war, sich des Reiches Beistand zu sichern in dem Bemühen, Frankreich gegenüber wieder zu stärkerer europäischer Geltung zu gelangen. Der englische Außenminister Henderson und der Schatzkanzler Snowden (beide gehörten der Arbeiterpartei an) waren mit der Absicht nach dem Haag gefahren, die Politik ihres Landes Frankreich gegenüber wieder in das richtige Verhältnis zu bringen. Snowden wünschte ohne Zweifel eine Kraftprobe, die Englands internationales Ansehen wiederherstellen sollte. Der machtpolitische Kampf der Haager Konferenz spielte sich auf zwei Gebieten ab: im Finanzausschuß und im politischen Ausschuß. Während Snowden im Finanzausschuß zum Angriff überging, parierte Briand den Stoß im politischen Ausschuß. Deutschland aber stand untätig beiseite, ließ sich schließlich von Frankreich drängen und treiben, um nicht gegen die Idee seiner Versöhnung und Verständigung mit Frankreich zu verstoßen, deren Hauptstützen ja die beiden Erfüllungspolitiker Hilferding und Wirth waren.

Snowden eröffnete den Kampf im Finanzausschuß mit der Erklärung, er könne dem Young-Plan nicht zustimmen. Der Anteil Frankreichs sei zu hoch, der Englands zu niedrig. Er [307] verlangte von Frankreich, daß es einen Teil seiner Forderungen an England abtrete. Er erklärte aber ausdrücklich, daß England von Deutschland keine Mehrleistung verlange, es wolle nur etwas von seinen Mitgläubigern, und da man die an und für sich kargen Anteile der anderen Staaten nicht kürzen könne, müsse eben Frankreich etwas abgeben. Durch das Verhalten Snowdens schien die Annahme des Young-Planes gefährdet, Henderson aber erklärte Stresemann: England werde seine Truppen noch im Laufe des Jahres 1929 aus dem Rheinland zurückziehen ohne Rücksicht darauf, ob der Young-Plan angenommen oder abgelehnt werde. Englands Haltung bedeutete eine deutliche Mahnung an Deutschland, fest zu bleiben, sich zum mindesten neutral zu verhalten im politischen Machtkampfe zwischen England und Frankreich.

Aristide Briand.
[Bd. 4 S. 176a]
Aristide Briand.
Photo Scherl.
Der schlaue Briand beantwortete Englands Vorgehen durch eine Kampfansage im politischen Ausschuß: werde der Young-Plan verworfen, so sei selbstverständlich nicht an eine Rheinlandräumung zu denken, erklärte er Stresemann. Hypnotisiert von den Worten des französischen Außenministers, fanden die Deutschen nicht den Mut und die Kraft, mit Nachdruck ihre These zu vertreten: die Rheinlandräumung sei eine Rechtsfolge des Eintritts in den Völkerbund und nicht der Annahme des Young-Planes, doch wenn das Rheinland geräumt werde, nehme Deutschland auch den Young-Plan an. Für die Deutschen war also die Rheinlandräumung die politische Voraussetzung für die Annahme des Young-Planes. Briand verkehrte diese These in ihr Gegenteil. Snowden mahnte die Deutschen des öfteren, fest zu bleiben: England wolle nicht auf Kosten der kleinen Staaten befriedigt werden und von Deutschland wisse man nicht, ob es der Einigung seiner Tributgläubiger Opfer bringen wolle. Wie leicht wurde es den Deutschen gemacht, die Einigung und den Zusammenschluß seiner Gegner und Gläubiger zu vereiteln! Und daran hatte es doch wahrlich ein vernünftiges Interesse! Schien doch jetzt endlich der Zeitpunkt gekommen, da die englisch-französische Allianz ernster als jemals früher erschüttert zu werden drohte!

  Deutschlands Nachgeben  

[308] Doch jetzt trat der große Rückschlag in der deutschen Außenpolitik ein, die sich seit 1924 einigermaßen erfolgreich angebahnt hatte: der deutsch-französische Verständigungswille der Erfüllungspolitiker Hilferding und Wirth siegte über die nüchterne machtpolitische Erwägung, die nach England drängte. Die deutsche Delegation fügte sich dem französischen Drucke, der in dem Bestreben, die Deutschen für das unvermeidliche Scheitern der Konferenz verantwortlich zu machen, die englischen Forderungen auf Deutschland abzuwälzen suchte. Briand hatte gesiegt. Er hatte das Bestreben Englands, Deutschland auf seine Seite zu ziehen, durchkreuzt. Deutschland hatte sich als Trabant Frankreichs erwiesen, und England ließ Deutschland fallen. Auf Deutschlands Kosten war aufs neue die englisch-französische Einigung erzielt worden.

Der Young-Plan sollte am 1. September 1929 in Kraft treten. Bis zu diesem Zeitpunkte hatte Deutschland etwa 300 Millionen Mark gemäß seinen Leistungen aus dem Dawes-Plan zuviel gezahlt, die sich hauptsächlich aus 175 Millionen Mark Vorauszahlungen aus der Industriebelastung herleiteten. Deutschland verzichtete auf die Rückzahlung dieses Überschusses aus dem Dawes-Plane. Von der Annahme dieses Punktes hatten die übrigen Mächte – auch England, nachdem es gesehen hatte, daß Deutschland nicht auf seine Politik einging – das Ergebnis der Konferenz abhängig gemacht. Die deutsche Abordnung, für die in diesem Falle Hilferding verantwortlich war, gab nach, da sie die Konferenz hieran nicht scheitern lassen wollte. Die Deutschen übernahmen außerdem die Hälfte der Besatzungskosten, das waren 30 Millionen Mark (insgesamt 60). Bisher hatte die Besatzung den Alliierten monatlich 11 Millionen Mark gekostet. Die Übernahme des Besatzungskostenanteiles durch Deutschland bedeutete insofern ein Nachgeben, da nach dem Eintritt in den Völkerbund rechtlich hierfür gar keine Veranlassung mehr vorlag. Deutschland verzichtete ferner auf Erstattung der Besatzungsschäden, die bis zum 1. September 1929 etwa 40 Millionen betrugen, während die Besatzungsmächte ihrerseits auf die Deutschland à conto der Besatzungs- [309] schäden geleisteten Vorschüsse in Höhe von etwa 20 Millionen verzichteten, nur um den Franzosen entgegenzukommen! Deutschland zahlte also mehr als 350 Millionen aus seiner Tasche, wozu keinerlei Verpflichtungen bestanden!

Auch zu ungünstigen Abänderungen des Young-Planes war Deutschland bereit. Es gab seine Zustimmung zur Erhöhung des ungeschützten Teiles der deutschen Jahrestribute von 660 auf 702 Millionen zugunsten Frankreichs, das dadurch in die Lage versetzt wurde, zuungunsten der deutschen Finanzen jährlich 42 Millionen zu realisieren. Die deutsche Regierung erklärte ihrerseits grundsätzlich, in Zukunft auf alle Liquidationen zu verzichten, wie der Young-Plan dies verlangte. Schließlich wurde in der Sachlieferungsfrage unter anderem auf Grund englischen Einflusses bestimmt, daß die deutschen Kohlensachlieferungen an Italien für die nächsten zehn Jahre auf 250½ Millionen Tonnen reduziert werden. Italien verpflichtete sich, für die nächsten drei Jahre von England je eine Million Tonnen Kohle abzunehmen. Frankreich sollte dafür den deutschen Teil der Kohlenlieferungen, der nun für Italien ausfallen würde, in Kohle oder in anderen Gütern übernehmen.

Ebenso zweifelhaft wie die Erfolge Hilferdings im Finanzausschuß waren diejenigen Stresemanns im politischen Komitee. Gewiß hatte Stresemann die völlige Räumung der zweiten und dritten Besatzungszone durchgesetzt. Die Engländer versprachen, ihre 6000 Mann bis Mitte Dezember 1929 aus der zweiten Zone mit dem Zentrum Wiesbaden zurückzuziehen. Auch die Belgier wollten innerhalb dreier Monate das deutsche Gebiet verlassen. Schwierigkeiten bereiteten die Franzosen. Die Generale sprachen von technischen Schwierigkeiten des Abtransportes und der Unterbringung der Truppen in Frankreich. Es war den Deutschen leicht, die faulen Ausreden zu widerlegen, und so wurde bestimmt, daß spätestens bis zum 30. Juni 1930 die dritte Zone geräumt werden solle. Bis dahin sollte der Young-Plan durch das deutsche und französische Parlament ratifiziert und in Kraft getreten sein. War diese durch Frankreich hineingebrachte Klausel schon unzu- [310] lässig, so bedeutete die von Frankreich erreichte verschleierte Dauerkontrolle des Rheinlandes geradezu eine Verletzung der bestehenden Verträge.

Man erweiterte auf französischer und englischer Seite nämlich die Rechte der in den Schiedsabkommen von Locarno eingesetzten deutsch-belgischen und deutsch-französischen Vergleichskommissionen in zweierlei Beziehungen:

Nach Artikel 4, Ziffer 1 des Westpaktes mußten Verstöße gegen Artikel 42 oder 43 des Versailler Vertrages, betreffend die entmilitarisierte Rheinlandzone, "sofort vor den Völkerbundsrat" gebracht werden. Im Haag wurde dagegen am 29. August zwischen Stresemann, Hymans, Henderson, Briand und Grandi bestimmt, die Regierungen seien übereingekommen,

"daß die Aufgabe, eine gütliche Regelung jener Schwierigkeiten herbeizuführen, von den Kommissionen erfüllt wird, die durch die in Locarno am 16. Oktober 1925 von Belgien und Frankreich mit Deutschland abgeschlossenen Schiedsabkommen errichtet worden sind. Diese Kommissionen handeln gemäß den Verfahren und mit den Befugnissen, die in diesem Abkommen vorgesehen sind. Wenn eine Schwierigkeit der bezeichneten Art entsteht, wird sie entweder der deutsch-belgischen Vergleichskommission oder der deutsch-französischen Vergleichskommission unterbreitet."

Doch sollten die beteiligten Mächte jederzeit das Recht haben, den Völkerbundsrat anzurufen. Wirth gab zur Läuterung dieser Frage noch folgende Erklärung zu Protokoll:

      "In dem Augenblick, in dem die politische Kommission sich über diese Entschließung geeinigt hat, lege ich Wert darauf, besonders zur Aufklärung der deutschen öffentlichen Meinung festzustellen, daß die Herren Briand, Henderson, Hymans, Stresemann und Wirth darin einig gewesen sind, daß der letzte Satz des Vorschlages Hendersons in dem Sinne aufzufassen sei, daß Deutschland gleichfalls das Recht hat, zu jeder Zeit den Rat des Völkerbundes gemäß dem Rheinpakt zu befassen, selbst wenn ein Vergleichsverfahren schon im Gange ist."

Die Tätigkeit der Ausgleichskommissionen sollte sich in Zukunft auf das gesamte deutsche Reichsgebiet wie auf die entmilitarisierte Zone beziehen. Es gab jetzt also vier Verfahren zur Regelung von [311] Zwischenfällen: die beiden Vergleichskommissionen des Locarnopaktes, den Internationalen Haager Schiedsgerichtshof, das Investigationsverfahren des Völkerbundsrates nach Artikel 2 des Versailler Vertrages und das allgemeine Verfahren des Völkerbundsrates und der Bundesversammlung.

Nach dem Locarnovertrage konnten die Vergleichskommissionen keineswegs für alle Fragen in Wirksamkeit gesetzt werden. In Rechtsstreitigkeiten nämlich, zu deren Definition im Locarnovertrage auf Artikel 13 der Völkerbundsakte verwiesen wird: "Streitfragen über die Auslegung eines Vertrages, über alle Fragen des internationalen Rechts, über das Bestehen jeder Tatsache, die die Verletzung einer internationalen Verpflichtung bedeuten würde oder über Umfang und Art der Wiedergutmachung in Fällen einer solchen Verletzung" – in diesen Fällen also sollte nach dem Sinn des Locarnovertrages die Vergleichskommission angerufen werden, wenn beide Staaten dazu ihre Zustimmung gaben. Ein einzelner Staat aber konnte entweder den Ständigen Internationalen Gerichtshof anrufen oder ein Schiedsgerichtsverfahren beantragen, wonach ein Neutraler zur Feststellung des Tatbestandes entsandt wurde. Deutschland konnte also jedesmal durch sein Veto verhindern, daß die Vergleichskommission einen Rechtsstreit dieser Art schlichten sollte; die Angelegenheit kam dann vor das Schiedsgericht oder den Ständigen Internationalen Gerichtshof. Diese Möglichkeit wurde durch die Haager Abmachungen beseitigt. Jetzt mußte die Vergleichskommission auch in diesen Fragen ihre Tätigkeit aufnehmen, sofern auch nur ein Staat, Belgien oder Frankreich, dies beantragte, ohne Rücksicht auf das Veto des andern, Deutschlands. Die Kommission, bei der auch ein Belgier oder Franzose Mitglied ist, darf sich an Ort und Stelle begeben, um alle notwendigen

  Dauerkontrolle im Rheinland  

Aufklärungen zu erhalten. Völkerrechtlich waren diese Bestimmungen objektiv und unparteiisch. Politisch dagegen bedeuteten sie für Deutschland die militärische Dauerkontrolle. Sie erhielten ihr Signum durch ihr Herauswachsen aus der deutschen Forderung, das Rheinland zu räumen, und aus der Tatsache, daß die Abrüstung und die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone bisher nur einseitig von Deutschland erzwungen worden waren, [312] ohne daß Frankreich und Belgien die gleichen Maßnahmen durchgeführt hatten.

Die Vereinbarung über die Vergleichskommissionen und die Abmachung über die grundsätzliche Annahme des Young-Planes vom 17. Juni 1929 waren gegenseitig voneinander abhängig. Auch die Räumung der dritten Rheinlandzone wurde, wie die Note der Besatzungsmächte an die deutsche Regierung über die Räumungsbestimmungen feststellte, vom Young-Plan abhängig gemacht.

      "Die Räumung der dritten Zone durch französische Truppen wird unmittelbar nach der Ratifikation des Young-Planes durch das deutsche und französische Parlament und der Ingangsetzung dieses Planes beginnen. Die Räumung wird ohne Unterbrechung und so schnell durchgeführt werden, wie es die natürlichen Bedingungen erlauben. Sie wird in jedem Falle spätestens in einem Zeitraum von acht Monaten, der sich jedoch nicht über das Ende des Monats Juni 1930 hinaus erstrecken darf, beendet werden."

Die Saarfrage sollte baldmöglichst auf einer Konferenz in Paris erledigt werden. Hierüber fand folgender deutsch-französischer Notenwechsel statt:

    Stresemann an Briand: "Mit Beziehung auf unsere Besprechungen über die alsbaldige Lösung der Saarfrage beehre ich mich, Euer Exzellenz hiermit das beiderseitige Einverständnis darüber zu bestätigen, daß unter Vorbehalt der politischen Rechte der Saarbevölkerung die mit dieser Frage zusammenhängenden Einzelheiten zum Gegenstande deutsch-französischer Verhandlungen gemacht werden sollen, die alsbald in Paris begonnen und soweit irgend möglich in einem Zuge zu Ende zu führen sind."

    Briand antwortete: "Mit Beziehung auf unsere Besprechungen über die alsbaldige Lösung der Saarfrage beehre ich mich, Euer Exzellenz hiermit das beiderseitige Einverständnis darüber zu bestätigen, daß unter Vorbehalt der politischen Rechte der Saarbevölkerung die mit dieser Frage zusammenhängenden Einzelheiten zum Gegenstande deutsch-französischer Verhandlungen gemacht werden sollen, die alsbald in Paris beginnen und soweit irgend möglich in einem Zuge zu Ende zu führen sind."

Schließlich erklärte sich Stresemann einverstanden mit den Verhandlungen, die im Juli zwischen der deutschen Regierung [313] und der Botschafterkonferenz stattgefunden hatten und eine "strategische" Beschränkung des Eisenbahnnetzes im deutschen Westen zum Gegenstand hatten. Stresemann erklärte sich bereit, verschiedene Eisenbahnstrecken stillzulegen und abzubauen und die übrigen Strecken nicht weiter auszubauen, als es die wirtschaftliche Notwendigkeit erfordere.

Die Abänderung des Young-Planes und die wesentliche Erweiterung der in den Schiedsverträgen von Locarno vorgesehenen Schiedskommissionen waren ein teurer Preis, den Deutschland an Frankreich für die vorzeitige Räumung der dritten Zone des besetzten Gebietes bezahlte. Finanziell wie politisch hatte Deutschland eine Niederlage erlitten, die in ihren Auswirkungen nachhaltiger sein konnte als der Erfolg der Rheinlandräumung.

  Urteile in England  

In England herrschte über das Ergebnis der Haag-Konferenz allgemeine Befriedigung. Deutschland sei zwar zu seinen Einwänden vollkommen berechtigt, da die finanziellen und politischen Vorschläge vom Reiche wesentlich neue Opfer gefordert hätten. Doch vom englischen Standpunkte hätten die Verhandlungen über die Rheinlandräumung weit mehr gebracht, als man erwartet hätte, besonders in bezug auf die Vergleichskommissionen. Allerdings sei das Ideal einer sofortigen Rheinlandräumung nicht erreicht worden, und Daily Telegraph wies darauf hin, daß die Ratifikation durch die Französische Kammer noch erhebliche Schwierigkeiten bringen könne. Die Times erkannten Deutschlands "Entgegenkommen" an; das Reich habe viele Zugeständnisse machen müssen, die in Deutschland wahrscheinlich nicht populär seien und der deutschen Abordnung innerpolitische Konflikte bereiten würden. Es bleibe noch ein letztes Problem offen, das der Saar. Es sei Sache Frankreichs und Deutschlands, darüber ein Sonderabkommen zu treffen, das dann später von den Mächten des Versailler Vertrages ratifiziert werden könne. Besonders begrüßte England den Abschluß der Rheinlandverhandlungen deswegen, weil eine gewisse Übereinstimmung zwischen den ehemaligen Alliierten erreicht worden sei. Die Times sagten, diese Zusammenarbeit entkräfte überzeugend die Behauptung, daß Snowdens energische Politik Frankreich für den [314] Zusammenbruch der Entente verantwortlich machen wollte. Andere Kreise erblickten einen Vorteil darin, daß England von der europäischen Politik etwas abrücken und eine Stellung einnehmen könne, die eine stärkere Berücksichtigung der Gesamterfordernisse des Weltreiches gestatte. Die günstige Gelegenheit hierzu hätten die britischen Staatsmänner (Chamberlain) früher allzuoft nicht erkannt, meinte Daily Expreß. Dagegen erklärten die Daily News, durch den guten Willen aller beteiligten Staatsmänner sei Europa im Haag einen Schritt weiter auf dem Wege zum Frieden gegangen.

  Kritik in Frankreich  

In Frankreich war die Stimmung geteilt. Die Linkspresse war im allgemeinen sehr befriedigt. Die Volonté schrieb, Stresemann habe seinen Versöhnungswillen wie so oft seit Locarno bewiesen. Er habe eine kluge und große Reserve geübt, statt die französisch-englischen Meinungsverschiedenheiten auszunutzen. Die juristische und moralische Gleichheit sei erreicht, auch die materiellen Fragen seien befriedigend gelöst worden. In der Frage der Rheinlandräumung habe Briand seine Beschlüsse in engster Fühlung mit den Militärbehörden gefaßt, General Guilleaumat und das Kriegsministerium seien befragt worden. Das Oeuvre war befriedigt, daß der Young-Plan gesichert sei und Frankreich mit der endgültigen Regelung der Reparationsfrage zufrieden sein könne. Die Rechtspresse war unbefriedigt. Man gebe das letzte Pfand, das Rheinland, aus den Händen. Die Sicherheit sei durch die vorzeitige Räumung vermindert worden. Dies sei, nach dem Figaro, die Entwicklung der französischen Politik seit 1924 (Briand). Der Avenir meinte: "Uns hat die Konferenz 200 Millionen Franken jährlich für 37 Jahre gekostet, davon müssen wir 110 allein an Herrn Snowden bezahlen und den Rest verwenden, die kleinen Gläubiger zufriedenzustellen. Außerdem haben wir das Rheinland geräumt. Wir haben zwar, um an das Wort Heinrichs IV. anzuknüpfen, die Messe angehört, den Wein bezahlt, aber Paris doch nicht erhalten."

Das der Regierung nahestehende Echo de Paris machte kräftig gegen die Räumung Stimmung und verlangte zum mindesten eine "würdige", das heißt langsame Räumung. Daneben wurde den Lesern das [315] alte Märchen aufgetischt, daß die rheinische Bevölkerung gallischer Abkunft sei und eigentlich zu Frankreich gehöre.

      "In Paris hat man nicht gewußt, was man wollte. Die Trikolore wird nun verschwinden, alles ist zu Ende. Wir haben angenommen, daß die Räumung sich langsam und würdig abspielen werde zu einer Stunde, die Frankreich sich selbst vorschreibt. Aber wir werden geradezu aus dem Rheinland vertrieben. Durch solche Mittel verstärkt man den Deutschen noch den Eindruck, daß sie den Krieg nicht verloren haben. Versuchen wir, wenigstens Straßburg noch zu halten."

Léon Bailly führte im Intransigeant aus, daß die Haager Abmachungen keineswegs Artikel 430 des Versailler Vertrages außer Kraft setzen, wonach eine Wiederbesetzung der rheinischen Gebiete im Falle eines deutschen Verstoßes möglich sei. Er stelle die Gläubigerrechte gegenüber seinem Schuldner sicher, der sich seinen Zahlungsverpflichtungen entziehen würde. Anfang September brachte der Abgeordnete Charles Reibel in der Deputiertenkammer eine Interpellation ein, die sich gegen die Haltung der französischen Delegation auf der Haager Konferenz richtete. Es wurde hierin von der Regierung Aufschluß über die Gründe verlangt, die sie veranlaßt hätten, die Garantien für die Sicherheit und für einen regelmäßigen Eingang der deutschen Zahlungen nach dem Friedensvertrage preiszugeben. –

In Deutschland rissen die Haager Vorgänge alte Wunden auf: die Deutschnationalen rückten von der Politik der Koalitionsregierung ab und stellten sich in Gegensatz zu ihr. Die deutsche Außenpolitik, die seit 1926 auf der breiten Volksgrundlage von den Deutschnationalen zu den Sozialdemokraten bestand, zog sich wieder auf die schmalere Basis von der Deutschen Volkspartei bis zur Sozialdemokratie zurück. Die Ereignisse im Haag trugen den ausgesprochenen Charakter einer Politik der Mitte mit stark sozialistischem Einschlag, einer Politik des Verzichts und der Erfüllung. Die Konstellation der Reichsregierung war im August 1929 dieselbe wie im August 1923: Volkspartei und Sozialdemokratie, Stresemann und Hilferding, hatten sich zu gemeinsamer Arbeit zusammengefunden. 1923 führte diese Koalition die Beendigung [316] des passiven Widerstandes herbei, eine Maßnahme, die nach der ganzen trostlosen inneren Lage und der äußeren Isolierung Deutschlands damals unbedingt notwendig war. In jenem Augenblick befanden sich die Forderungen der Realpolitik, wie sie die Volkspartei vertrat, mit dem doktrinären Versöhnungswillen der Sozialdemokratie im vollen Einklang. Im August 1929 jedoch wirkte die volksparteilich-sozialdemokratische Verbindung im höchsten Maße rückschrittlich, schwächlich, schädlich; denn die äußeren Voraussetzungen hatten sich grundsätzlich geändert, so daß das Verhalten der Sozialdemokratie, das um der Verständigung mit Frankreich willen stets große Opfer zu bringen bereit war, keineswegs gerechtfertigt schien, sondern als eine Erneuerung des alten sozialdemokratischen Trugschlusses von der Bereitwilligkeit der ausländischen Sozialisten zur Völkerversöhnung wirkte. Das im August 1923 isolierte Deutschland war allmählich zur Gleichberechtigung vorgedrungen, so daß England es im August 1929 indirekt zum Zünglein an der Waage machte im englisch-französischen Kampf um die Vorherrschaft in Europa. Die deutsche Delegation aber, gebannt in einem sozialistischen Versöhnungswahn, war zaghaft und brachte nicht den Mut auf, die ihr von England zugedachte schiedsrichterliche, gewissermaßen machtpolitische Rolle zu spielen. So war für Deutschland das Ergebnis der Haager Konferenz aufs neue Isolierung, Stärkung der englisch-französischen Entente, Verstärkung des französischen Gegensatzes infolge der Rheinlandräumung und neuer Zwiespalt im Innern. Das war die Folge der politischen Zusammenarbeit zwischen Volkspartei und Sozialdemokratie: zum Schaden Deutschlands erreichte sie das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigte.

  Deutsches Freiheitsgesetz  

So tat sich im Herbst 1929 wieder eine große Kluft im deutschen Volke auf, die mancher schon geschlossen wähnte. Ein heißer Streit entbrannte, der die Energien der Parteien für und gegen den Young-Plan konzentrierte. Das Triumvirat Hugenberg, Hitler und Seldte rief seine Anhänger zu einem Volksbegehren auf, dessen Gegenstand das Deutsche Freiheitsgesetz bildete. Der vorgeschlagene Wortlaut dieses Gesetzes war folgender:

[317]   "§ 1. Die Reichsregierung hat den auswärtigen Mächten unverzüglich in feierlicher Form Kenntnis davon zu geben, daß das erzwungene Kriegsschuldanerkenntnis des Versailler Vertrages der geschichtlichen Wahrheit widerspricht, auf falschen Voraussetzungen beruht und völkerrechtlich unverbindlich ist.
      § 2. Die Reichsregierung hat darauf hinzuwirken, daß das Kriegsschuldanerkenntnis des Artikels 231 sowie die Artikel 429 und 430 des Versailler Vertrages förmlich außer Kraft gesetzt werden.
      Sie hat ferner darauf hinzuwirken, daß die besetzten Gebiete nunmehr unverzüglich und bedingungslos, sowie unter Ausschluß jeder Kontrolle über deutsches Gebiet geräumt werden, unabhängig von Annahme oder Ablehnung der Beschlüsse der Haager Konferenz.
      § 3. Auswärtigen Mächten gegenüber dürfen neue Lasten und Verpflichtungen nicht übernommen werden, die auf dem Kriegsschuldanerkenntnis beruhen. Hierunter fallen auch die Lasten und Verpflichtungen, die auf Grund der Vorschläge der Pariser Sachverständigen und nach den daraus hervorgehenden Vereinbarungen von Deutschland übernommen werden sollen.
      § 4. Reichskanzler und Reichsminister und deren Bevollmächtigte, die entgegen der Vorschrift des § 3, Absatz 1 Verträge mit auswärtigen Mächten zeichnen, unterliegen den im § 92, Nr. 3 StGB. vorgesehenen Strafen.
      § 5. Dieses Gesetz tritt mit seiner Verkündung in Kraft."

  Innere Schwierigkeiten  

Dieser Gesetzentwurf regte die Leidenschaften in beiden Lagern aufs heftigste auf. Es war selbstverständlich, daß ihn die Regierungsparteien von der Volkspartei bis zur Sozialdemokratie von vornherein ablehnten, würden sie doch durch eine Unterstützung dem von ihnen selbst im Haag geschaffenen Werke den Todesstoß versetzt haben. Auch innerhalb der Deutschnationalen Volkspartei herrschte keine absolute Einmütigkeit. Ein großer Teil der Partei war nicht einverstanden mit der alldeutschen Führung des Großindustriellen Hugenberg. Seine Verbindung mit den Nationalsozialisten erweckte Unmut, und viele Deutschnationale waren besorgt, [318] ob auf diesem Wege sich die Partei die Macht bewahren könne, die sie sich im Laufe der Jahre errungen hatte. Bedeutete doch taktisch das Vorgehen Hugenbergs nichts anderes als eine Rückwendung zu einer Politik, welche die Partei bis 1923 betrieben hatte.

Besonders stark wurde der vierte Paragraph von allen Seiten angegriffen. Hervorragende Gelehrte aller Parteirichtungen wiesen nach, daß es nicht möglich sei, einen politischen Tatbestand in einen kriminellen umzuformen, wenn nicht die Vorbedingungen der Kriminalität gegeben seien. Die Politiker erklärten, daß eine solche Bestimmung dem ganzen Wesen der parlamentarischen Regierungsform zuwiderlaufe. Der Streit gerade um diesen Paragraphen wurde immer erbitterter, so daß die anderen Bestimmungen des Gesetzes mehr in den Hintergrund traten.

Nichtsdestoweniger wurden in der zweiten Oktoberhälfte die Einzeichnungslisten für das Volksbegehren ausgelegt. Die Gegner suchten mit allen möglichen Mitteln die Zahl der Einzeichner soviel wie möglich herabzumindern. Minister und Staatsbeamte hielten Reden vor großen Versammlungen und warfen ihre Stimme gegen das Freiheitsgesetz in die Waagschale. Ja, sogar die politische Neutralität der Rundfunksender wurde nicht respektiert. Die Sendestellen verbreiteten Ministerreden gegen das Volksbegehren. Die preußische Regierung verbot sogar offiziell ihren Beamten, sich in die Listen einzutragen, und gab den Dienststellen förmliche Überwachungsanweisungen. Dennoch ergab sich, daß am Schlusse der Einzeichnungsfrist die vorgeschriebene Zahl von zehn Prozent der Wahlberechtigten ihre Namen eingezeichnet hatte: es wurden über vier Millionen Unterschriften gezählt. Auffallend war die Tatsache, daß die prozentuale Beteiligung in der östlichen Hälfte Deutschlands erheblich höher war als in den westlichen Gebieten. Hier betrug sie durchschnittlich kaum mehr als zwei bis drei Prozent.

Die Reichsregierung war nun genötigt, den Volksentscheid vorzubereiten. Gleichzeitig unterbreitete sie den Gesetzentwurf dem Reichstage. Sie fügte eine umfangreiche Kritik bei, in der sie gegen das Gesetz Stellung nahm. Es sei unvereinbar [319] mit der Führung des Reiches, wenn die Linien der deutschen Außenpolitik in weitem Umfange durch ein Reichsgesetz festgelegt würden. Auch würde die Rheinlandräumung in Frage gestellt. Ferner würde das ganze parlamentarische System erschüttert, wenn man die Minister unter die Bestimmungen des Strafgesetzbuches stelle.

      "Der Gesetzentwurf ist verfassungsändernd. Die Bestimmung des Paragraphen 1 verpflichtet die Reichsregierung, den auswärtigen Mächten in feierlicher Form Kenntnis davon zu geben, daß das erzwungene Kriegsschuldanerkenntnis des Versailler Vertrages völkerrechtlich unverbindlich ist. Damit wird die Reichsregierung beauftragt, eine völkerrechtlich rechtserhebliche Erklärung für das Reich abzugeben. Das steht im Widerspruch mit Artikel 45 der Reichsverfassung, nach dem der Reichspräsident das Reich völkerrechtlich vertritt und somit ausschließlich befugt ist, völkerrechtliche Erklärungen für das Reich abzugeben.
      Der Entwurf enthält Eingriffe in die Gesetzgebung in die auswärtige Politik. Damit steht er im Widerspruch zu dem Grundsatz der Trennung der Gewalten, auf dem die Reichsverfassung beruht. Nach der Verfassung ist es Sache des Präsidenten, völkerrechtliche Akte vorzunehmen (Artikel 45 der Reichsverfassung) und Sache des Reichskanzlers, die Richtlinien der Politik zu bestimmen (Artikel 56). Nach dem Entwurf soll die Gesetzgebung die Initiative für einen den auswärtigen Mächten gegenüber namens des Reiches vorzunehmenden völkerrechtlichen Akt ergreifen (§ 1), soll Richtlinien für die Reichspolitik aufstellen (§ 2), und soll die Initiative der berufenen Organe in bestimmter Hinsicht ausschließen (§§ 3 und 4).
      Zur Annahme des Gesetzes durch Volksentscheid ist demnach gemäß Artikel 76, Abs. 1, Satz 4 der Reichsverfassung die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten erforderlich."

Neben diesen inneren Auseinandersetzungen gingen die Vorbereitungen zur Durchführung des Young-Planes her. In Baden-Baden tagte ein Organisationskomitee, welches sich aus Bankleitern aller beteiligten Länder zusammensetzte und die [320] Errichtung der neuen "Bank für internationale Zahlungen" einleitete. Mitte November lagen die Statuten dieser neuen Weltbank vor, die in Basel ihren Sitz nehmen und über ein Grundkapital von 500 Millionen Schweizer Franken verfügen sollte. Die Räumung der besetzten Gebiete machte Fortschritte, die Engländer zogen ihre Truppen aus Wiesbaden zurück, und die Rheinlandkommission siedelte von Koblenz nach Wiesbaden über.

Abmarsch der Engländer aus Wiesbaden, September 1929.
[Bd. 5 S. 32b]      Abmarsch der Engländer aus Wiesbaden, September 1929.      Photo Scherl.

Letzte Parade der englischen Royal Welsh Füsiliere mit ihrem Ziegenbock als Mascotte in Wiesbaden.
[Bd. 5 S. 64a]      Letzte Parade der englischen Royal Welsh Füsiliere mit ihrem Ziegenbock als Mascotte in Wiesbaden vor der Räumung, Anfang September 1929.      Photo Scherl.

Abmarsch der Engländer aus Königstein, Ende 1929.
[Bd. 5 S. 48a]      Abmarsch der Engländer aus Königstein, Ende 1929.      Photo Scherl.

Letzter Appell der Franzosen in Koblenz, 30. November 1929.
[Bd. 5 S. 48b]    Letzter Appell der Franzosen
in Koblenz, 30. November 1929.

Photo Scherl.
Niederholen der französischen Trikolore auf Ehrenbreitstein, Ende 1929.
[Bd. 5 S. 48b]      Niederholen der französischen Trikolore auf Ehrenbreitstein, Ende 1929.
Photo Scherl.

Ende November waren Aachen, Düren, Euskirchen, Bad Ems und Koblenz frei von der Besatzung. Mitte November begann man in der Pfalz mit der Zerstörung von Eisenbahnlinien, wie dies im Juli und August vereinbart worden war. Auch bereitete die Reichsregierung die Umorganisation der Reichsbahn vor. Durch das Ausscheiden der ausländischen Mitglieder sollten die Funktionen des bisherigen verantwortlichen Kommissars, des Franzosen Leverve, wieder auf den Reichsverkehrsminister übergehen, während von nun an sämtliche 18 Verwaltungsratsmitglieder von der Reichsregierung ernannt werden sollten, wobei die bisher von den Ausländern innegehabten Sitze den deutschen Ländern zufallen sollten. Die Kommission, welche die Saarfragen zu erledigen hatte, trat Ende November in Paris zusammen. –

Stresemanns Tod
  und Charakteristik  

Inmitten all dieser Ereignisse erlag in der Frühe des 3. Oktober 1929 der Reichsaußenminister Stresemann einem Herzschlag. Sechs Jahre hindurch hatte er die deutsche Außenpolitik geleitet, und das Urteil der Öffentlichkeit über die Erfolge des Ministers fielen sehr verschieden aus. Und dennoch war dieser Staatsmann, der über ein hohes Maß von Aktivität und Fleiß verfügte, der reinste Ausdruck seiner Zeit. Sein politisches Dogma war, mit einem Worte, der Ausgleich: Ausgleich der Spannungen, Überbrückung der Gegensätze, die Krieg und Revolution geschaffen hatten. Das bedeutete ein Zusammenführen aller Kräfte, welche die Revolution auseinandergeschleudert hatte, eine Zusammenarbeit mit allen Völkern, die der Weltkrieg auseinandergerissen hatte, oder, in der Sprache Stresemanns: innenpolitisch die Große Koalition, außenpolitisch die Verständigung mit Frankreich. Die Krönung dieses Werkes war dann die Befreiung des besetzten deutschen Landes im Westen.

Trauerfeier für Stresemann im Reichstag.
[Bd. 4 S.272b]      Trauerfeier für Stresemann im Reichstag.      Photo Scherl.

[321] Stresemanns Anschauungen wurzeln im Boden der Wirtschaft, der Industrie. Sie ist übernational, verträgt keine Unruhe, strebt nach dem Gleichgewicht. Sie weist Gefühle und Leidenschaften zurück, sie verlangt nüchterne Nützlichkeitserwägungen. Stresemann übersetzte das industrielle Dogma ins Politische. Sein Zeitalter bot die denkbar günstigsten Voraussetzungen hierfür. Und so konnte es kommen, daß Stresemann gerade in dem Augenblicke ans Ruder gelangte, als der nackte Kampf ums Dasein auf seinem Höhepunkt angelangt war, als niemand mehr Zeit hatte, nach Imponderabilien zu fragen, sondern nur nach Brot verlangte. Auf diesem Boden baute er weiter, und so geschah es, daß sein Werk trotz seiner Erfolge an der Tragik des Unzulänglichen leidet.

Der Weg Stresemanns ist durch Marksteine deutlich gekennzeichnet: Er bahnte der Rentenmark den Weg; er führte den Dawes-Plan ein; er ging nach Locarno und nach Genf; er ging nach dem Haag. Er führte den Dawes-Plan ein und opferte Hoheitsrechte des Reiches; er ging nach Locarno und opferte Elsaß-Lothringen; er führte Deutschland gleichberechtigt in den Völkerbund ein und opferte den Kampf um die Kriegsschuldlüge; er ging nach dem Haag und brachte finanzielle und politische Opfer. Sein Weg war richtig; aber man weiß nicht, ob er mit Erfolgen oder Opfern gepflastert war. Immerhin hat er eines erreicht: er hat das Deutsche Reich aus seiner politischen Isolierung befreit und es wieder in die Politik der großen Mächte eingeführt. Der Mangel an Leidenschaft aber wurde durch Opfer aufgewogen, durch Opfer, für die man nicht bloß Deutschlands Ohnmacht verantwortlich machen kann.

Beisetzung Stresemanns 1929.
[Bd. 4 S. 304a]      Beisetzung Stresemanns 1929.      Photo Scherl.

Innenpolitisch war Stresemann ursprünglich bemüht, nicht nur die Große Koalition zu verwirklichen, sondern auch die Deutschnationalen an seine Ziele zu ketten. Beides ist ihm mißlungen. Wir sahen, wie seine Große Koalition zweimal scheiterte. Seine Beziehungen zu den Deutschnationalen waren anfangs, wenn nicht gerade herzlich, so doch aber günstig. Seit dem Frühjahr 1925 jedoch tat sich eine Kluft zwischen ihm und der großen Rechtspartei auf, die sich im Laufe der Zeit nicht verengerte, sondern vergrößerte. Seit dem Beginn [322] der Sicherheitsverhandlungen war der Bruch zwischen Stresemann und den Deutschnationalen unheilbar. Beide wollten dasselbe, aber auf verschiedenen Wegen. Die Deutschnationalen kämpften um die nationale Macht, Stresemann um den internationalen Ausgleich. So kam es, daß der Minister unwillkürlich den Anschluß an die Sozialdemokratie suchte. Der Einfluß der Linkspartei wurde mit der Zeit immer stärker, bis Stresemann schließlich im Haag die Zügel entglitten. Kurz vor seinem Tode ereilte ihn die Tragik, daß die inneren Gegensätze schroffer denn je zuvor gegeneinander wirkten. Nichts ist tragischer als die Frage, die auch am Ende seines Wirkens steht: welches ist das größere von beiden, der Erfolg oder das Opfer? Er hatte sein Ziel erreicht, das Rheinland befreit, aber um den Preis des neuen erbitterten Aufflammens innerpolitischer Feindseligkeiten. An seiner Bahre stand ein Volk, nicht geeint, sondern in grausamem Haß gegeneinander aufgewühlt.

Kapp, Rathenau, Cuno, Hitler, Ludendorff, Stresemann – sie alle waren die Opfer einer unglücklichen, zerrissenen Zeit, die so elementar war, daß sie nicht gemeistert werden konnte.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra