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Deutschland und der Korridor

[11-12=Trennblätter] [13]
Der ostmitteleuropäische Raum
Nikolaus Creutzburg

Der östliche Teil des mitteleuropäischen Raumes wird in seiner ganzen Ausdehnung von der Weichsel durchströmt. Aber die Weichsel vermag nicht aus dem von ihr durchflossenen Gebiet eine räumliche Einheit zu gestalten, denn für die Gliederung des Raumes ist sie nur von untergeordneter Bedeutung. Die Gliederung des Raumes ist vielmehr, wie in ganz Mitteleuropa, auch hier bestimmt durch das Vorhandensein von annähernd breitenparallel, also West-Ost verlaufenden Zonen. Diese Zonen sind, in der Aufeinanderfolge von Süden nach Norden: die Hochgebirgszone, die Mittelgebirgszone, die Tieflandzone. Ganz anders der osteuropäische Raum, der, in seiner ganzen Ausdehnung Tiefland mit nur geringen Höhenunterschieden, keinerlei Zonengliederung unterworfen ist.

Ostritzsee
Ostritzsee in der "Kaschubischen Schweiz".
Wenn der Osten Mitteleuropas ein Übergangsgebiet nach dem weiten Osten Europas darstellt, ein Übergangsgebiet mit unscharfen und fließenden Grenzen, so kommt das auch in dem Verhalten der oben erwähnten Zonen zum Ausdruck. Die drei Zonen Mitteleuropas setzen sich zwar weit nach Osten hin fort, aber sie erscheinen zum Teil abgeschwächt, zum Teil verstärkt - sie ändern jedenfalls bis zu gewissem Grade ihren Charakter. Abgeschwächt ist die Hochgebirgszone, die hier, im westlichen Karpatenbereich, gegenüber den Alpen um rund 200 bis 250 Kilometer nach Norden verschoben ist. Abgeschwächt ist auch die Mittelgebirgszone, die in Mitteleuropa infolge ihrer breiten Entwicklung, vermöge der ihr eigenen Kleingliederung und Kammerung den Charakter des Raumes in erster Linie bestimmt. Schon zwischen Oder und Weichsel schrumpft die
Im Hügelland südlich der Ostseeküste
Im Hügelland südlich der Ostseeküste.
Mittelgebirgszone zu einem nicht sehr bedeutenden, viel schmaleren und niedrigeren Rest zusammen. Östlich der Weichsel setzt, in unmittelbarer Fortsetzung der Mittelgebirgszone, eine verhältnismäßig breite, gleichfalls West-Ost sich erstreckende Zone von Hügelländern und mäßig hohen Plateaus ein (Lubliner Hügelland und Podolische Platte), die, obwohl geologisch anders gebaut, doch in bezug auf die Reliefgliederung die Rolle der Mittelgebirgsschwelle als einer Vorstufe zum Hochgebirge noch eine gute Strecke nach Osten weiterführt, um sich dann allmählich zu verlieren.

Auch durch Ostmitteleuropa zieht sich also, in ähnlicher Weise wie durch das übrige Mitteleuropa, eine Strecke weit nördlich des Randes der Hochgebirgszone, eine zweite, West-Ost verlaufende Randlinie. Wenn diese Randlinie auch weniger deutlich, weniger gebuchtet ist als der nördliche Rand der deutschen Mittelgebirgsschwelle (obwohl jede Höhenschichtenkarte sie als Grenze der 200-Meter-Zone deutlich hervortreten läßt), so ist sie doch als Scheidelinie, als natürliche Zonengrenze wie als Landschaftsgrenze nicht weniger von entscheidender Bedeutung. Man könnte sie, ähnlich wie den Rand der deutschen Mittelgebirgsschwelle, eine binnenländische Wiederholung der Küstenlinie nennen.

Der Landschaftsaufbau
der Küstenzone
Der 
Landschaftsaufbau der Küstenzone.
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Sind sowohl Hochgebirgszone als auch die als Vorstufe bezeichnete Mittelgebirgs- beziehungsweise Plateauzone im ostmitteleuropäischen Raum wesentlich schmaler und unansehnlicher als weiter im Westen, so gewinnt umgekehrt die Tieflandzone vom Weichselgebiet an eine immer größere Ausdehnung. Schmal im Westen, erweitert sie sich nach Osten zu, einem Trichter ähnlich, immer mehr, um schließlich in die weiträumigen Tieflandschaften Osteuropas überzuleiten. [14] Man könnte das Mittelgebirgsland die west- beziehungsweise mitteleuropäische, das Tiefland die osteuropäische Landform nennen. In Mitteleuropa herrscht das
Im ostdeutschen Tiefland
Im ostdeutschen Tiefland.
Mittelgebirgsland vor, es ist das diesem Raum eigentümliche Landschaftselement - in Osteuropa herrscht fast ausschließlich der Tieflandcharakter. Aber diese beiden Formenelemente, die - abgesehen vom Hochgebirge - die Grundelemente der Landschaftsgestaltung des europäischen Festlandsrumpfes sind, durchkreuzen sich. Die Mittelgebirgsschwelle endet in einem - schmalen - Ausläufer bis nach Podolien, und umgekehrt entsendet das weite, ungegliederte osteuropäische Tiefland nördlich davon einen zur Zone gewordenen, stetig sich verschmälernden Ausläufer bis an die Nordsee - eben das Norddeutsche Tiefland. Ostmitteleuropa ist ausgesprochenes Übergangsgebiet, Begegnungsgebiet der beiden Zonen, es hat Anteil an beiden. Freilich sind die beiden Zonen hier einander nicht völlig gleichwertig. Den Charakter des nördlich der Karpathen gelegenen, ostmitteleuropäischen Raumes wird zweifellos stärker durch das Tiefland bestimmt als durch die Mittelgebirgs- beziehungsweise Plateauzone.

Die Reliefgliederung
des Weichsellandes
Die 
Reliefgliederung des Weichsellandes
Aber auch die Tieflandzone dacht sich hier keineswegs, wie etwa im nördlichen Rußland, gleichsinnig zum Meere ab, sondern sie ist im mitteleuropäischen wie im osteuropäischen Raum in Gürtel gegliedert, die wiederum West-Ost verlaufen. Nördlich der erwähnten Randlinie der Mittelgebirgsschwelle folgt zunächst ein breiter "Gürtel der größten Eintiefungen" (von den Polen der "Gürtel der größten Täler" genannt), und daran schließt sich, diesen Tiefengürtel gegen das Meer abriegelnd, ein im großen und ganzen West-Ost gerichteter, im einzelnen schwach bogenförmig geschwungener Höhengürtel, der "Baltische Höhenrücken". Westlich der Weichsel ist er sehr deutlich als "Pommerscher Höhenrücken", ebenso als "Preußischer Höhenrücken" zwischen Weichsel- und Memelstrom - östlich der Memel, beim Betreten des osteuropäischen Raumes, verliert er bezeichnenderweise sehr rasch an Deutlichkeit.

Der ausschlaggebende Grundzug in der Gliederung des Raumes ist also der einer ausgesprochenen Zonengliederung in breitenparalleler Richtung. Diese Zonenanordnung wird aber von den großen Strömen, die samt und sonders eine südnördliche Laufrichtung besitzen, durchbrochen. Ost-West gerichtete Zonen kreuzen sich also mit Süd-Nord verlaufenden Flüssen. Diese Tatsache ist von außerordentlicher Wichtigkeit; sie führt dazu, daß für die Gliederung des gesamten mitteleuropäischen Raumes die großen Flüsse höchstens in zweiter Linie in Betracht kommen können. Denn die Zonengliederung stellt ganz klare, unzerreißbare Zusammenhänge in der West-Ostrichtung her, Zusammenhänge, die durch die Einschaltung der quer dazu verlaufenden Flüsse in keiner Weise aufgehoben werden. Ganz anders liegen die Dinge in Osteuropa. Hier entsprechen den Flußgebieten meistens große Becken (Wolgabecken, Dnjeprbecken, Pripetbecken); hier folgt die Richtung der Flüsse keinem allgemeinen, einheitlichen Abdachungsgesetz - hier ist vielmehr unregelmäßige Ausbildung, radiale Anordnung der Neben- beziehungsweise Quellflüsse (Dnjepr, Pripet) die Regel. Hier bestimmen tatsächlich die Flüsse die Gliederung des Raumes, hier verbinden sie die ungeheuren Räume ihrer Einzugsgebiete zu räumlichen Einheiten, zu wirklichen Flußräumen.

Die Weichsel ist in keiner Weise ein Strom Osteuropas, sondern sie gehört zusammen mit Oder, Elbe, Weser und Rhein zu der großen "Fünfstromreihe" Mitteleuropas. Diesen Flüssen sind kennzeichnende Eigenschaften gemein. Es sind, im großen betrachtet, quer verlaufende Durchbruchsströme, die teilweise - wie die Weichsel - im Hochgebirge wurzelnd einen Teil ihres Laufes im Mittelgebirgsland zurücklegen, die Mittelgebirgsschwelle in der Süd-Nordrichtung überwinden und dann den Tieflandgürtel zum Meere hin durchmessen. Freilich ist die Allgemeinrichtung der fünf Ströme nicht eine rein nördliche, sie ist vielmehr im großen und [15=Karte] [16] ganzen nach Nordwesten gerichtet. Das ist das Erbe einer langen, widerstreitenden Entwicklung. Die Nordwestrichtung ergibt sich gewissermaßen als das Ergebnis von Kräften, deren eine Komponente die Flüsse - unter dem Zwang der Verhältnisse während des Eisrückzuges im Norddeutschen Tiefland - nach Westen hin abzuführen bestrebt war, deren andere Komponente nach dem endgültigen Eisrückgang der natürlichen, nach Norden gerichteten Abdachung des Landes Rechnung zu tragen versuchte.

Aus dieser Entwicklung ergibt sich eine wichtige, allen fünf Flüssen gemeinsame Eigenschaft: die Zusammensetzung, Zusammenstücklung des Flußlaufes aus mehreren Laufstrecken verschiedener Entstehung und verschiedenen Charakters. Die "Durchbruchstendenz" nach der allgemeinen Abdachsrichtung, nach Norden hin ist keineswegs allgemein, sondern sie wird ständig gekreuzt von West-Ost- beziehungsweise Ost-West-Tendenzen. Das kommt bereits im unmittelbaren Vorland der Hochgebirgszone zum Ausdruck. Nördlich der Karpaten schließt sich - ebenso wie nördlich der Alpen - die Mittelgebirgszone nicht unmittelbar an die Hochgebirgszone an, sondern es schaltet sich zwischen die beiden Zonen eine Vorlandzone ein, das Karpatenvorland. Hier besteht selbstverständlich das Bestreben zur Entwicklung von breitenparallel verlaufenden Flüssen oder Flußabschnitten. Da aber die Mittelgebirgszone hier verhältnismäßig schmal und niedrig ist und da sie dort, wo polnisches Mittelgebirge und Lubliner Plateau aneinandergrenzen, eine starke Einschnürung erfährt, so war hier ein Durchbruch nach Norden leicht möglich.

In der Tieflandzone endlich besteht infolge des Vorhandenseins von zahlreichen, fast durchweg West-Ost gerichteten breiten und flachen Talfurchen, den sogenannten Urstromtälern, gleichfalls die Neigung zur Einschaltung von breitenparallel verlaufenden Flußabschnitten. Die Weichsel fließt ja, ebenso wie Oder und Elbe, keineswegs auf geradem und kürzestem Wege dem Meere zu, sondern ihr heutiger Lauf im Tieflandteil, wie auch der Lauf vieler ihrer Nebenflüsse, ist zusammengesetzt aus alten Urstromtalstrecken und aus jüngeren, die verschiedenen Urstromtalstrecken verbindenden, süd-nördlichen Durchbruchsstrecken. Eine solche Durchbruchsstrecke ist für die Weichsel auch erforderlich, um die letzte der west-ostverlaufenden Zonen, die des Baltischen Höhenrückens, zu überwinden. Für die Laufrichtung von Weichsel, Oder und Elbe sind unvermittelte Knickungen, rechtwinklige Abbiegungen charakteristisch. Die Weichsel besitzt damit einen "mitteleuropäischen" Flußcharakter, der grundsätzlich verschieden ist von dem "osteuropäischen" Flußcharakter, wie ihn bereits der nahe benachbarte Pripet in klarer Ausbildung zeigt. Die Weichsel ist ein unregelmäßig aus verschiedenen Abschnitten "zusammengesetzter" Fluß, der Pripet dagegen ist die regelmäßige, zentrale, einheitlich entstandene Entwässerungsader einer weiten Tieflandmulde.

Das Einzugsgebiet der Weichsel hat seine Grenzen, vor allem im nördlichen Teil, durch geologische Zufallsereignisse erhalten. Die Grenzen des Einzugsgebietes liegen nicht da, wo sie nach dem inneren Bau und dem Relief des Landes liegen sollten, sondern sie sind vielfach verschoben. Infolgedessen sind die einzelnen Teile des Weichseleinzugsgebietes in ihren Beziehungen zum Hauptstrom nicht gleichwertig.

Von einem einheitlichen "Weichselraum" kann schon deswegen nicht die Rede sein, weil die Weichsel die natürliche, west-ostverlaufende Zonengliederung, die in allererster Linie für die Gliederung des ostmitteleuropäischen Raumes maßgebend ist, durchbricht. Die Verhältnisse lägen ganz anders, viel einfacher, wenn an Stelle der Gliederung in breitenparallel verlaufende Reliefzonen eine Meridionalgliederung bestünde. Dann würden Flußgebiet und Naturraum einigermaßen zusammenfallen.

[17] So erscheint es aber schon deshalb als abwegig, etwa das Einzugsgebiet der Weichsel als "Weichselraum" zu bezeichnen und diesen Flußraum zum Ausgangspunkt einer allgemeinen Raumgliederung zu machen, weil die Wasserscheide im Osten weit über die ihr durch das Relief des Landes vorgeschriebenen Grenzen (die etwa den flachen Landrücken beziehungsweise Platten entsprechen, die die Umwallung des Pripetbeckens bilden) hinausgreift, im Westen dagegen hinter diesen Grenzen zurückbleibt. Bug- und oberes Narewgebiet sind, von der Weichsel im Verlauf einer langen und komplizierten Entwicklung "erobert", wohl äußerlich zum Einzugsgebiet der Weichsel geworden - nach dem inneren Wesen des Landes gehören sie aber vielmehr zu den Landschaften des Ostens, zur westlichen Polesie beziehungsweise zu Podlachien. Andererseits steht das Gebiet der oberen Warthe der Weichsel, obwohl es nicht zu ihrem Stromgebiet gehört, im Grunde näher als die östlichen Landschaften um den mittleren und oberen Bug und um den oberen Narew.

Die Weichsel gewinnt eine klare und eindeutige Beziehung zu demjenigen Teil des ostmitteleuropäischen Raumes, den sie mit ihrem großen, nach Western geöffneten Bogen umfaßt und umgreift. Sie fügt dieses von ihr auf drei Seiten eingeschlossene Land, obwohl es ziemlich verschiedenartige Landschaftsbestandteile enthält, zu einer gewissen räumlichen - wenn auch nicht landschaftlichen - Einheit, zu einer Art großer Halbinsel zusammen. Sie verleiht diesem [18] Raum gewissermaßen den Blick nach Westen, sie bringt ihn dem Westen näher, sie schließt ihn aber gleichzeitig zu einem gewissen Grade gegen Osten ab. Sie gibt dem Gebiet des Weichselbogens den Charakter, wenn auch die Nebenflüsse, die sie aus diesem Raum erhält, viel unbedeutender sind als die von Osten kommenden und wenn auch der breite westliche Teil des Weichselbogenraumes - das Gebiet der oberen Warthe - überhaupt nicht mehr Einzugsgebiet der Weichsel ist.

Der Raum des Weichselbogens wird durch den ungefähr breitenparallel verlaufenden Rand der Mittelgebirgsschwelle in zwei etwa gleich große Abschnitte geteilt: einen südlichen, von höher gelegenen Flächen und von Mittelgebirge erfüllten Anteil und einen nördlichen Tiefland- [19] anteil. Die Grenze zwischen diesen beiden Zonen ist keineswegs scharf und linienhaft - so wie vielfach im Bereich der deutschen Mittelgebirgsschwelle - sondern der Übergang vollzieht sich ganz allmählich. Trotzdem ist diese Grenzzone sowohl als Landschafts- wie als Kulturgrenze von außerordentlicher Bedeutung.

Die Landschaften
des unteren Weichseltales
Die 
Landschaften des unteren Weichseltales.
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Der südliche Teil des Weichselbogenraumes gehört zu der historischen Landschaft Kleinpolen (die außerdem noch den westlichen Teil des Karpatenvorlandes, also Westgalizien, umfaßt) und kann zusammenfassend als "kleinpolnisches Hügelland" bezeichnet werden. Wirkliches Mittelgebirge ist darin auf einen ziemlich kleinen Raum beschränkt, auf das Gebiet der etwas über 600 Meter sich erhebenden Cysogóry. Der Charakter ist anders als der der deutschen Mittelgebirge. Es handelt sich um mehrere, parallel verlaufende, langgestreckte, aber vielfach unterbrochene Bergrücken, die teils kahl, teils von urtümlichem Wald bedeckt sind und durch breite, zum Teil von Löß erfüllte Mulden voneinander getrennt werden. Im Nordosten wie im Nordwesten verlieren sich diese, aus gefalteten paläozoischen Gesteinen bestehenden Bergrücken allmählich in sanftwellige, weite Ebenen im Bereich von Kreideschichten. Noch weiter nach Südwesten steigt das Land wieder etwas an, und es entwickeln sich, im sogenannten "Polnischen Jura", Landschaftsbilder, die etwa der Fränkischen Albhochfläche mit ihren tief eingeschnittenen Tälern und ihren bizarren, hellweißen Kalkfelsen ähnlich sind. Je weiter nach Süden, desto mächtiger wird die Lößdecke, die die Landformen einhüllt.

Die Weichsel bildet hier im Süden wie auch im Osten eine scharfe Landschaftsgrenze, sie scheidet das "Kleinpolnische Hügelland" scharf vom Karpatenvorland, vor allem von dem tiefgelegenen, dreieckigen Senkungsfeld der Weichsel-San-Ebene. Südlich davon erheben sich die zunächst noch sanften, dann stufenförmig ansteigenden Hügel des Beskidenvorlandes, die in die Beskiden und schließlich ins Hochgebirge überleiten. Auch das östlich des Weichseldurchbruches gelegene Lubliner Hügelland besitzt, obwohl es annähernd die gleichen Höhen aufweist wie das Kleinpolnische Hügelland und obwohl es die Rolle der Mittelgebirgsschwelle nach Osten weiterführt, anderen Bau und anderen landschaftlichen Charakter. Es ist eine weithin von Löß überdeckte, vielfach kahle Hochfläche, die aus flachlagernden Kreideschichten besteht, allerdings - vor allem an den Rändern - stark zerschnitten ist.

Viel weniger stark als im Süden tritt die eingrenzende und abschließende Bedeutung der Weichsel im Norden, im Bereich des aus glazialen Aufschüttungen bestehenden Tieflandes in die Erscheinung. Während die Landschaften der sanftwelligen Hochebenen, Hügelländer und Mittelgebirge den südlichen Teil des Weichselbogens gerade vollkommen ausfüllen, herrscht im Norden beiderseits der Weichsel der gleiche oder wenigstens ein sehr ähnlicher Landschaftscharakter, der eines ziemlich einförmigen Tieflandes, das aus niedrigen, von beckenartigen Weitungen und von breiten, sandigen Urstromtälern unterbrochenen Diluvialplatten besteht. Grundmoräne - vielfach lehmig - bildet das Material dieser Diluvialplatten. Endmoränenhügel sind den Platten zwar stellenweise auch aufgesetzt, aber sie sind meist undeutlich und treten nur wenig in die Erscheinung.

Die Weichsel schneidet hier also aus einer im wesentlichen gleichartigen Landschaft äußerlich einen Teil heraus. Aber sie bestimmt auch bis zu gewissem Grade den Charakter des Raumes um den unteren Bug, den unteren Narew, um die Wkra und Skrwa. Die historische Landschaft Masowien, die im Norden bis an die Südabdachung des Preußischen Höhenrückens und im Süden bis an den Rand der Mittelgebirgsschwelle heranreicht, wird von der Weichsel in zwei Teile geteilt: das nördliche, höhere Masowien und das südliche, niedere Masowien.

[20] Der Raum des Weichselbogens - einschließlich Hochmasowiens, einschließlich auch des im Westen an Masowien angrenzenden Kujawien - erscheint als das Kerngebiet des ostmitteleuropäischen Raumes. Es ist gleichzeitig das Kerngebiet des polnischen Volkstums und auch des polnischen Staates. Man kann nicht oft genug und nicht scharf genug betonen, daß dieser Raum ein Übergangsgebiet mit fließenden Grenzen ist, ein Raum, der, als Lebensraum für ein Volk betrachtet, einer starken Eigenprägung, einer ausgesprochenen Individualität entbehrt. Dieses Gebiet ist dem Meere abgekehrt. Es ist in breiter Front dem Westen geöffnet und daher auf den Westen hingewiesen. Tausende von Fäden verknüpfen es seit dem Beginn des historischen Geschehens mit dem Westen, mit dem deutschen Mitteleuropa. Der breite Wall des Baltischen Höhenrückens verschließt ihm den Norden, und der Durchbruch der Weichsel durch den Höhenrücken stellt wohl eine Verkehrsverbindung nach dem Meere hin dar und beansprucht den Rang einer wichtigen, Süd-Nord verlaufenden Leitlinie - aber er vermag die Tatsache der Meeresabgekehrtheit des ganzen Raumes damit nicht aufzuheben.

Über den podlachischen Landrücken, zwischen Weichsel und Bug, zieht die große europäische Landschaftsscheide. Östlich davon liegt das streng kontinentale Osteuropa. Wenn das Flußgebiet der Weichsel auch fast ganz Podlachien - das Land um den mittleren und oberen Narew und südlich davon - umfaßt und sich bis in die westlichsten Teile der Landschaften Polesien, Wolhynien und Podolien hinein erstreckt, so besitzen diese östlichen Landschaften doch nur sehr wenig innere Beziehung zur Weichsel. Podlachien ist ein erst ziemlich spät besiedeltes und nur unvollkommen gerodetes Übergangsgebiet, ein völkischer Grenzraum. Polesien - das Land des Pripetbeckens und der unendlichen Wald-Sumpfeinöden -, Wolhynien - die breite, großenteils fruchtbare nördliche Abdachung der podolischen Platte - und Podolien sind ausgesprochen osteuropäische, nicht mehr polnisch besiedelte Landschaften. Ihre Blickrichtung geht nach Osten, sie finden ihre landschaftliche Fortsetzung im Osten, in Richtung auf den Dnjepr hin. Sie kehren dem Raum des Weichselbogens den Rücken. Sie sind das Vorland des Weichselbogenraumes gegen die Unendlichkeit der osteuropäischen Weiten.

Umgekehrt darf der Weichselbogenraum zwar als eine Art Vorhof Osteuropas betrachtet werden. Das kontinentale Klima wird hier, wenn auch in etwas abgemildertem Maße, noch einmal weit nach Westen getragen, und nicht nur der Lage sondern auch dem landschaftlichen Charakter nach ist hier das eigentliche Ostmitteleuropa. Im Norden dagegen, in der küstennahen Zone, greifen maritimes Klima und einwandfrei mitteleuropäischer Landschaftscharakter bis weit in den Nordosten Europas. Der Baltische Höhenrücken besitzt eine außerordentlich starke
Das Netzegebiet
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Das Netzegebiet.
landschaftsscheidende, abschließende Wirkung. Alles, was auf diesem Höhenrücken und nördlich davon liegt, bildet einen Naturraum für sich. Diese Zone blickt nach der Küste, aber sie besitzt so gut wie keine innere Beziehung zur Weichsel, die den Höhenrücken und die küstennahe Zone wie ein Fremdling durchbricht.

Das nördliche Pommerellen ist nur ein Ausschnitt aus dieser mitteleuropäisch-deutschen küstennahen Zone, es ist nicht zu
Netzebrücke bei Schneidemühl an der Diktatgrenze
Netzebrücke bei Schneidemühl an der Diktatgrenze.
denken ohne den Zusammenhang seiner waldigen Endmoränenhügel, seiner langgestreckten Rinnenseen, seiner Grundmoränenlandschaft mit den gleichen Landschaftsformen, wie sie sich in der westlichen wie in der östlichen Fortsetzung derselben Zone nahezu unverändert finden. Auch der von Kiefernwald bedeckte große Sandfächer der Tucheler Heide, die sich südlich an die Endmoränenstaffeln Pommerellens anschließt, findet seine Entsprechungen im Westen wie im Osten. An der Netzelinie setzt die Zone der Urstromtäler und der Diluvialplatten ein, und auch dieses Land
Lindenwerder mit dem Urstromtal der Netze
Lindenwerder mit dem Urstromtal der Netze.

Wartheniederung bei Schrimm.
Wartheniederung bei Schrimm.

südlich der Netze und südlich der unteren und mittleren Warthe - das Posener Land - zeigt einwandfrei die Wesenszüge der mittel- [21] europäischen Landschaft, es ist aber seinerseits eine Art Vorhof zu den ostmitteleuropäischen Landschaften des Tieflandteiles im Weichselbogenraum.

Im ganzen genommen ist der ostmitteleuropäische Raum ein Durchgangsgebiet allererster Ordnung. Die Natur hat für die Bewegungsbestrebungen dieses Raumes in erster Linie die breitenparallele Richtung vorgezeichnet. Zahlreiche west-ost-gerichtete Linien, Talfurchen, Flüsse, Höhenränder und Höhenzüge vermögen für Bewegungen dieser Art geradezu leitend zu werden. Sie erlangen die Bedeutung von natürlichen Leitlinien für Völkerbewegungen, für die Ausbreitung kultureller Einflüsse, für Handelsbewegungen - endlich auch für die politische Ausdehnung.

Diesen vielen, breitenparallel verlaufenden Leitlinien steht eine einzige meridional gerichtete gegenüber: die Weichsel. Aber ihre Bedeutung als Süd-Nord-Linie wird stark eingeschränkt durch die Tatsache, daß der Fluß auf seinem Weg von den Westbeskiden bis zur Ostsee einen gewaltigen Umweg beschreibt, daß er die Scholle des kleinpolnischen Hügellandes in einem weit nach Osten ausholenden Bogen umfließt, eingeschränkt auch dadurch, daß er als meridionale Linie die breitenparallel angeordneten Zonen durchbricht.


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