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[Bd. 5 S. 395]
Adolf Lüderitz, 1834-1886, von Wilhelm Schüßler

Adolf Lüderitz.
[376b]      Adolf Lüderitz.
Adolf Lüderitz, der unbestritten erste Kolonialpionier Deutschlands, dessen Wagemut und bedenkenloser persönlicher Einsatz von Gut und Leben immer wieder als hanseatisch gefeiert wird, ist zwar in Bremen geboren – am 16. Juli 1834 –, aber weder seine Eltern noch seine weiteren Vorfahren haben etwas mit der alten Hansestadt an der Weser zu tun. Sein Vater, Franz Adolf Eduard Lüderitz, Sproß einer hannoverschen Offizierssippe, in die verschiedene Familien des Eichsfeldes, Mainfrankens und Hannovers geheiratet hatten, begründete in Bremen ein angesehenes Tabakshaus und führte als zweite Gattin Wilhelmine Schüßler heim, die Mutter Adolfs, die überwiegend Bauernfamilien des Oldenburger Landes entstammte.

Außerordentliche Lebhaftigkeit, Raschheit der Auffassungsgabe und Entschlüsse, inneres Feuer, Mangel an Geduld und Wartenkönnen, überstürztes Sprechen, dazu ein nie versagender Optimismus, auf Selbstvertrauen begründete Heiterkeit und Humor, eine zweifellose Derbheit und Rücksichtslosigkeit zeichneten den Gründer der ersten deutschen Kolonie aus. Eine gewisse Unstetigkeit seines Lebens in wechselnden Berufen, auf Reisen und Abenteuern in Amerika, wich größerer Ruhe, als er 1866 mit seiner Frau Emmy von Lingen ein großes Vermögen erhielt, das ihn über die materiellen Sorgen hinaushob und ihm das Dasein eines wohlhabenden Kaufmanns mit Stadthaus und Landgut ermöglichte.

Wie ist Lüderitz auf seine afrikanischen Pläne gekommen?

Schon längst, seit den siebziger Jahren, verlangten weitblickende Männer einen Anteil Deutschlands an der überseeischen Welt, besonders Afrikas, das dank den Forschungen Stanleys aufgehört hatte, der unbekannte Erdteil zu sein.

Dieses Streben nach Kolonialbesitz ist die Folge zunächst der Reichsgründung und des so gesteigerten Selbstbewußtseins der Nation, das durch Übernahme kolonialer Verantwortlichkeit und Anteil an der Zivilisationsarbeit Befriedigung verlangte –, sodann des 1878/79 eingeführten Schutzzolles und endlich der dringenden Notwendigkeit, den von Jahr zu Jahr wachsenden Strom von deutschen Auswanderern, 1882 waren es zweihunderttausend Menschen, in eigenen Gebieten unterzubringen und so dem eigenen Volkstum zu erhalten.

Entscheidend war die Haltung Bismarcks. Bezeichnend ist, daß er von überseeischer Ausdehnung nichts wissen wollte, solange das so schwer errungene [396] Reich in der Mitte Europas nicht einigermaßen gesichert war. Erst als er den deutsch-österreichischen Zweibund 1879 geschlossen hatte, dem sich Rußland 1881 anschloß, machte er durch die sogenannte Samoa-Vorlage – Bitte um Zinsgarantie für die Mittel zur Stützung des Hamburger Hauses Godeffroy in der Südsee – den Versuch einer Sondierung der Öffentlichkeit. Als diese im Reichstag auf Ablehnung stieß, fühlte sich der Kanzler in seiner Skepsis bestärkt, andererseits aber veranlaßte gerade diese Haltung der Volksvertretung jene Welle kolonialer Begeisterung, die 1882 zur Gründung des Deutschen Kolonialvereins führte.

Lüderitz war an diesen Dingen innerlich um so mehr beteiligt, als er eine ertragreiche Faktorei in Lagos (Goldküste) besaß und sicherlich längst über die beste Möglichkeit einer deutschen Siedlungskolonie nachgedacht hatte. Da ist im Sommer 1882 durch einen Zufall, wie so oft in der Geschichte, sein lange unbefriedigter und ungestümer Tatendrang geweckt worden. Ein zwanzigjähriger kaufmännischer Angestellter, Heinrich Vogelsang, erbot sich, für ihn hinauszugehen und eine neue Faktorei zu begründen, während ein beschäftigungsloser Kapitän Timpe ihm nahelegte, unter seinem Kommando ein Schiff mit Waren auszurüsten und an einer weniger bekannten Küste, nämlich der von Südwest, Handel zu treiben. Dabei wurde den drei Männern klar, daß diese Gebiete noch keiner europäischen Macht unterstanden. In diesem Augenblick faßte Lüderitz – trotz des kaufmännischen Abratens von Vogelsang – den schicksalsschweren Plan, gerade hier in Südwest eine deutsche Kolonie zu gründen, und zwar, wie er ausdrücklich hervorhob, in einem Klima, das für Deutsche erträglich sei.

Dem Entschluß folgte die Ausführung auf dem Fuße. Sofort wurde eine Brigg, die "Lilly", gekauft, mit Waren beladen und vor allem Vogelsang in tiefem Geheimnis nach Kapstadt vorausgesandt, um dort überhaupt erst die Möglichkeiten und zugleich einen geeigneten Landungsplatz zu erkunden. Gleichzeitig bat Lüderitz am 16. November 1882 das Auswärtige Amt um den Schutz des Deutschen Reiches für sein geplantes Unternehmen.

Damit war Bismarck vor die entscheidungsvolle Wendung gestellt. Es war eine eigenartige Gestaltung der Dinge, daß ein Privatmann wie Lüderitz den Staat, der später allmächtig wurde, damals von sich aus zu weltgeschichtlichen Entschlüssen drängen konnte.

Zunächst verharrte das Auswärtige Amt noch bis in den Sommer 1883 hinein in seiner Abneigung gegen "Kolonialpolitik", indem es Lüderitz auf den privaten Charakter seines Unternehmens hinwies; nur auf den Schutz, auf den jeder unbescholtene Deutsche im Ausland rechnen könne, dürfe er zählen.

Aber das Schwergewicht der durch Lüderitz geschaffenen Tatsachen führte naturnotwendig über die ursprüngliche Linie des Auswärtigen Amtes hinaus. Denn unterdessen war an der Küste von Südwest gehandelt worden. Es wird [397] immer das unvergeßliche Verdienst des jugendlichen Vogelsang bleiben, was hier an Ort und Stelle geleistet wurde –, allerdings im Auftrage, im Sinne und mit den Mitteln von Lüderitz.

Heinrich Vogelsang.
Heinrich Vogelsang.
Foto um 1885.
[Nach wikipedia.org.]
Mit einer Schar abenteuerlustiger und tatenfroher junger Männer fuhr Vogelsang in tiefstem Geheimnis – damit die Engländer nicht etwa zuvorkommen konnten! – von Kapstadt ab und landete am 10. April 1883 an jener Stelle der öden Sandzone der Küste, wo später der Hafen "Lüderitzbucht" von deutscher Tatkraft kündete. Nach unendlicher Mühe gelang es den jungen Leuten endlich, ein Holzhaus zu errichten, "Fort Vogelsang", und endlich zu den entscheidenden Verhandlungen mit den Besitzern des Landes aufzubrechen.

Für den weiteren Verlauf des Geschehens ist wichtig, daß seit Beginn der vierziger Jahre in diesen weiten Gebieten der sich bekämpfenden Hereros und Hottentotten die rheinische Mission erfolgreich wirkte und gerade die holländisch sprechenden Häuptlinge mit ihrem Anhang, wohl an sechstausend Menschen, dem Christentum gewonnen hatte. Deutsche Missionare vermittelten die Anknüpfung zwischen Vogelsang und dem Häuptling Josef Fredericks in der Station Bethanien, und als Vogelsang und seine Begleiter nach überaus anstrengenden tagelangen Ritten endlich anlangten und am 1. Mai ihren Wunsch vorbrachten, da war der Boden so gut vorbereitet, daß die Bucht von Angra-Pequena mit fünf Meilen Land im Umkreis gegen eine einmalige Zahlung von hundert Pfund Sterling und sechzig Gewehren an Lüderitz abgetreten wurde! Ein Besitz, den Vogelsang durch einen weiteren Kauf im August noch ganz erheblich vergrößerte. Man kann es begreifen, daß man in seinem Kreise nun nicht lange fackelte und schon nach der Rückkehr von der ersten Reise, am 12. Mai 1883, die deutsche Flagge auf dem neuen "Territorium Lüderitz" hißte. Als diese [398] Tatsache im August durch Zeitungsmeldungen in der Heimat bekannt wurde, sah sich Bismarck weiter gedrängt. Zwar hielt er den nicht befohlenen Akt für ein frivoles Beginnen, sondierte aber in der Öffentlichkeit durch einen offiziösen Artikel der Post noch einmal. Die überraschend freudige Aufnahme in der Presse gab ihm dann die nötige innere Sicherheit für sein weiteres Vorgehen.

Denn darüber war er sich von vornherein klar, daß die Engländer eine Festsetzung Deutschlands an jenem Punkt der südwest-afrikanischen Küste, in der Nachbarschaft der Kap-Kolonie, nicht gern sehen würden. War er auf einen Kampf gegen England gerüstet?

Da wollte es das Glück, daß die Weltlage sich für Deutschland denkbar günstig gestaltet hatte. Seitdem England gegen Frankreichs Widerstand Aegypten besetzt hatte (1882) und das Vordringen Rußlands in Zentralasien zu einer Gefahr für Indien zu werden drohte (1883/84), war Großbritannien mehr als jemals früher auf die Freundschaft des Deutschen Reiches angewiesen. Dazu besaß Bismarck in dieser Zeit ein unvergleichliches Druckmittel in der Entente mit Frankreich, die auf Grund der gemeinsamen Interessen beider Mächte in Afrika zustande kam.

Die Notwendigkeit des Handelns wurde ihm jetzt von Lüderitz nahegelegt. Im Herbst 1883 war der Kaufmann zum ersten Mal in Südafrika gewesen, nicht nur, um sein neues und wachsendes Landgebiet kennenzulernen, sondern vor allem, um Besitzstreitigkeiten mit der kapländisch-englischen Firma de Paß Spence & Co. zu seinen Gunsten zu entscheiden. Bei diesem Besuche kam es bis zur Androhung von Gewalt gegen die Engländer durch Lüderitz, der kurz entschlossen auf dem mit Spence strittigen Territorium die Stange mit der wehenden britischen Flagge umhauen ließ. Bei einer persönlichen Unterredung mit dem Hohen Kommissar in Kapstadt, Generalleutnant Smyth, und als er von Angra-Pequena zurückkam, mit dessen Sekretär, mußte Lüderitz erleben, daß die Engländer und die Kapkolonie seine Erwerbungen nicht anerkannten, sondern sie als britischen Besitz erklärten. Mit der Drohung, Bismarck hiervon zu unterrichten, reiste Lüderitz ab, zur Bitte um Hilfe in Berlin um so mehr entschlossen, als ja sein Territorium den erhofften Handelsgewinn nur abwerfen konnte, wenn er imstande war, es gegen die Überschwemmung mit englischen Waren abzuschließen. Schon aus diesem Grunde mußte ein klarer Zustand geschaffen, der Schutz des Deutschen Reiches über sein Gebiet ausgesprochen werden.

Schon längst ehe Lüderitz die Heimat erreichte, hatte Bismarck gehandelt. Am 10. November 1883 ließ er die britische Regierung zum zweiten Male fragen, ob sie auf das Gebiet von Angra-Pequena Anspruch erhebe, und wenn ja, auf Grund welcher Rechtstitel? Entgegen dem beliebten Verfahren der Verschleppung, das besonders der Kolonialminister Lord Derby übte, erfolgte diesmal die Antwort des englischen Außenministers Lord Granville, am 21. November, mit großer Schnelligkeit. Sie war überraschend, denn sie hatte nichts [399] Geringeres zum Inhalt als die Darlegung einer afrikanischen Monroedoktrin für England! Nach Empfang dieser englischen Antwort wird es gewesen sein, daß Bismarck nicht nachzugeben beschloß. Aber selbst jetzt noch befahl er, die Anfrage wegen Angra-Pequena in Form einer schriftlichen Note zu wiederholen: mit welchem Recht beanspruche England das Protektorat?

Darauf erfolgte keine Antwort!

Es ist das Verdienst des damaligen Referenten der handelspolitischen Abteilung im Auswärtigen Amt, Kusserow, den Kanzler bei seinem neuen Schritte in der Kolonialpolitik beraten und zum Vorgehen ermuntert zu haben. Jedenfalls wurde am 22. Dezember beschlossen, wie die berühmte Denkschrift der Hamburger Handelskammer im Juli verlangt hatte, einen Reichskommissar nach Westafrika zu entsenden und mit den dortigen Häuptlingen Verträge abzuschließen.

Um noch ein Letztes zu versuchen, wurde am 31. Dezember 1883 die deutsche Anfrage wegen Angra-Pequena in London wiederholt.

Während monatelang keine Antwort erfolgte – ein beispielloser Vorgang in der diplomatischen Geschichte, beispiellos auch deswegen, weil unterdessen der Kolonialminister Lord Derby die Kap-Kolonie zur Annexion der ganzen Küste von Südwestafrika zu bestimmen suchte! –, kehrte Lüderitz im Frühjahr 1884 von Afrika zurück.

In dieser Stunde fiel die Entscheidung insofern, als sich Bismarck einem französischen Protest gegen den englisch-portugiesischen Vertrag über Mittelafrika anschloß und so jene deutsch-französische "Kolonial-Ehe" einging, die für England so unbequem war. So fand Lüderitz einen für seine Wünsche geeigneten Boden vor.

In einer für das Auswärtige Amt bestimmten Denkschrift vom 21. März 1884 legte der Kaufmann seine Erlebnisse in Südafrika und seine Wünsche für die Zukunft dar. In erster Linie forderte er die amtliche Bekanntgabe des Reichsschutzes über seine Erwerbungen, um weiteren Schikanen der Engländer zu entgehen. Auch konnte er nur so hoffen, sein Gebiet handelspolitisch abzugrenzen. Darauf folgte am 8. April die bekannte Denkschrift Kusserows, die in den Hauptzügen auf Lüderitz' Eingabe fußte und in der als mögliche Art des Reichsschutzes, das heißt einer deutschen Kolonie, die Verwaltung durch eine Kompanie gefordert wurde. Denn Bismarck wünschte keine Kosten, keine militärischen Aufwendungen über See. Die würden nur den "parlamentarischen Exerzierplatz" verbreitern.

Nun aber wurden die Dinge rasch weitergetrieben durch Lüderitz selber. Die Streitigkeiten mit den Engländern in seinem Gebiet nahmen ihren Fortgang, so daß ihm von den neuen Verwicklungen am 8. April durch seine Kapstädter Agenten drahtliche Mitteilung gemacht wurde. Sofort verständigte er das Auswärtige Amt und schrieb dazu die entscheidenden Worte: "Wie ich in meiner [400] ergebenen Eingabe vom 21. März d. J. schon bemerkte, werde ich von Seiten der Engländer und Kapländer auf alle mögliche Art und Weise schikaniert werden, solange nicht offiziell bekannt gemacht wird, daß ich, respektive mein afrikanischer Besitz unter deutschem Reichsschutz steht."

Daraufhin wurde er am 19. April zu Bismarck befohlen, nachdem drei Tage zuvor die große Instruktion für Generalkonsul Nachtigal zur Besitzergreifung an der westafrikanischen Küste abgeschlossen war. Diese erste Unterredung drehte sich, neben dem offiziellen Schutz des Reiches, auch um die Frage, wie Lüderitz sein Gebiet handelspolitisch abschließen könne, das heißt, wer zur Erhebung der Zölle befugt sei, der deutsche Kaiser oder der Häuptling von Bethanien oder, wie Bismarck scherzend bemerkte, Lüderitz I.? Auf Grund der Unterredung verfaßte der Kaufmann am 22. April dann seinen amtlichen Antrag auf Reichsschutz. "Um den bisherigen Übergriffen kapländischer Firmen ein rasches Ende zu machen, bitte ich, dem deutschen Konsul in Cape Town telegraphisch zu befehlen, dem Gouverneur der Kap-Kolonie hiervon Mitteilung zu machen und außerdem eine diesbezügliche Bekanntmachung in der amtlichen Kap-Zeitung zu erlassen."

Im Sinne dieser Wünsche befahl Bismarck, ein Telegramm an den deutschen Konsul in Kapstadt und an den deutschen Botschafter in London aufzusetzen. Nach verschiedenen Änderungen von der Hand des Kanzlers erging dann das berühmte Telegramm an den Konsul in Kapstadt, mit dem das Deutsche Reich offiziell in die Reihe der Kolonialmächte eintrat: "Nach Mitteilungen des Herrn Lüderitz bezweifeln die Kolonialbehörden, ob seine Erwerbungen nördlich vom Oranje-Fluß auf deutschen Schutz Anspruch haben; Sie wollen amtlich erklären, daß er und seine Niederlassungen unter dem Schutz des Reiches stehen."

Es mußte sich Persönlichstes, Lüderitz' Unternehmungsgeist, Vogelsangs Mut und Geschicklichkeit, Bismarcks politische Weisheit und Energie, mit der allgemeinen Weltbewegung des kolonialen und imperialistischen Zeitalters verbinden, mit dem Kraftbewußtsein des Deutschen Reichs und der Gestaltung des europäischen Staatensystems, um dies Ergebnis zu erzielen.

Daß die Ungunst der Weltlage England zur Anerkennung des deutschen Kolonial-Reiches bewog, sollte sich in den nächsten Monaten zeigen. Die von London aus unternommenen Winkelzüge, um die Kap-Kolonie zur Annexion der ganzen von Deutschland beanspruchten Küste Südwestafrikas zu bewegen, waren derartig, daß es zu einer ernsten Spannung zwischen Deutschland und England kam und Bismarck den deutschen Botschafter in London nicht nur zum offiziellen Protest gegen diese Handlungen ermächtigte, sondern auch die denkwürdigen Worte schreiben mußte: "Schüchternheit ist bei der Rücksichtslosigkeit der englischen Kolonialpolitik nicht angebracht und kein Mittel, in guten Verhältnissen mit England zu bleiben."

Was sich von Juni bis September 1884 an der westafrikanischen Küste zutrug, kann nur als ein Wettlauf zwischen England und Deutschland bezeichnet [401] werden. Wenn auch der Generalkonsul Nachtigal mit aller Vorsicht ausgesandt wurde, so war es doch ein bloßer Zufall, daß er in Kamerun nur ein klein wenig früher ankam als die Engländer. Lüderitz, in fieberhafter Erregung, ob die Engländer ihm nicht bei der Erwerbung der nördlich von Walfischbai gelegenen Küstenstrecke zuvorkommen würden, machte der Admiralität nicht weniger als 24 Punkte der ganzen Küste vom Oranje-Fluß bis zur portugiesischen Grenze namhaft, wo die deutschen Kriegsschiffe Besitz zu ergreifen und die Hoheitszeichen anzubringen hätten. Schließlich konnte dann der deutsche Konsul am 5. September 1884 nach Hause melden, daß das große Werk gelungen sei! Am 22. September mußte sich England schweren Herzens zur Anerkennung des deutschen Besitzes in Südwestafrika bequemen und Deutschland als kolonialen Nachbarn begrüßen. Lüderitz aber beeilte sich, als er die Nachricht von der Flaggenhissung erhielt, dem Fürsten Bismarck aus vollem Herzen zu danken. "Gott gebe", schrieb er, "daß diese erste Kolonie wachse und gedeihe zur Ehre und zum Nutzen Deutschlands!"

Ansicht von Lüderitzbucht in den ersten Jahren nach der Gründung.
[397]      Ansicht von Lüderitzbucht in den ersten Jahren nach der Gründung.
[Bildquelle: Gerda Becker, Berlin.]


Schon bei seinem ersten Besuch in Südwest mußte sich Lüderitz sagen, daß sein ursprünglicher Plan, dem deutschen Volk für seine auswandernden Massen eine Siedlungskolonie zu schaffen, angesichts der Bodenverhältnisse gescheitert sei. Immer mehr stellte sich heraus, daß es sich, wie man damals meinte, vorwiegend um ein Land mit Bodenschätzen, vor allem Kupfer, handele, also um eine Art Ausbeutungs- und Bergwerks-Kolonie. Aber sollte der Kaufmann deshalb verzagen? War doch schon längst in Büchern und in der Presse auf Transvaal hingewiesen worden, dieses "Paradies", von dem Ernst v. Weber sagte, daß es durch planmäßige Hinlenkung des deutschen Auswandererstromes zu einem deutsch-burischen Südafrika zu machen sei.

Wieder war es ein Zufall, der Lüderitz die Richtung vorschrieb. Einer jener "Afrika-Reisenden", die den schwarzen Erdteil aus Wissens- oder Geltungsdrang durchquerten, August Einwald, ehemals Photograph in Heidelberg, machte Lüderitz Ende 1883 auf das noch unvergebene "freie" Zululand an der Südostküste Afrikas aufmerksam. Der Kaufmann griff diesen Gedanken sofort auf, und so kam dann im Mai 1884, als Einwald in Europa weilte, jener Vertrag zustande, in welchem ins Auge gefaßt wurde, die Santa-Lucia-Bai und möglichst große Teile des Zululandes für Lüderitz zu erwerben und durch einen Bahnbau von der Bucht nach Pretoria die Voraussetzung für ein deutsch-burisches Südafrika zu schaffen.

Das Unglück wollte es, daß es in diesem Teil Südafrikas gerade in jenem schicksalsvollen Sommer 1884 zu den größten Umwälzungen kam, die alle Voraussetzungen umstürzten, von denen Lüderitz noch im Mai ausgegangen war. Er, und damit das Deutsche Reich, wurde in die Verwicklungen zwischen [402] England und den Buren hineingerissen. Und der Kampfplatz war vor allem das Zululand. Für das Britische Reich und die Kap-Kolonie mußte es vor allem darauf ankommen, die mögliche Ausbreitung der Buren über die ihnen vertraglich gesetzten Grenzen hinaus zu verhindern, vor allem aber den Durchbruch bis zur Küste. Nachdem die Gründung selbständiger neuer Buren-Republiken im Westen von Transvaal, nämlich von Gosen und Stellaland, verhindert war, richtete sich das Augenmerk der britischen Imperialisten, vor allem von Cecil Rhodes, auf den Versuch der Buren, durch Begründung eines neuen Staates auf dem Boden des Zululandes in Verbindung mit dem Meere zu kommen. Der Anlaß fand sich auf beiden Seiten im Jahre 1884. Die Buren unterstützten durch Freiwillige den jungen König Dinizulu gegen aufsässige Häuptlinge und ließen sich zum Dank beträchtliches Landgebiet abtreten; dies wurde dann von den Buren zur "Neuen Republik" erklärt. Natürlich mußte sich Dinizulu bald gegen die immer wachsenden Landansprüche seiner Helfer wehren. Als er und sein vornehmster Ratgeber, der Staatssekretär Adolf Schiel, ein gebürtiger Deutscher, sich in dieser Lage der Dinge nach ernsthafter Hilfe gegen die Buren umsahen – die man am wenigsten von England erwarten durfte –, traf der Agent des Bremer Kaufmanns, August Einwald, im November 1884 endlich im Lager Dinizulus ein.

Dort ersah Schiel sofort mit scharfem Blick die Möglichkeit, das Zululand seiner deutschen Heimat zu gewinnen. Auf seinen Rat knüpfte Dinizulu an die Abtretung der Santa-Lucia-Bai die Bedingung, daß das Deutsche Reich die Schutzherrschaft über das Zululand erwerbe. Da Schiel Einwald mißtraute und Lüderitz den Besitz der Bucht unter allen Umständen sichern wollte, ließ er sich die Bucht selber abtreten, um sie dann an den Kaufmann zu übertragen.

Es kam nun alles auf Bismarcks Haltung an. Zunächst gab er auf die triumphierende Meldung von Lüderitz, daß der Plan im Südosten geglückt sei, den Befehl (29. November), das Kriegsschiff Gneisenau solle die Zuluküste anlaufen und amtlich Besitz ergreifen. Aber wenige Tage später meldete der deutsche Konsul in Kapstadt, dem der törichte Einwald mit Klagen über Schiel in den Ohren lag, daß jener ein Betrüger und die ganze Sache hinfällig sei. Darauf wurde das Vorgehen an der Zuluküste sofort eingestellt (4. Dezember). Aber selbst wenn der Befehl an die Gneisenau aufrechterhalten worden wäre, die Deutschen wären doch zu spät gekommen! Am 8. Dezember beschloß das englische Kabinett, energisch vorzugehen, um die angeblich alten Ansprüche Großbritanniens auf die Santa-Lucia-Bai aufrechtzuerhalten. Am 18. Dezember schon hißte ein englischer Kreuzer in der strittigen Bucht die britische Flagge.

Diese Haltung Englands, das gleichzeitig im Westen von Transvaal das Betschuanaland und die Kalahariwüste in Besitz nahm, um ein Zusammengehen von Deutsch-Südwest und Buren zu verhindern, führte zu wiederholten scharfen Protesten Bismarcks in London, aber im weiteren Verlauf der Ereignisse doch [403] dazu, daß Bismarck schließlich auf diese Erwerbung des Bremer Kaufmanns verzichtete. Der Grund liegt darin, daß der Kanzler von vornherein, wie er Lüderitz und Schiel Anfang Januar 1885 auseinandersetzte, zum Festhalten nur unter der einen grundlegenden Bedingung entschlossen war, daß die Buren der deutschen Festsetzung zustimmten; denn die deutschen Interessen verlangten gebieterisch, ein Zusammengehen von Engländern und Buren gegen Deutschland zu verhüten; dazu sei das Reich nicht stark genug. Aber diese Voraussetzung sah Bismarck nicht erfüllt. Anstatt die sich hier bietende Gelegenheit zu einem deutsch-burischen Zusammengehen zu ergreifen, erklärten die Buren auf Grund eines Vertrages mit König Panda vom Jahre 1840, die ältesten Ansprüche auf die Santa-Lucia-Bai zu haben, während die Engländer ihren Besitztitel aus einem Vertrage desselben Häuptlings vom Jahre 1843 herleiteten. Kaum hatte Bismarck diese burische Auffassung kennengelernt, als er schon rasch entschlossen die neue Erwerbung von Lüderitz als Ausgleichsobjekt ins Auge faßte. Denn wegen der Grenzen von Kamerun, wo englische Agenten den deutschen Besitz auf die schmale Küstenzone zu beschränken suchten, und wegen des Besitzes von Neu-Guinea, der im Herbst gewonnen war, herrschte erbitterter Streit mit England. Das Wesentliche ist, daß Bismarck nach einigen Wochen stärkster Spannung mit London Anfang März 1885 zu dem erhofften Kolonial-Ausgleich kam. Die Santa-Lucia-Bai wurde geopfert – zumal die britischen Staatsmänner diesen Besitz als unentbehrlich erklärten –, um dafür Kamerun in der späteren Ausdehnung zu gewinnen und ferner die Anerkennung von Deutsch-Ostafrika, das am 27. Februar 1885 unter den Schutz des Reiches gestellt war, und von Neu-Guinea zu erreichen.

So war der stolze Plan von Lüderitz, ein deutsch-burisches Südafrika von Meer zu Meer zu schaffen und dem deutschen Volke in letzter Stunde den notwendigen Raum für eine Siedlungs-Kolonie zu gewinnen, gescheitert, und zwar zuletzt deshalb, weil nicht nur die Buren die große Stunde verkannten, sondern vor allem, weil die Weltlage sich unterdessen zuungunsten Deutschlands so verschoben hatte, daß ein Entgegenkommen gegenüber England notwendig wurde. Ende März 1885 wurde das deutschfreundliche Kabinett Ferry durch Clemenceau gestürzt und so die deutsch-französische Kolonial-Entente zum Scheitern gebracht; und bald brachen zwischen Rußland und Österreich wegen Bulgariens Meinungsverschiedenheiten aus, die den Bestand des Drei-Kaiser-Bundes erschütterten. Seitdem beschloß Bismarck, über See nur so weit zu gehen, wie es England gefiel.


Adolf Lüderitz.
Adolf Lüderitz.
Zeichnung von Joachim Fritz von Roebel.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 437.]
Lüderitz mußte das Scheitern seiner stolzen Hoffnung im Frühjahr 1885 um so schwerer empfinden, als sich gleichzeitig herausstellte, daß seine Mittel völlig erschöpft waren durch die dauernden gewaltigen Aufwendungen, die er für [404] die Ausbeutung seines noch immer wachsenden Besitzes in Südwest tragen mußte. Schon im Spätherbst 1884 berechnete Vogelsang die täglichen Ausgaben auf tausend Mark. Beherrschend stand dem Kaufmann immer die Notwendigkeit vor der Seele, endlich die erhofften Bodenschätze zu finden, damit sich sein Land wenigstens als Bergwerks-Kolonie bewähre. Eine Expedition nach der anderen sandte er zu diesem Zweck auf seine Kosten hinaus und erfüllte damit Aufgaben, die eigentlich dem Staate obgelegen hätten. Auch ruhte er nicht, bis in den Handelsstationen steinerne Häuser errichtet und immer neue Massen von Waren hinausgesandt wurden, die dann doch der englischen Konkurrenz unterlagen. Kostbare Bohrmaschinen zur Erschließung von Wasser, zum Graben von Brunnen wurden auf die Brigg "Lilly" verladen und gingen mit deren Untergang verloren. Es waren jetzt die Tage der Sorge gekommen. Die letzte Expedition ergab so gut wie nichts an wertvollen Bodenschätzen. So mußte Lüderitz seinen Plan aufgeben, einen Dampfer für die Fahrt zwischen Kapstadt und Angra-Pequena zu kaufen und eine Anlegebrücke zu bauen.

Nichts war notwendiger, als Kapital aufzubringen, wenn eine Verzinsung auch zunächst kaum in Aussicht stand. Nach überlangem Warten, vielen enttäuschenden Verhandlungen und Demütigungen kam es dann endlich, nicht ohne entscheidenden Antrieb Bismarcks, im April 1885 zur Gründung der Südwestafrikanischen Gesellschaft, bei der Lüderitz beteiligt blieb.

Aber es entsprach weder seinem Tätigkeitsdrang noch seinem Verantwortungsgefühl gegenüber dem begonnenen Werke, jetzt etwa die Hände in den Schoß zu legen. Es mußte und sollte sich lohnen! War von den Geologen wirklich gründlich genug geforscht worden? Sollten nicht doch große Kupfer- und Erzlager vorhanden sein? Jetzt, nach dem Scheitern der Zulu-Expedition, erfüllte ihn sogleich ein anderer Gedanke. Ob es nicht möglich war, wenigstens am Nordufer des Oranje-Flusses geeignetes Land für deutsche Farmer-Siedlungen zu finden?

Aus diesen beiden Überlegungen heraus trat er im Mai 1886 seine Fahrt nach Südwest an. Ohne die Auffindung von abbaufähigen Erzlagern, schrieb er entschlossen seiner Frau, werde er nicht zurückkommen, "und wenn ich ein Jahr lang herumreisen muß". Er plante, von der Küste ins Innere zu reisen, überall nach Erzen zu suchen und endlich an den Oranje-Fluß zu kommen, um dessen unbekannten Lauf zu erforschen. Am 16. Juli, seinem zweiundfünfzigsten Geburtstag, brach er auf, voll Energie und Zuversicht, aber das Ergebnis der Suche nach dem erhofften Kupfer enttäuschte; man glaubte zum Trost, daß eine Sprengung in tieferen Gesteinsschichten doch noch etwas ergeben würde. Von den reichen Otavi-Minen ahnte man nichts.

Mitte September kamen die Reisenden mit ihren Ochsenwagen in Nabasdrift am Oranje-Fluß an, und nun begann die gefährliche Fahrt über zweiundfünfzig Stromschnellen in siebenundzwanzig Tagen. Am 17. Oktober erreichten Lüderitz und seine drei Begleiter – der Steuermann Steingröver, der Schweizer [405] Bergingenieur Iselin und der schottische Bergmann Hodkins – Ariesdrift, etwa hundert Kilometer von der Mündung des Stromes entfernt. Dort erfuhr er, der jetzt möglichst schnell nach Angra-Pequena zurückwollte, um die schmerzlich entbehrten brieflichen Nachrichten aus der Heimat zu erhalten und zugleich ein angebliches Salpeterlager südlich der Bucht zu untersuchen, zu seiner schmerzlichen Enttäuschung, daß kein Bote vorhanden war, um die Ochsenwagen von Aus zu holen, die die Reisenden nach Angra-Pequena bringen sollten. Kurz entschlossen bestimmte er, daß Iselin und Hodkins beim Gepäck zu bleiben hätten, während er und Steingröver in einem der kleinen Faltboote, mit denen er die Reise auf dem Oranje-Fluß gemacht hatte, an der Küste entlang nordwärts fahren wollten, um in etwa fünf Tagen bei dem herrschenden günstigen Südwinde Angra-Pequena zu erreichen.

Obwohl seine Begleiter dieses waghalsige Unternehmen ebenso widerrieten wie kurz darauf ein an der Mündung des Stromes wohnender Bur, beharrte der Kaufmann auf seiner Absicht; Steingröver scheint ihn darin bestärkt zu haben. In der Nacht zum 23. Oktober 1886 schliefen Lüderitz und der Steuermann am Strande in einem Zelt in der Alexandra-Bucht und ließen sich am andern Morgen von Eingeborenen ins Wasser schieben.

Die See war ruhig, und man sah vom Lande aus, wie die beiden Männer endlich ein "Segel" setzten, ein altes Laken. Am Nachmittag verstärkte sich die Brise, und am nächsten Tage tobte ein Nordweststurm, der wahrscheinlich den ersten deutschen Kolonial-Pionier in den Wogen begrub, wenn ihn nicht das noch schrecklichere Schicksal getroffen hat, im Sande der Wanderdünen an der Küste zu verdursten oder erschlagen zu werden.

Es ist ein tragisches Schicksal, daß Lüderitz nicht mehr erlebt hat, wie die reichen Otavi-Minen entdeckt wurden, und daß er nicht ahnte, daß gerade da, wo Vogelsang landete, in der Bucht von Angra-Pequena, die Diamantenlager auf den glücklichen Entdecker warteten!

Wie man auch über die Todesfahrt nach "Lüderitzbucht" – denn so wurde jetzt der erste Landungsplatz genannt – denken mag: so wenig wie sein Leben war auch dieser Tod vergebens. In einer Zeit, wo die koloniale Begeisterung abgeflaut war, war dieses erste Opfer für die erste deutsche Kolonie nicht vergeblich gebracht, und später, als Südwest durch immer neue Tote der Nation ans Herz gewachsen war, wurde sein Name und Schicksal seit dem Raub der deutschen Kolonien ein Symbol. Mit ihm, wie mit dem Namen von Carl Peters, wird für alle Zeit der unverjährbare Anspruch des deutschen Volkes auf die Teilnahme an der Kultivierung und Beherrschung der Welt verbunden bleiben, und niemals wird das großartige Schauspiel vergessen werden, wie der Wagemut einzelner Pioniere und die Weisheit des handelnden Staatsmannes zusammenwirken mußten, um das größere Deutschland jenseits der Meere zu begründen.

Unsere großen Afrikaner: Adolf Lüderitz




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Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz