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Ein Graudenzer Nervenarzt spricht

Hatte die Posener Gruppe schon Unsägliches zu leiden, so steigert sich das Bild des Grauens noch, wenn wir an die Deutschen aus Pommerellen denken. In diesem alten deutschen Raum sind die Träger der deutschen Kultur und die Nachkommen derer, die dort von je und je allein Kultur geschaffen haben, schlimmer als das Vieh behandelt, schlimmer als irgendein Schädlingsgezücht vernichtet, erschlagen, erschossen worden. Der einmalige geschichtliche Vorgang, der in den Leidensmärschen aller Volksdeutschen im ehemaligen Polen liegt, hat sich dort in Pommerellen gesteigert zu einem Bild von solcher Eindringlichkeit, daß es neben den größten Heldenzügen aller Zeit bestehen kann.

Von vielen Seiten her strömten die Scharen der Deutschen zusammen, und es ist nicht möglich, auf kurzem Raum alle gleichzeitig erfolgten Handlungen und Mißhandlungen zu schildern. Wir wollen uns daher einen Überblick über die Vorgänge verschaffen, indem wir wieder den Hauptton auf die gesundheitlichen Dinge legen und möglichst Ärzten das Wort geben. Zunächst werden wir an Hand eines Berichtes des volksdeutschen Nervenarztes Dr. Hoffmann aus Graudenz einen Gesamtüberblick gewinnen und dann noch einmal diesen Zug von Westen nach Osten an Hand authentischer Berichte selbst mitzuerleben versuchen. Der Bericht von Dr. Hoffmann, in dem uns auch die einleitenden Bemerkungen über das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen recht aufschlußreich erscheinen, lautet folgendermaßen:

"Meinen Ausführungen über die Erlebnisse als Verschleppter möchte ich folgende grundsätzliche Feststellungen zugrunde legen: Zunächst: Ich beherrsche die polnische Sprache in Wort und Schrift, d. h. ich sagte mir, als ich mich im Jahre 1919/20 entschloß, nicht auszuwandern, sondern irgendwo einem Verein der sog. Heimattreuen anzugehören, daß die Voraussetzung meines Verbleibens in Polen die vollkommene Beherrschung der Landessprache sein müsse. Gerade ich als Arzt für Nerven- und Seelenleiden war ja [47] auf den Gebrauch der Sprache mehr angewiesen als jeder andere Kollege. Nun soll man sich aber nicht vorstellen, daß die Erlernung gerade des Polnischen etwa so leicht ist wie die des Englischen, Französischen, Italienischen, wenn sie auch nicht ganz so schwer ist wie die des Finnischen oder Ungarischen, also der uralaltaischen Sprachen, ganz zu schweigen von der Buschmannsprache mit den unaussprechlichen Schnalzlauten oder dem Baskischen, von dem es heißt, der Teufel habe versucht, diese Sprache zu erlernen, und als er sich zur Prüfung stellte, mußte er die Feststellung machen, daß er nur sieben Worte beherrschte... und die waren alle falsch. Auch das Polnische enthält merkwürdige Laute, und man kann nur unter großer Mühe hinter das Geheimnis der Aussprache der polnischen Zischlaute kommen. Mir ist es schließlich gelungen, aber der Russe z. B. bleibt sein Leben lang an der mangelhaften Aussprache des Polnischen erkennbar. Man konnte mir also nicht den Vorwurf machen, daß ich aus "hakatistischen" Gründen – in Polen war man mit solchen Vorwürfen gegenüber den Deutschen immer rasch bei der Hand – die Sprache nicht hätte erlernen wollen. Freilich muß man dieser polnischen Einstellung und Voreingenommenheit zugute halten, daß man es eben für ausgeschlossen hielt, daß der Deutsche bei seinem Fleiß und seiner Gewissenhaftigkeit nicht imstande sein sollte, das Polnische so rasch zu begreifen, wie etwa der Pole das Deutsche erlernt. Nun ist der Slawe, insbesondere der Pole, sprachbegabt und kann bzw. konnte bei seinem tiefgewurzelten Mißtrauen gegen alles, was deutsch ist, um so weniger verstehen, daß der Deutsche in den abgetretenen Gebieten des ehemals zu Deutschland gehörenden Neuerwerbs nicht Polnisch lernen konnte. Dank dieser Beherrschung des Polnischen hatte ich mir nicht nur die sprachliche Verständigung ermöglicht, sondern auch den Weg zu den Herzen meiner polnischen Klientel gebahnt. Nun muß man ferner wissen, daß gerade in der führenden Oberschicht die unter dem Begriff der Psychasthenie, Psychopathie – oder wie man es zu nennen beliebt – fallenden Krankheitserscheinungen sehr verbreitet waren. So habe ich bis in die letzte schwere Zeit trotz des offiziellen Boykotts immer wieder, wenn auch zwangsläufig nur noch vereinzelt, Beweise einer treuen persönlichen Anhänglichkeit und Dankbarkeit auch von seiten solcher Polen erfahren können, die ihrem Herkommen, ihrem Beruf, ihrer Stellung nach offiziell allem Deutschen den erbarmungslosesten und rücksichtslosesten Kampf angesagt hatten. Mir war aus ebensolchen Kreisen das Anerbieten gemacht worden, sich für mich einzusetzen, wenn es einmal nötig werden sollte. Ich durfte und konnte selbstverständlich solche Versprechen nicht zu ernst nehmen; denn zu weit hätte sich keiner dieser "Bürgen" herauswagen können, ohne sofort der Spionage mit allen Folgerungen geziehen zu werden. Ich hatte also ernstere persön- [48] liche Verunglimpfungen bislang nicht zu spüren bekommen, sondern war als sog. loyaler Staatsbürger geachtet, obschon ich mich selbstverständlich auch an führender Stelle zu meinem Volkstum bekannt hatte, so als Mitglied des deutschen Stadtverordnetenkollegiums – solange dieses noch nicht ausgemerzt worden war –, oder als langjähriger Obmann der Jungdeutschen Partei. Man hatte mir es sogar nachgesehen, daß ich in meinem Wartezimmer ein Büro dieser Partei eingerichtet hatte. Ich muß dieses alles vorausschicken, um nicht in den Verdacht der falschen Voreingenommenheit für oder gegen das polnische Volk zu kommen.

Ich hatte vor meiner Verhaftung wiederholte Warnungen erhalten: auch andere Anzeichen schon Wochen vor Ausbruch des Krieges – wiederholte Fernanrufe des Nachts, mich schwer belastende Briefe von angeblichen Volksdeutschen – wiesen darauf hin, daß etwas Unheimliches, schwer zu Fassendes in der Luft hing, wie ein Gewitter, das nach Entladung drängt. Daß ich ausgerechnet am 29. August das Fest meiner Silberhochzeit beging, brachte uns mehrfach in die Versuchung, diesen außergewöhnlichen Anlaß als willkommene Gelegenheit zu einem Besuch unserer Töchter in Danzig zu benutzen. Daß ich der Versuchung nicht erlegen bin, und daß meine gute tapfere Frau mir half, dem Kommenden gefaßt entgegenzusehen, daß ich schließlich Schweres durchmachen mußte, dafür bin ich rückschauend dem Schicksal, das es mit mir noch glimpflich gemeint hat, dankbar: dankbar vor allen Dingen auch im Hinblick auf die erlebte treue Kameradschaft. Denn nach allem, was mir nachträglich erzählt wird, war ich aus unserer Gruppe zum Schluß wohl am meisten gefährdet gewesen, und die Befreiung kam noch gerade vor Toresschluß.

Als ich am 1. September zusammen mit noch 117 Deutschen in Graudenz verhaftet wurde, um, wie es in dem amtlichen Schreiben hieß, sichergestellt zu werden, da ahnten wir zum Glück noch nicht, worin diese Sicherstellung bestehen würde: wir machten uns auf einen Transport in irgendein Lager gefaßt. Wir rechneten mit einer eintönigen Gefangenschaft bei ganz notdürftiger Verpflegung. Aber die Vermutung, daß wir einen Gang durch die Hölle würden antreten müssen, wäre auch dem größten Schwarzseher unter uns nicht in den Sinn gekommen. Dabei hatte die Graudenzer Gruppe im Vergleich zu den furchtbaren Erlebnissen der Bromberger und Schwetzer weniger auszuhalten. Besonders muß auf das Verhalten der Graudenzer Hilfspolizisten hingewiesen werden. Diese armen Kerle, die 24 Stunden ohne Verpflegung und Schlaf bei ewigem Anschnauzen durch die staatliche Polizei ihren Dienst versahen, suchten unsere Lage nach besten Kräften zu mildern. Selbst halb verdurstet und zum Umfallen müde (sie schliefen auf ihre Bajonette gestützt neben uns ein), besorgten sie Wasser und halfen [49] unsere Nöte mildern. So sagte der mich zur Graudenzer Sammelstelle transportierende Hilfspolizist, der mich in Gegenwart seines Vorgesetzten anbrüllte: "Beeilen Sie sich, beim Versuch zu sprechen oder sich umzudrehen, erschieße ich Sie sofort", mir später, als wir ganz allein eine menschenleere Straße entlanggingen: "Herr Doktor, verzeihen Sie mir, wenn ich anders handle, werde ich an die Wand gestellt oder komme an die Front." Diese armen Teufel handelten im Auftrag einer mit satanischem Geist ausgestatteten Macht, waren nichts wie armselige Werkzeuge, die blindlings handeln mußten, um das eigene armselige Leben zu retten.

Nach 14stündigem Aufenthalt in einem Graudenzer Kino waren wir um ½3 Uhr nachts glücklich abfahrtbereit. Auf dem Graudenzer Bahnhof wurden wir in einem offenen Kohlenwagen zusammengepfercht, wo wir weder sitzen, noch stehen, noch liegen konnten. Es standen eine Menge Personenwagen zur Verfügung, die unbenutzt mit nach Thorn rollten. In Thorn hatten wir kurzen Aufenthalt, wir suchten wenigstens unsere Notdurft zu verrichten. Natürlich waren die beiden zur Verfügung stehenden Gelegenheiten gänzlich unzureichend. Unsere armen Frauen und Mädels hatten besonders zu leiden, denn die Polen nahmen keine Rücksicht auf den Umstand, daß Männer stets mit zugegen waren. Die Örtlichkeit selbst befand sich in einem unbeschreiblichen Zustand. Da wir nur kurzen Umladeaufenthalt hatten, ging es den Transportführern viel zu langsam. Nie vergessen werde ich die Worte, die ein polnischer Offizier(!) den alten Damen, die sich nicht so rasch Platz verschaffen konnten, zurief: "Seicht Euch aus, ihr alten deutschen Säue!" Das war schon ein Vorgeschmack auf das Kommende.

Wir fuhren dann von Thorn über Sierpc, Plock, Kutno, Czerniewice. In Sierpc bekamen wir zum erstenmal eine Vorstellung davon, daß etwas in der Zugverbindung nicht stimmte. Wir hörten dauernd schwere Einschläge, die wir bald richtig als Bombenabwürfe deuteten. Unsere Begleitmannschaften verließen den Wagen, machten sich schußfertig und nahmen die Flieger aufs Korn. Ein höherer Staatspolizist erteilte Instruktionen. Wir mußten trotz des Ernstes der Situation lachen. Den Wagen zu verlassen, hatten wir keine Möglichkeit, denn jeder Platz war versperrt. Nachdem endlich die Strecke wieder freigegeben war, setzten wir unseren Weg nach Plock–Kutno fort. Auch hier war eine vor Wut und Haß wahnsinnige Bevölkerung. Es fielen ununterbrochen Fliegerbomben, und wir dachten jeden Augenblick, daß uns das Schicksal erreichen würde. Unsere Hilfspolizisten ließen es sich nicht nehmen, uns zu versorgen: sie beschafften uns sogar Liebesgaben vom polnischen Roten Kreuz, indem sie uns für Flüchtlinge ausgaben! Und der Transportleiter – ein Leutnant, im Zivilberuf Oberlehrer in Graudenz, drückte beide Augen zu und erwies sich als ein anständiger Mensch.

Auf [50] dem Bahnhof versahen eine Menge auffallend hübscher und sauber gekleideter Judenmädchen den Roten-Kreuz-Dienst. Nie werde ich in meinem Leben die Ausbrüche eines irrsinnigen Hasses vergessen, als die "Damen" plötzlich merkten, daß wir Flüchtlinge ganz eigener Art, nämlich Hitlerowcy waren. Sie begannen unter girrem Lachen zu kreischen, fingerten mit den Händen in der Luft, wie schwer Benommene beim "Flockenlesen"! Wenn der Zug nicht unsertwegen, sondern aus anderen Gründen kurz darauf sich in Bewegung gesetzt hätte, dann hätten sie uns jedes Glied langsam und mit Genuß mit den Fingernägeln auseinandergepflückt. Ich konnte meinen Leidensgefährten nur warnend zurufen, daß sie vom Fenster zurücktreten sollten.

Wir kamen von Kutno auf eine Nebenlinie der Hauptbahn nach Czerniewice, von wo wir den Fußmarsch nach der Zuckerfabrik Chodcen antraten. Hier verließ uns leider unsere bisherige Begleitung, und wir gerieten in die Hände von Teufeln in Menschengestalt. Schon die Gesichter unserer neuen Herren ließen uns ahnen, was uns bevorstand. Die Hilfspolizisten wurden durch die berüchtigten Schützen – Strzelcy – und kongreßpolnische Polizisten ersetzt. Wir wurden in einem großen Schuppen untergebracht. Dieser hatte eine Länge von 50 Metern, eine Höhe von ca. 12 Metern und eine Breite von ca. 15 Metern. Als Ausgang diente eine einzige Öffnung von Mannsbreite und anderthalb Mannshöhe. Die Ventilation des im übrigen genügend belichteten Raumes – es befanden sich an den Schmalseiten des Schuppens große Fenster – wurde durch eine einzige 50x50 Zentimeter große Klappe an der Westseite vermittelt. Die Deckenventilation war nicht in Ordnung. Gegenzug war nicht vorhanden. Der Boden war mit frischem Stroh ausgelegt. Wir wurden angewiesen, Gänge in ½ Meter Breite und Strohlager aufzuschütten. Es durfte kein Zwischenraum zwischen den einzelnen Lagerstätten bleiben. Wir waren schließlich zu 800 Mann in dem Schuppen untergebracht. Es herrschte bald eine erstickende Luft in dieser scheußlichen Höhle. Namentlich in den ersten Stunden, als sich die aufgeregten Menschen noch nicht zum Hinlegen entschließen konnten, glaubte man vor Staub und Hitze umkommen zu müssen. Dazu gesellte sich bald ein unbeschreiblicher Geruch, da die Leute gezwungen waren, ihre schon seit vielen Stunden zurückgehaltene Notdurft zu verrichten. Und als Eingang und Ausgang stand für die Hunderte von Menschen nur die schmale Pforte zur Benutzung. Wir errechneten, daß wir mindestens gute drei Stunden benötigten, um einmal in den Genuß des Austretens gelangen zu können. Ebensoviel Zeit nahm das Essenempfangen in Anspruch: wir erhielten in den drei Tagen Aufenthalt nur zweimal einen Tassenkopf warmer Brühe mit Kartoffeln und Kohl.

Große Sorge bereitete uns die Beschaffung von Trinkwasser: die hereingereichten Kübel waren sofort ver- [51] griffen. Wer kein Trinkgefäß sein eigen nannte, ging leer aus. Ich hatte unter den Durstqualen entsetzlich zu leiden, da ich mich nicht genügend sattrinken konnte und auf die Hilfe meiner Graudenzer Kameraden angewiesen war, deren Vorräte auch nur knapp waren. Hunger verspürten wir im allgemeinen nur wenig. Ich habe beispielsweise fünf Tage außer einer halben Schnitte trockenen Brotes und einem Zipfelchen Wurst nichts zu mir genommen und keinerlei Zeichen von Schwäche dabei empfunden. Was mir allerdings sehr zu schaffen machte, das war der ständige Durst. Es war ein großes Glück, daß sich bei der unregelmäßigen Verpflegung keine stärkeren Verdauungsstörungen besonders bei den vielen schlecht genährten Leidensgefährten und älteren Leuten einstellten. Da unser Aufenthaltsraum um Punkt 8 Uhr abends geschlossen wurde, hätte eine Durchfallsepidemie zu katastrophalen Folgen führen müssen. Natürlich wurden hier und da die Lagerstätten verunreinigt, aber das hielt sich noch in erträglichen Grenzen. Wenn man aus der frischen Luft kommend den großen Schuppen betrat, schlug einem trotzdem eine Luft entgegen, die zum Umfallen nötigte. Die polnische Lagerleitung hatte sich, um das Maß vollzumachen, geradezu sadistische Methoden ersonnen, um uns, besonders unsere Frauen, zu demütigen. Es durfte nur eine beschränkte Anzahl von Personen, zunächst fünf, später zehn, gleichzeitig austreten. Die Frauen begleiteten zum Abort etwa fünfzehnjährige Burschen, die, mit schweren Eichenknüppeln bewaffnet, neben den Frauen bei Verrichtung ihrer Notdurft Stellung nahmen und ihre helle Freude verrieten, an den verhaßten Deutschen auf diese Weise ihr Mütchen kühlen zu dürfen. Für uns Männer hatten die Polen auch eine fein ausgeklügelte Maßnahme erdacht, um uns zu erniedrigen und selbst die Verrichtung der Notdurft zu einer Qual zu gestalten. Die Latrinen waren so angelegt, daß unsere Frauen beim Wasserholen rückwärts an uns vorübergehen mußten. Wenn man an das bei vielen Männern auftretende sogenannte "Harnstottern" in Gegenwart anderer denkt, so wird einem klar werden, daß es vielen unserer männlichen Volksgenossen unmöglich war, die kurze Frist zur Erledigung ihrer Bedürfnisse einzuhalten. Und die Wachmannschaften sorgten schon dafür, daß die Frist von fünf Minuten nicht überschritten wurde. So wurde das Austreten für die meisten eine Qual.

Es wird sicher aufschlußreich sein, zu erfahren, wie sich der Mensch verhält, wenn er tagelang einem seelischen Druck und außergewöhnlicher Belastung ausgesetzt wird: der sogenannte "Innere Schweinehund" hat sich bei mir eigentlich nur gemeldet, als die Beschießung von Graudenz losging. Im Gegensatz zu meiner Frau und unserer Hausgehilfin, die ihrer gewohnten Beschäftigung nachgingen oder sich künstlich zu schaffen machten, war ich [52] unruhig und wanderte von einem Zimmer ins andere. Mit dem Augenblick der Verhaftung hatte ich mein seelisches Gleichgewicht wiedererlangt. Gewiß gab es recht ungemütliche Augenblicke, als wir z. B. in dem mit Verschleppten und Flüchtlingen vollgepackten Zuge der Gefahr ausgesetzt waren, durch eine Fliegerbombe zu Hunderten in Atome zerrissen zu werden, gewiß war es kein schönes Gefühl auf dem Marsche, mit Aufbietung aller Kräfte trotz furchtbarer Müdigkeit, Durst und Schmerzen sich weiterschleppen zu müssen, immer den Tod angesichts der Ermordung von zurückbleibenden Leidensgenossen vor Augen. Ich hatte mir als bestes Mittel gegen das Lockerwerden der Vorstellungskraft, gegen das Schweifen der Phantasie in das Gebiet des Grauens vorgenommen, überhaupt nichts mehr zu denken, auch nichts mehr zu sprechen. Ich sagte mir, durch das Führen eines auch noch so belanglosen Gespräches baut sich deine ohnehin nur noch knapp bemessene geistige Spannkraft ab. Als wir kurz vor unserer Befreiung durch unsere nervös gewordene Begleitung immer häufiger beschossen wurden, da drängte sich mir auf einmal die Befürchtung auf, ich könnte einen Rückenmark- oder Blasenschuß erhalten. Und diese Vorstellung war für mich um so grauenhafter, als ich in meinem Spezialberuf eindrucksvolle Bilder dieser beiden Leiden zu sehen häufig Gelegenheit gehabt hatte.

Dwinger hat uns in seinem Buch "Die Armee hinter Stacheldraht" anschaulich geschildert, wie sich unter Eingeschlossenen allmählich die Erscheinungen einer seelischen krankhaften Umstellung verbreiten, die man wohl unter der geläufigeren Form als Haft-, Gefängnis-, Situationspsychose antrifft, und zwar auch im gewöhnlichen Leben, da allerdings nicht als Massenerkrankung. Ich hatte mir vorgenommen, sofort nach der Verhaftung auf alles zu achten, natürlich auch bei mir selbst, was aus der Grenze des Normalen herausfiel. Darunter verstehe ich die Qualen des Durstes, die Strapazen der Gewaltmärsche, den Anblick der sich vor unseren Augen vollziehenden Ermordung von Leidensgefährten, das allmähliche Wissen um die Tatsache des In-den-Tod-Getriebenwerdens.

Ich denke aber auch an die kleinen Selbstverständlichkeiten und Alltäglichkeiten! Wie wurden wir damit fertig?

Nun, diese Selbstverständlichkeiten wurden für uns ein Erlebnis, spielten in unserer armseligen Umgebung eine ausschlaggebende Rolle und waren damit ihrer Alltäglichkeit entkleidet. Ich schilderte bereits die qualvolle Erwartung, rechtzeitig in den Genuß des Austretens gelangen zu dürfen, sich den Genuß des Verweilens in der frischen Luft für ein paar kärgliche Minuten verschaffen zu können. Obschon wir nur drei Tage in einem allerdings zur Hölle hergerichteten Lager verweilen mußten, war unsere Stimmung schon am zweiten Tage auf dem Siedepunkt angelangt. Wir sahen [53] die kleinen Schwächen bei den meisten von uns, noch mehr natürlich die Kennzeichen der krassen Selbstsucht bei einigen Ausnahmen unter uns gewissermaßen unter dem Mikroskop. Not macht bekanntlich erfinderisch und hellhörig! Und sehr rasch ging eine gereizte, nach Gelegenheit zur Entladung drängende Stimmung durch unsere Reihen. Daß wir die wenigen unkameradschaftlich Eingestellten bald herausgefunden hatten, ist selbstverständlich. Ich sehe noch vor mir einen mit ausgesprochenem Turmschädel bedachten jungen Menschen, dessen äußeres Erscheinungsbild ganz zu dem sonstigen Verhalten paßte. Als sich dieser ausgerechnet den unerhörten Luxus erlaubte, nach dem Waschen, für das uns ja nur knappe Minuten zur Verfügung standen, auch noch der Pflege der Zähne einige Minuten zu widmen, Minuten, die uns wie Stunden erschienen, da war das Maß voll. Wir hätten den Ahnungslosen, der mit einer selbstverständlichen Rücksichtslosigkeit handelte, nach der Rückkehr in die Halle am liebsten verprügelt, ja mit wahrer genießerischer Wollust warteten wir auf den geringsten Anlaß des Eingreifens, obschon wir uns darüber klar waren, daß der Fall einer Disziplinlosigkeit nicht auszudenkende Folgen für uns gehabt hätte. Nicht weniger brachte uns das Verhalten eines anderen Volksgenossen, dem allerdings sein besonderer Beruf besondere Verpflichtungen hätte auferlegen sollen, in seelischen Aufruhr. Denn es gehört schon eine Unverfrorenheit, eine Gedankenlosigkeit sondergleichen dazu, sich von einem Leidensgefährten, der selbst von beruflicher Arbeit gebeugt und in den Tagen der Verschleppung besonders abgefallen war, den mit Vorräten prall gefüllten Koffer schleppen zu lassen. Wenn jemand von Berufs wegen die Liebe zum Nächsten zu verkünden hat, dann muß man wenigstens so tun, als wenn man den schüchternen Versuch machte, entsprechend zu handeln. Kein Wunder, daß dieser Vertreter der transzendentalen Fakultät von mir sehr robust zur Rede gestellt wurde, und daß die anderen Leidensgefährten je nach Temperament mit ihm ähnlich verfuhren. Ich wartete mit einer wahren Wollust auf den Augenblick, daß der zur Rede Gestellte etwas erwiderte, um mich dann auf ihn zu stürzen. Er war zum Glück für uns alle so klug, nichts zu erwidern. Von meiner Seite handelte es sich nicht um einen gewöhnlichen Affektausbruch, es war vielmehr bereits eine krankhafte Neigung, Händel zu suchen; die Fliege an der Wand begann uns bereits zu ärgern, wohlgemerkt schon am zweiten Tage des Lageraufenthalts! Man war ebenso wütend darüber, daß der Vereinzelte trotz der trostlosen Umgebung seine Eßlust nicht verlor, wie darüber, daß der liebe Nächste überhaupt keinen Anlaß zu Zusammenstößen bot. Die heiteren und ausgeglichenen Temperamente kamen unter uns natürlich am besten weg. Zum Schluß, kurz vor unserer Befreiung, befanden wir uns freilich alle in einem [54] Zustand restloser Ergebenheit in unser Schicksal und torkelten im wahren Sinne des Wortes daher wie die Schafe, die zur Schlachtbank getrieben werden.

Drei Tage weilten wir in Chodcen: wir ahnten dort zum Glück nicht, daß uns noch viel Schlimmeres bevorstand. Wir gaben uns der trügerischen Hoffnung hin, daß wir allmählich nach Einrichtung und Verteilung in diesem Lager in geordnetere Verhältnisse kommen würden, zumal man die Frauen und Mädchen am dritten Tage von uns sonderte. Mich hatte freilich eine unbestimmte Ahnung befallen, daß irgend etwas nicht stimmte. Und so hatte ich meinen Leidensgefährten den Rat gegeben, erstens nur die notwendigsten Bewegungen zu machen, d. h. auf der Lagerstätte zu liegen und zu dösen, an nichts zu denken. Wir waren ja von jeder Nachricht aus der Welt abgeschnitten, und allerhand Gerüchte schwollen lawinenartig an. Zwar glaubten wir nichts, was unsere freundlichen Aufseher mitteilten, z. B. daß das Rheinland besetzt und Ostpreußen in polnischer Hand sei. Aber ich empfahl, grundsätzlich nur günstig klingende Nachrichten weiterzuverbreiten, auch wenn sie noch so unglaubwürdig klangen. Denn ich sagte mir: Mit deiner Energie mußt du haushalten, wie mit der knappen dir zur Verfügung stehenden Nahrung.

Inzwischen hatte sich das Ungewisse und scheinbar Hoffnungslose unserer Lage immer mehr auf den Gemütszustand unserer Leidensgefährten ausgewirkt. Wir Graudenzer waren zwar eine verschworene Schicksalsgemeinschaft geworden, und wenn einer zu verzagen begann, dann richtete der Nachbar ihn wieder auf und umgekehrt. Aber in den anderen Gruppen griffen bald Verzweiflung bis zum Ausbruch von Geistesstörungen um sich. Ich wurde wiederholt zu Leuten gerufen, die das offene Bild von Psychosen boten. In der Nacht vom 6. zum 7. September rief man mich zu einem jungen Menschen, der sich mit einem Taschenmesser die Kehle durchgeschnitten hatte. Die Verletzungen waren, obwohl die Luftröhre unterhalb des Kehlkopfes glatt durchgeschnitten war und der Mann wie beim Luftröhrenschnitt atmete, nicht lebensgefährlich; denn es waren keine Schlagadern, sondern nur die Venen und Halsmuskeln verletzt. Ich konnte nichts weiter machen, als den Kranken notdürftig beim Schein einer schwach leuchtenden Taschenlampe zu verbinden. Dann machte ich dem Posten Mitteilung. Aber weit gefehlt! Statt den Verletzten wenigstens hinauszutransportieren, ließ man ihn bis zum Morgen liegen. Und als dann der Abtransport erfolgte, mußte der Unselige mitmarschieren. Ich kann mir nur vorstellen, daß ein melancholischer Zustand, bei dem bekanntlich unter dem Eindruck seelischer Qual jedes körperliche Schmerzgefühl zu schwinden pflegt, den Kranken zu dieser übermenschlichen Kraftleistung befähigte.

Unter den Insassen des Schuppens fiel eine größere Gruppe, [55] etwa 70 Mann, auf, die nur polnisch sprach und sich durch ihre Kleidung sofort als Kongreßpolen kennzeichnete. Ich fragte diese Leute, weshalb man sie verhaftet hätte. Sie gaben an, aus der Nähe des Lagers zu stammen und evangelischen Glaubens zu sein. Sie hatten alle deutsche Namen, wie Marehnke, Schmidt, Meyer usw.; im übrigen bekannten sie sich zum polnischen Volkstum. Eine in der düster wirkenden Umgebung durch ihre Haltung und Kleidung günstig auffallende Dame gab an, nur vier Kilometer entfernt von einem Rittergut zu stammen. Sie sprach noch fließend deutsch und bekannte sich noch zum Deutschtum. Die Kinder waren sämtlich fanatische Polen, die Söhne sowie die Schwiegersöhne standen in der polnischen Armee als Offiziere. Wie später festgestellt wurde, hat die Unglückliche unter den Tritten eines Strzelec-Schützen ihr Leben ausgehaucht.

Am 7. September morgens um ½6 Uhr wurden wir zum Antreten kommandiert. Da wir den großen Raum nur durch die schmale, knapp mannsbreite Pforte verlassen konnten, dauerte es fast vier Stunden, bis wir eingeordnet waren, zumal sich nicht nur unsere etwa 800 Mann starke Gruppe, sondern auch die anderen Leidensgefährten zum Abmarsch bereit machen mußten. Wir zählten zusammen schätzungsweise 5000 Mann. Bis an die Zähne bewaffnete Hilfspolizisten, Staatspolizisten und Angehörige der Schützenverbände umgaben uns. Nun begann der Zug des Grauens. Die Begleitmannschaft sprach mit uns kein Wort; es war daher ausgeschlossen, etwas über das Wohin auch nur andeutungsweise zu erfahren. Es war ein Glück, daß wir uns noch immer von der trügerischen Hoffnung umgaukeln ließen, wir würden nach einer Verladestation gebracht, und der Fußmarsch sei wegen der schwer benutzbaren, mit Truppentransporten überbeanspruchten Haupteisenbahnstrecken nur vorläufig. Um 10 Uhr morgens marschierten wir los, das Wetter war herrlich, die Stimmung der Wachmannschaft scheinbar günstiger, man ließ uns trinken, einzelne der Wachmannschaften holten uns sogar Wasser. Da die in der Nacht immer stärker werdende Kanonade verstummt war, deutsche Flieger nicht zu sehen waren, bildete ich mir ein und teilte diese meine Hoffnung meinen Kameraden mit, daß ein Waffenstillstand bevorstände. In dieser Annahme bestärkte mich noch die Wahrnehmung, daß ein polnischer Flieger in ganz niedriger Höhe nach der deutschen Front zu strich. Wir hatten sonst polnische Flieger nur ganz vereinzelt gesehen. Unsere Stimmung begann sich also zu beleben, zumal wir durch landschaftlich schöne Gegenden kamen, wenn ich nicht irre, um die Stadt Chodeczek. Nach zweistündigem Marsch änderte aber die Landschaft ihr Gepräge, unseren traurigen Zug verschlang die öde kongreßpolnische Landschaft, die in ihrer Trostlosigkeit und Armseligkeit gar nicht auszu- [56] denken ist. Weit und breit kein Baum, kein Strauch, kein Bächlein, keine grüne Wiese. Nur in Schmutz und Verkommenheit versunkene erbärmlichste Hütten, der Boden dürftigstes Kartoffelland. Wenn wir größere Ortschaften berührten (so gelangten wir durch eine Stadt, wenn ich nicht irre, Dabrowka), dann konnten wir sicher sein, daß uns das auserlesene Volk in seinen widerwärtigsten und kümmerlichsten Vertretern begrüßte.

Die eben erwähnte Stadt Dabrowka war nichts weiter wie eine aus zahllosen erbärmlichen, zerfallenen Hütten zusammengesetzte Aneinanderreihung von Behausungen. Was mir besonders auffiel, war der Umstand, daß sogar die Kirche und das Pfarrhaus sich nicht wesentlich von der Umgebung hervorhob. Ich habe sonst gefunden, daß im Gegensatz zu den armseligen Wohnstätten die sog. Boza menka – das Marterl im Bayrischen – stets geschmückt und gepflegt war und vorteilhaft von dem düsteren schmutzigen Milieu abstach. Allmählich wurden, nicht zuletzt unter dem Einfluß der uns umgebenden Trostlosigkeit, Stimmen des Unmutes und des Verzagens laut. Dabei waren wir erst im ganzen vier Stunden marschiert. Es wurden nun die ersten Pausen eingelegt. Wir durften uns am Straßenrand für zehn Minuten niederlegen, durften aber natürlich eine bestimmte Absperrungslinie nicht überschreiten. Wer es trotzdem wagte, um sein Bedürfnis nicht in Gegenwart der anderen zu verrichten, wurde sofort angebrüllt und mit Kolbenstößen zur Vernunft gebracht, wenn er nicht sofort gehorchte.

Da in unseren Reihen eine Menge älterer Leute, schwächlicher und kränklicher Volksgenossen marschierte, hatte man sich gezwungen gesehen, Wagen und Pferde zu requirieren. Man hätte sonst mit dem Totschlagen und Erschießen schon zu Beginn unserer Wanderung anfangen müssen, wie es später zur Regel wurde. Jedes Zurückbleiben bedeutete Gehorsamsverweigerung oder Fluchtversuch, und dafür gab es nur eine Abhilfe: Totschlagen mit dem Kolben oder Erschießen. Auch dem Ahnungslosen, dem Unverwüstlichen unter uns wurde nun allmählich klar, wozu wir ausersehen waren. Wir hatten nur noch nicht den Mut, es gegenseitig offen zuzugestehen: nur in unseren Herzen nistete schon die grausige Erkenntnis dessen, was uns bevorstand. So war es vielleicht als ein Glück zu bezeichnen, daß uns die körperlichen Beschwerden immer mehr zusetzten, der Durst, die Müdigkeit, das Sichwundlaufen, das Spießrutenlaufen durch die aufgehetzte Bevölkerung, das Anschreien und die Kolbenstöße der Begleitmannschaften. So marschierten wir durch das Land, das schon durch seine Trostlosigkeit wie eine Wüste wirkte, immer stummer und verzweifelter werdend. Es nahte der Abend, irgendein Optimist hatte es sich zusammenkombiniert, daß "wir auf ein schönes Gut kämen", wo wir für einige Zeit Unterkunft finden könnten. Wir marschierten aber und marschierten, immer [57] nur mit kleinen Ruhepausen zum Stehen oder zum Liegen. Wehe, wenn wir bei unserem Marsch nicht ausgerichtet blieben, die Viererreihen nicht einhielten oder den Anschluß an den Vordermann verpaßten. Wie eine Erlösung kam es uns vor, als wir nach etwa fünfzehnstündiger Wanderung an einen schönen See gelangten, wo man uns eine etwa vierstündige Rast, sowie die Versorgung mit Trinkwasser gönnte. Ich war vollkommen erschöpft; ich weiß, daß ich mich, allen Warnungen meiner Kameraden zum Trotz, einfach in das moorige Wiesengelände niederfallen ließ, erhitzt, wie ich war; mir war alles gleichgültig, und ich hätte den Tod als eine Erlösung empfunden. Ich kann mich nur besinnen, daß mir hilfsbereite Kameraden eine Decke unterlegten, und daß ich dann in einen bleiernen Schlaf fiel. Beim Erwachen fühlte ich mich bis auf einen starken Muskelkater wie neugeboren und war imstande, die weitere Wanderung anzutreten. Unser Ziel war, wie sich allmählich herausstellte, Kutno, das wir erst vor wenigen Tagen mit der Eisenbahn passiert hatten, um von hier auf der Nebenbahn Czerniewice–Woclawek nach der stillgelegten Zuckerfabrik Chodcen als vorläufigem Sammellager transportiert zu werden.

Die Schilderung des Marsches durch die Judenstadt Kutno will ich mir ersparen. Wenn man uns nicht zu Besserem ersehen hätte, d. h. einem Totschlagen oder Abschießen im Verlaufe eines satanisch ausgedachten Erschöpfungsmarsches, dann hätte man uns schon jetzt freigeben können, damit die Judenmegären uns die Kehle durchbissen oder die Augen aus dem Kopfe rissen, wie diese Bestien uns mit höllischen kreischenden Zurufen in Aussicht stellen. Das waren nicht mehr Menschen, sondern vor geilem Haß Irrsinnige, deren Augen uns entgegenlichterten, wie ich es oft bei Geisteskranken beobachten konnte. Ich bin überzeugt, daß nur das Wissen um unser Los – in den Erschöpfungstod getrieben zu werden – diese Bestien davon abhielt, unsere sogenannte Bedeckungsmannschaft über den Haufen zu rennen und uns den Garaus zu machen. Der Marsch durch das langgestreckte Kutno dauerte eine gute Stunde, und wir gelangten nun auf die gut ausgebaute, glatt ausgelegte Straße Kutno–Warschau. Das war eine große Erleichterung für unsere immer mehr zunehmenden Fußkranken bzw. Durchgelaufenen. Die Leute marschierten teilweise bereits ohne Schuhwerk, da das bis dahin benutzte nur noch aus Fetzen bestand und mehr hinderte als half. Die Fußsohlen bestanden bei manchen Volksgenossen nur noch aus aufgequollenen und verschmutzten Wundflächen. Wir hatten von der Zuckerfabrik bis Kutno etwa 42 Kilometer zurückgelegt, und nun marschierten wir auf einer wohlgepflegten Hauptstraße von Kutno Warschau entgegen; das konnten wir aus den Wegweisern ablesen. Mit uns zog, uns oft überholend, ein unübersehbarer Flüchtlingsstrom aus den Kreisen Inowraclaw, jetzt Hohensalza, Wirsitz und [58] Gnesen.

Ich will mir die Schilderung des Elends ersparen. Die Leute machten einen abgehetzten und verzweifelten Eindruck, so daß sie nicht einmal mehr zu Haßausbrüchen fähig waren, sondern stumpf alles über sich ergehen ließen. Immer mehr tauchten auch die Trümmer der geschlagenen polnischen Armee auf. Ein Segen, daß es diese durcheinandergewürfelten, aus dem Zusammenhang gerissenen, sich selbst überlassenen Restbestände von Truppeneinheiten so eilig hatten und sich aus dem Staube machten, als ob ihnen der Teufel auf den Fersen wäre. Sonst hätten sie uns mit Handgranaten und Gewehrschüssen wie die Hasen abgeknallt. Es war der 8. September. Wir marschierten und marschierten! Immer stärker machte sich nicht nur eine stumpfe Ergebenheit, sondern auch eine nach Entladung drängende wütende Verzweiflung unter uns bemerkbar. Es gab keinen mehr, der nicht den Kopf hängen ließ, unsere Unentwegten, die immer noch einen schlechten Witz bei der Hand gehabt hatten, schritten stumm mit gesenktem Kopf. Nun begann das Schlußdrama sich bereits an einigen unserer Brüder zu erfüllen. Wir marschierten durch ein Dorf mit einem Tümpel, auf dem die Enten das ihrige getan hatten, um das Wasser widerlich und ungenießbar zu machen. Plötzlich stürmte eine hinter uns marschierende Gruppe von Ukrainern aus der Reihe und stürzte sich in den Tümpel, um die widerliche Jauche mit gierigen Schlucken zu trinken. Man wollte die armen Teufel wohl nicht streng nach der Instruktion abknallen, waren auch wohl zu viele; und so ließ man sie gewähren, ebenso wie einen deutschen Volksgenossen, der schon seit Stunden irre Reden führend, in dem Tümpel ein Erfrischungsbad nahm. Ich sehe noch das glückliche Gesicht dieses armen Menschen, der immer wieder laut ausrief, sich wie eine Ente die Brust mit der schmutzigen Jauche benetzend: Ach, wie ist das Bad schön, ach, wie ist das Bad schön!

Die Stimmung unserer Begleitmannschaft, die selbst nichts zu essen bekam und ermüdet war, stieg immer mehr auf den Siedepunkt, zumal sich auch unsere Haltung zu lockern begann. Das Wandern auf der zwar bequemen aber in ihrer Eintönigkeit zur Verzweiflung treibenden Straße nach Warschau wurde immer mehr zur Qual. Es wurden schon Vermutungen laut, daß man uns bis nach Warschau – ich las, wenn ich nicht irre, auf einem Meilenstein eine Entfernung von 158 Kilometer – jagen wollte. Jedenfalls war der ganze Tag, der 8. September, mit nur kurzen Unterbrechungen von Marschieren ausgefüllt. Da es sehr drückend war, begrüßten wir den Sonnenuntergang, obschon keine Aussicht bestand, daß wir zu einer Nachtruhe gelangen würden. Nun erlebten wir die ersten schrecklichen Fälle von Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht. Zuerst mußte ein Irrer daran glauben, der durch lautes Schreien und Protestieren schon bei Beginn unserer Wanderung der Begleitung zu schaffen gemacht hatte. Dann suchte ein jün- [59] gerer Mensch feldeinwärts das Weite zu suchen. Er wurde nicht von unserer Begleitmannschaft, die sich ja die Mühe des Nachlaufens sparen konnte, sondern von einem bewaffneten Zivilisten aus einer der umliegenden Hütten erst niedergeschossen und dann durch einen Rückenschuß erledig. Besonders tragisch wirkte, obschon wir allmählich immer abgestumpfter wurden, das Niedermetzeln eines alten, etwa 65jährigen Mannes, der, ganz irre geworden, plötzlich unsere Reihen verließ. Er hatte sich, unangefochten durch unsere Begleiter, etwa fünf Minuten der goldenen Freiheit erfreuen dürfen. Dann stellte ihn ein bewaffneter Strzelec (Schütze), wie sie zahlreich in der Umgebung der Straße herumwimmelten und schlug ihn nieder. Und nun wurde mir ein Anblick zuteil, den ich nie vergessen werde: Auf den am Boden Liegenden schlugen etwa 15 bewaffnete polnische Soldaten mit ihren Kolben ein, die nach und nach auftauchten, bis der Unglückliche seinen Geist aufgab. –

Die Dämmerung senkte sich herab, und noch immer war des Marschierens kein Ende. Aus dem immer mehr an Stärke zunehmenden Geschützfeuer sowie deutlicher werdenden Maschinengewehrgeknatter schlossen wir, daß wir uns der Front näherten. Die Nacht war infolge der im Umkreise brennenden Gehöfte und Ortschaften fast mondscheinhell. Wir gelangten, ohne noch eine Ahnung zu haben, wohin uns eigentlich der Weg führen sollte, in eine Gegend, für die bei sonst vollkommener Einförmigkeit der Bestand von vereinzelten hohen Pappeln charakteristisch war. Diese hoben sich in unheimlicher Düsterkeit von der in ein unbeschreibliches Dämmerlicht gehüllten gespenstischen Landschaft ab. Vor uns tauchten dann plötzlich zwei hell erleuchtete, wie glühende Augen wirkende Feuerscheine auf. Wir wanderten etwa zwei Stunden darauf zu, ohne daß wir den Eindruck hatten, ihnen näher zu kommen. Diese unwirkliche Umgebung brachte die meisten von uns um den Rest der Selbstbesinnung. Keiner sprach mehr ein Wort; mit weitaufgerissenen Augen torkelten wir dahin und verloren allmählich ganz den Sinn für die Wirklichkeit. Ich merkte, wie ich mich nicht mehr in der Umgebung zurechtfand; ich sah plötzlich am Wege eine nicht endenwollende Kirchhofsmauer, die gespenstischen Pappeln nahmen die Gestalt von Kirchtürmen an, zwischen denen sich Gestalten bewegten. Das Grauenvollste aber war das undurchdringliche Schweigen. Und es ging nicht nur mir so! Aus den angstvoll aufgerissenen Augen meiner Leidensgefährten sprach dieselbe irre Angst, entweder den Verstand zu verlieren oder sich wirklich schon in der Hölle zu befinden. Erst, als allmählich der Morgen zu tagen begann, verlor die Umgebung ihren spukhaften Eindruck; wir näherten uns einem Bahnhof, und die gespenstischen Augen erwiesen sich als die Brandstätten eines Dorfes in der Nähe einer Stadt, wie sich bald herausstellen sollte: Lowicz. Am Bahnhof überholten uns ganz zügellos und wie toll sich [60] gebärdende, in Auflösung begriffene Truppen des polnischen Heeres; sie schossen in unsere Gruppe hinein, glücklicherweise ohne zu treffen, nur mit Gewehrkolben wurden wir bedroht. Einzig dem Umstand, daß sie es sehr eilig hatten, hatten wir es zu verdanken, daß Verluste in unseren Reihen nicht zu verzeichnen waren.

Scriptorium merkt an:
Einen weiteren Erlebnisbericht dieses Marsches finden Sie hier!
Wir wurden vom Bahnhof Lowicz weiter getrieben, obschon sich auch die Widerstandsfähigen und Unverwüstlichen kaum noch auf den Beinen halten konnten; soweit wir in Erfahrung bringen konnten, sollten wir von einem Nebenbahnhof der Stadt Lowicz weiterverladen werden. Wieder marschierten wir zwei Stunden lang. Es war inzwischen 9 Uhr morgens geworden. Zu unserem Jammer paßte gar nicht das herrliche Wetter. Der Flüchtlingsstrom von Soldaten und Bauernfuhrwerken nahm immer bedrohlichere Formen ab; kein Mensch hörte mehr auf ein Kommando, wilde Angst und Verzweiflung sprach auch aus den Zügen der Soldaten, Offiziere bekamen wir überhaupt nicht zu Gesicht. Um uns kümmerte man sich kaum noch, alles hetzte in der Richtung Warschau. Unsere Begleitmannschaft verlor immer mehr die Herrschaft über uns, man ließ es nunmehr bloß noch bei Befehlen: Erste Gruppe hierher, dritte, zu der ich gehörte, hierher, bewenden. Dabei gerieten wir immer mehr in Unordnung und auseinander, unsere geschlossene Schar von ein paar tausend zersplitterte sich in kleinere Haufen von ein paar hundert Leuten. Immer näher kommende Granateneinschläge machten die Leute schon recht ungemütlich. Wir merkten bald, daß es sich um ein planmäßiges Einschießen der deutschen Artillerie handeln mußte, denn aus nördlicher Richtung kamen in regelmäßigen Abständen die Einschläge ständig näher auf uns zu; mit ohrenbetäubendem Krach ging etwa 200 Meter von uns ein Gebäude durch Volltreffer in Trümmer. Ich höre noch das Aufschreien unserer sonst beherrschten Frauen, und wir waren uns darüber klar, daß der nächste Treffer in unsere Gruppe einschlagen mußte. Aber wie durch ein Wunder hörte das Schießen plötzlich auf. Unsere Flieger, die während unserer Wanderung wiederholt unsere Bergleiter gewesen waren, hatten das Schießen der Artillerie augenscheinlich genau geleitet. Bald vernahmen wir hinter uns auch das immer mehr an Stärke zunehmende Tacken von Maschinengewehren, und vorsichtig hinter uns blickend, sahen wir helmbewehrte Soldaten, teilweise auf Motorrädern. Unsere Begleitung, die bisher noch aus Gewehren in uns hineingeschossen hatte, um ein zu frühes Entweichen zu verhindern, hatte sich dünne gemacht. Und unsere Befürchtung, daß es sich hinter uns doch noch um polnische Soldaten handeln könnte, wurde rasch zerstreut; denn die ersten Volksgenossen, die überliefen, winkten uns bald mit Taschentüchern, eine Aufforderung, der ich allerdings nur unter größten Schmerzen, auf einen treuen, hilfsbereiten Kameraden gestützt, Folge leisten konnte. Denn mein linkes Bein [61] konnte ich vor Schmerzen kaum noch rühren. Bald umringten wir die pulverrauchgeschwärzten Maschinengewehrschützen einer sächsischen Abteilung.

So waren wir frei, und nach einigen Stunden Ausruhens brachte man uns nach der stark zerschossenen Stadt Lowicz. Es war eigentlich geplant worden, uns nach kurzem Erholungsaufenthalt hier in Sammeltransporten nach der Heimat zurückzubefördern. Die Durchbruchsabsichten der Polen, die damals die größte Umklammerungsschlacht der Weltgeschichte an der Bzura und am Weichselbogen einleiteten, vernichteten aber alle Hoffnungen auf einen planmäßigen Abtransport von Lowicz aus. Wir merkten an dem zunehmenden Geschützfeuer, daß sich etwas vorbereitete. Grauenvoll in der Erinnerung sind uns besonders noch die Stunden in der Kirche von Lowicz, die ich ausgesucht hatte, um etwas Schutz vor der in der Nacht schon empfindlichen Kälte zu suchen. Das durch die Kirchenfenster fallende Licht der brennenden Häuser der Stadt gab dem Kircheninnern ein besonders unheimliches und düsteres Aussehen; dazu denke man sich die armseligen Flüchtlingsgestalten in ihren zerrissenen, nach Schweiß und Unrat riechenden Kleidern, ihr angstvolles Umherwandern und halblautes Jammern. Und über allem die kalte, überladene Pracht der Heiligen- und Marienbilder sowie der zahlreichen Altäre. Ich war trotz der erstickenden Luft vor Übermüdung doch etwas eingeschlummert, als mich ein tierisches Angstgeschrei aus vielen menschlichen Kehlen aufschreckte: "Die Polen kommen!" Sofort fing die in der Kirche eingepferchte Masse an, nach den Ausgängen zu drängen. Ich verblieb an meinem Platz, da ich mir sagte, daß ich nur so der Gefahr des Zertretenwerdens beim Kampf um die Ausgänge entrinnen könnte. Wenn ich dieses Aufschreien mit dem einer gequälten Kreatur vergleiche, so kommt dieser Vergleich der Wirklichkeit am nächsten. Als ich vor Jahren einmal als Schularzt des Graudenzer Goethegymnasiums das Schlachthaus besuchen mußte, um den Schülern die sanitären Einrichtungen einer Stadt zu zeigen, da mußte ich Zeuge sein, wie eine junge Sterke geschächtet wurde. Der Anblick, das Stöhnen und qualvolle Brüllen des dem grauenvollen Tode ausgelieferten Geschöpfes ist aus meiner Erinnerung nicht auszulöschen gewesen, obschon Jahre seitdem verflossen sind. Und als ich das Angstgeschrei der in der Kirche Eingeschlossenen hörte, da wurde das Bild aus dem Schlachthause vor meinen Augen lebendiger denn je. Glücklicherweise trat ebenso rasch eine Beruhigung ein, und mit dem dämmernden Morgen verließ ich die Stätte des nächtlichen Grauens. An demselben Morgen wurden die Vorbereitungen zur vollständigen Räumung der Stadt getroffen, und mit dem Schwarm der Flüchtlinge gelangte ich über Lodsch, Breslau, Schneidemühl endlich nach Hause. Da ich mir, wie schon erwähnt, eine sehr schmerzhafte Muskelzerrung in der linken Oberschenkelmuskulatur zugezogen hatte, wurde es mir er- [62] möglicht, ein Auto zur Heimfahrt zu benutzen, die uns über 1300 Kilometer führte.

Nun zum Schluß noch ein paar Worte über den Geist, der nicht nur in unserer kleinen Gruppe, sondern, wie ich annehme, auch in allen anderen herrschte. Ich muß dabei betonen, daß unsere Graudenzer Gruppe gegenüber den anderen vom Glück geradezu begünstigt wurde. Denn wie grauenvoll hatten es z. B. die Schwetzer oder Bromberger oder auch Einzelpersonen angetroffen. Wie furchtbar zugerichtet war z. B. ein Kollege, dessen Körper kaum frei war von blutunterlaufenen Stellen als Folgen von Kolbenhieben, dessen linke Augenhöhle einen wüst entstellten Anblick darbot, zum Glück ohne ernstere Verletzung des inneren Auges. Allerdings handelte es sich um einen sehr kräftig gebauten Mann; jeder andere wäre voraussichtlich nicht mit dem Leben davongekommen.–

Wir wußten, nach anfänglichen ganz trügerischen Hoffnungen, daß es um unser Leben ging, daß jeder Versuch, auch nur zurückzubleiben, den sicheren Tod bedeutete. Und so kettete uns ein Zusammengehörigkeitsgefühl aneinander, das zu den schönsten Beispielen treuer, kameradschaftlicher Verbundenheit gehört. Was besonders erhebend war, war der Umstand, daß es nie zu Ausbrüchen fassungsloser Verzweiflung gekommen ist, daß auch nie ein Wort des Vorwurfs laut wurde, etwa in dem Sinne: warum ist uns dieser furchtbare Gang nicht erspart geblieben, der Führer hätte doch auch einen anderen Weg wählen können. Nein, nur der Glaube an den Führer hat uns aufrechterhalten. Wir waren schließlich auf das Letzte gefaßt und einsatzbereit. Außerdem glaubt man ja gar nicht, wieviel der Mensch in der höchsten Not aushalten kann. Ich selbst bin leider jedem Sport abgeneigt. Und wenn mir jemand gesagt hätte, daß ich in zwei Tagen bei im ganzen kaum sechs Stunden Schlaf, ohne einen Bissen zu essen, dabei von qualvollem Durst geplagt, 50 Kilometer würde zurücklegen können, dann hätte ich das einfach für unmöglich gehalten. Auch der Umstand, daß der Mensch vier und fünf Tage hungern kann, ohne etwas Besonderes dabei zu empfinden, ist gar nicht so unvorstellbar. Die meisten von uns hatten ja jedes Hungergefühl vollkommen verloren und zehrten in des Wortes wahrster Bedeutung von ihrem Fett. Nur ein paar starke Esser unter uns, Landwirte, die einen gesteigerten Stoffwechsel hatten und immer gewöhnt gewesen waren, aus dem Vollen zu essen, empfanden auch das Hungern als große Entbehrung und verfielen viel rascher als die Schlankwächsigen unter uns. Die meisten quälte der furchtbare Durst, dessen Qualen durch die Aussicht, sich nie richtig satt trinken zu können, gesteigert wurden. Und wenn vor unseren Augen die Begleitmannschaft erquickt, das verbleibende Wasser aber vor unseren Augen ausgeschüttet wurde, so machten wir wahre Tantalusqualen durch. Aber es [63] gab auch Menschen mit Mitgefühl. So erinnere ich mich einer ärmlichen Behausung, deren Bewohner, trotz des Anschreiens durch unsere Wächter, in unsere Reihen Wasser schleppten und die angebotene Bezahlung mit Entrüstung zurückwiesen. Das soll zur Ehre dieser Leute gesagt sein. Auch daß in einem Dorfe einer Leidensgefährtin in deutscher Sprache zugeflüstert wurde: Harrt nur aus, denn ihr werdet bald erlöst, soll nicht unerwähnt bleiben.

Wenn das von mir Geschilderte schon ungeheuerlich klingt, so bedeutet das noch wenig gegenüber den furchtbaren Erlebnissen anderer Volksgenossen. Es sind Ungeheuerlichkeiten begangen worden, die in einem für die Öffentlichkeit bestimmten Bericht einfach nicht wiedergegeben werden können. Man fragt sich nun mit Recht: Sind das alles nur Folge- bzw. Begleiterscheinungen einer plötzlichen Lockerung der Ordnung innerhalb eines Volkes, für das der Begriff Ordnung immer schon nur etwas Nebelhaftes bedeutete? Sind das nur Reaktionen auf das plötzliche Wissen um die Tatsache, daß der Traum um eine Großmachtstellung ausgeträumt ist? Suchte man sich dafür zu rächen, solange man eben noch die Möglichkeit hatte? Nein, es ging eine jahrzehntelang gehegte und gepflegte Haßsaat auf, hatte man doch seit Bestehen des polnischen Staates immerfort gepredigt, daß der Deutsche der ewige Feind des polnischen Volkes sei! Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß es sich bei der Verschleppung der Geiseln und der Hinmordung von über 5000 Volksgenossen um ein von langer Hand vorbereitetes, ganz planmäßiges Vorgehen der polnischen Regierungskreise gehandelt hat. Man wollte das führende Deutschtum, insbesondere die Intelligenz, mit einem Schlage ausrotten! Natürlich ganz legal! Denn ein Widerstand, ein Fluchtversuch waren doch Handlungen, die mit Recht unter die Kriegsgesetze fielen. Die polnische Auslegungsfähigkeit hätte vor der Geschichte glänzend bestanden. Was wollt ihr denn, hätte man der Untersuchungskommission entgegengehalten: Wir sind das frömmste Volk der Welt, des Heiligen Vaters Lieblingskinder. Wir sollten jemand ermorden, und noch auf solche gemeine Weise?

Man hatte sich eben gründlich verrechnet. Den "Strategen" der polnischen Armee schwebten die Erfahrungen des Weltkrieges vor Augen. Man rechnete mit einem mindestens sechsmonatigen Widerstand des etwa Zweimillionenheeres, ein Stellungskrieg schien so gut wie gesichert, wie konnte man auch voraussehen, daß die deutsche Luftwaffe durch Zerstörungen der rückwärtigen Verbindungen, durch ein Lahmlegen der Bewegungsfreiheit der Truppenverbände vom ersten Tage an alle Berechnungen über den Haufen werfen würde. Das hätte sich der große "Marschall" Rydz-Smigly, seine Malkunst in Ehren, denn er ist, wenn ich nicht sehr irre, seines Zeichens Maler, [64] anders ausgemalt. War man auch auf ein so klägliches Versagen der polnischen Fliegerei gefaßt gewesen? Das Ausbleiben der französischen und englischen Hilfe soll dabei ganz außer Betracht bleiben. Aber noch eine andere haßgrinsende Fratze wird im Hintergrund der Geschehnisse der Septembertage sichtbar, ich meine den polnischen Teil der allein seligmachenden Kirche. Im Auftrage der Schutzheiligen des allerkatholischsten Polens suchte man so nebenher auch die Andersgläubigen, da sie anders nicht zu bekehren waren, auszumerzen, und zwar aus Gegenden, wo sie noch gehäuft anzutreffen waren. Denn welchen Sinn hatte sonst die Mitverschleppung der denselben grausigen Qualen unterworfenen evangelischen Polen. Da war nun ausnahmsweise "alles in Ordnung". Diese Leute hatten außer ihren rein deutschen Namen und dem evangelischen Glauben nichts, aber auch gar nichts mit unserem deutschen Volkstum mehr gemeinsam, sie waren die allerechtesten "Kongresser", die unverfälschten "Anteks" (Spitzname für die Kongreßpolen), die man sich vorstellen kann. Besonders bedauerlich ist das Verhalten von Kardinal Hlond. Er wurde ja sozusagen in flagranti ertappt, als er an dem Leidensweg der Verschleppten unbewegt vorüberging und gar nicht daran dachte, dem Jammer ein Ende zu bereiten oder wenigstens ein tröstendes Wort zu sprechen. So sind sie! Über den für den christlichen Glauben eintretenden Zeitungen stand als Leitmotiv: Niech będzie pochwalony Jezus Christus, d. H. gelobt sei Jesus Christus, und darunter unmittelbar ein haßtriefender Artikel gegen die Deutschen.

Die Akten über das entsetzlichste Drama der systematischen Hinmordung von Abertausenden von Deutschen sind noch nicht angelegt, geschweige denn geschlossen, und es werden Monate, ja Jahre vergehen, ehe das Material zusammengetragen und gesichtet sein wird; aber eines steht schon heute fest, nämlich, daß eine von satanischem Haß gegen alles Deutsche geleitete polnische Oberschicht den Versuch unternahm, mit der Vernichtung ganze Arbeit zu machen, und daß ihr dabei die allerchristlichste Kirche in Polen wie in den Tagen der finstersten Inquisition von ganzem Herzen behilflich zu sein sich bemühte. Im Schutze der allergnädigsten Schutzheiligen von Polen, der Jungfrau Maria."

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Höllenmarsch der Volksdeutschen in Polen.
Nach ärztlichen Dokumenten zusammengestellt von Dr. Hans Hartmann.