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XV. Die Angleichung

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Recht
Reichsminister a. D. Dr. Eugen Schiffer (Berlin)

Rechtsangleichung als Mittel internationaler Verständigung • Europas Zerrissenheit nach Versailles • Die österreichisch-deutsche Rechtsangleichung trägt internationalen und nationalen Charakter • Rechtsangleichungsbestrebungen vor dem Weltkriege • Nach dem Weltkriege • Methoden der Rechtsangleichung • Vertrag über Rechtsschutz und Rechtshilfe • Abkommen über Vormundschafts- und Nachlaßwesen • Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht • Soziale Gesetzgebung • Das neue Strafgesetzbuch • Presserecht und Arbeitsvertragsrecht • Staatsbürgerschaftsrecht • Geplantes • Vergleichsordnung • Plan einer umfassenden Justizreform.

Sobald Staaten in anderer als lediglich feindseliger Weise miteinander in Berührung kommen, empfinden sie sehr bald das Bedürfnis, ihre wechselseitigen Beziehungen rechtlich auszugestalten und zu sichern. Dies geschieht zunächst durch Abmachungen und Verträge für Krieg und Frieden. Sie sind im Anfang meist rein völkerrechtlicher Natur, erstrecken sich aber allmählich auf alle möglichen Lebens- und Rechtsgebiete. Sachlich spielen in der ersten Periode politische, späterhin in immer steigendem Maße wirtschaftliche Gesichtspunkte die Hauptrolle. Letztere sind es auch, die im Verlauf der Zeit über den Rahmen der bloß vertragsmäßigen Vereinbarungen hinausdrängen. Je stärker, lebhafter und engmaschiger der Wirtschaftsverkehr zwischen Staaten und Völker wird, desto peinlicher empfindet er die Verschiedenheit der geltenden Rechte als Hemmung, Erschwerung und Gefährdung des durch ihn vermittelten Menschen- und Güteraustausches. Deshalb begnügt er sich nicht damit, daß diese Verschiedenheit durch Verträge überbrückt wird; er verlangt ihre Beseitigung. Er prüft sie daraufhin, ob sie sachlich begründet oder nicht vielmehr nur geschichtlich zu erklären, zufällig oder willkürlich entstanden ist; er geht darauf aus, gegenüber dem tatsächlich gewordenen Recht der einzelnen Nation das übereinstimmende Bedürfnis aller oder mehrerer Nationen nach einem gleichmäßigen rationellen Recht zu betonen. So entsteht das Streben nach Rechtsgleichheit. Neben den Ausbau der zwischenstaatlichen Beziehungen [461] tritt die Vereinheitlichung der Gesetze verschiedener Staaten als Mittel internationaler Verknüpfung durch Rechtsangleichung.

Dieser Prozeß, der in mannigfachen Phasen und Formen schon lange vor dem Weltkrieg begonnen hatte, wurde durch ihn jäh unterbrochen, hat aber nach seiner Beendigung mit gesteigerter Kraft eingesetzt. Das kann nicht wundernehmen. Mußten doch vorerst einmal die zerrissenen Fäden wieder aufgenommen und aufs neue geknotet werden; und solche Arbeit hatte auf einer zu Ungunsten und zu Lasten des Völkerverkehrs veränderten Grundlage zu erfolgen. Denn die staatlichen Verschiedenheiten waren durch die Bildung zahlreicher neuer Staaten noch vermehrt. In Europa gibt es statt früher 26 Staaten jetzt deren 35, 27 Währungen statt 13, 38 Zollgebiete statt 26. Ihre Grenzen stellen nicht weniger als 20.000 Kilometer Zollschranken gegenüber 9000 dar. Sie mußten, wie es in Briands "Memorandum über die Organisation eines Regimes eines europäischen Staatenbundes" heißt, durch die Friedensverträge geschaffen werden, damit den nationalen Bestrebungen Europas Genüge getan würde, bedeuten aber eine entsprechende Menge neuer Wegsperrungen für die Wirtschaft, die sich um so empfindlicher geltend machen, als der Weltverkehr, durch die sich überstürzenden Fortschritte der Technik beflügelt, einen unerhörten Aufschwung genommen hat. Er muß sich noch steigern, wenn die durch den Young-Plan statuierten Verpflichtungen wirklich erfüllt werden sollen. Denn dies kann letzten Endes nur durch vermehrte Herstellung und Lieferung von Sachgütern geschehen. Freilich steht dem die Neigung zu wirtschaftlicher Absperrung entgegen, die teils auf nationalem Selbstbewußtsein, teils auf der durch den Krieg erzeugten ungesunden, weil künstlichen und nicht in natürlichen Verhältnissen begründeten Erweckung neuer Industrien beruht. Aber wenn schon die wirtschaftlichen Schlagbäume nicht weggeräumt werden können, dann will die Wirtschaft wenigstens nicht auch noch über juristische Zwirnsfäden stolpern. So hat denn das letzte Dezennium eine wahre Hochflut politischer und ökonomischer Vereinbarungen gebracht und Rechtsangleichungsbestrebungen gezeitigt, die, frei von jedem naturrechtlichen Illusionismus, aus praktischer Erfahrung und Notwendigkeit heraus auf das Ziel eines Weltrechtes zusteuern. Wechselrecht, Scheckrecht, Post-, Eisenbahn- und Luftverkehrsrecht, Obligationen- und Konkursrecht, Patent- und Musterschutzrecht, Erfinder- und Autorenrecht – diese und manche anderen Rechtsgebiete erhalten [462] eine mehr oder minder lückenlose gemeinsame Prägung, die sich bald auf die gesamte Kulturwelt, bald nur auf einzelne Staatengruppen erstreckt.

In dieses Netz internationaler Rechtsbeziehungen ordnen sich auch Deutschland und Österreich in ihrem Verhältnis zueinander ein. Sie heben sich aus der Masse extensiv und intensiv, durch die Zahl wie durch die Innigkeit der sie verknüpfenden rechtlichen Bande ab. Aber ihre Sonderstellung ist nicht bloß quantitativer Art; sie ist auch von qualitativer Beschaffenheit. Denn sie ist nicht so sehr Ausdruck der Interessen- als vielmehr der Blutsgemeinschaft. Deutschösterreichische Rechtsangleichung trägt gleichzeitig internationalen und nationalen Charakter; und man kann ruhig sagen, daß letzterer überwiegt. An ihrer idealen Grundlage ändert sich auch dadurch nichts, daß wiederum die Wirtschaft, also die Vertreterin materieller Dinge die Führung hat. Für sie gilt nun einmal, was Schiller vom Kaufmann sagt:

... Güter zu suchen
Geht er, doch an sein Schiff knüpfet das Gute sich an.

Man braucht bloß an die Bedeutung zu denken, die vor einem Jahrhundert die Schaffung des Zollvereines für die politische Einigung Deutschlands hatte, um zu erkennen, wie stark oft die Wirkung ist, die die Wirtschaft, selbst unbewußt, über sich und ihr eigenes Gebiet hinaus erzielt. Darum kann es nur begrüßt werden, daß auch auf dem Gebiete der Rechtsangleichung die Wirtschaft aus durchaus gesundem Egoismus heraus vorangeht und den Weg weist; zumal es ihrer ganzen Stoßkraft bedurfte, um ihn frei zu machen.

Rechtsgleichheit liegt nämlich nicht von Haus aus im Wesen der Deutschen. Schon der Begriff des Staates als der rechtlichen Zusammenfassung der Nation lag ihnen so fern, daß ihnen sogar das Wort dafür fehlte; es kam erst im Dreißigjährigen Kriege von Frankreich nach Deutschland. Ihr Konzentrationsbedürfnis endete im Stamme; und ebenso erschöpfte sich ihr Rechtsbildungstrieb, so kraftvoll er auch war, im Stammesrecht. Diese seine zentrifugale Natur wurde ihm zum Verhängnis. Sie trug einen wesentlichen Teil der Schuld daran, daß er durch ein fremdes Recht erstickt wurde, dessen Hauptvorzug gerade darin erblickt wurde, daß es gegenüber den Stammes-, Landes- und Ortsrechten und ihrer Vielgestaltigkeit die Einheitlichkeit [463] repräsentierte, die für den erwachenden Wirtschaftsverkehr notwendig war. Zwar entbehrten jene Sonderrechte keineswegs der gemeinsamen Grundzüge. Sie offenbarten sich überall in den zugleich individualistischen und sozialen Rechtsanschauungen, in der Scheidung unbeweglichen und beweglichen Vermögens, in der Verbindung von öffentlichem und Privatrecht, in der Berücksichtigung von Stand und Beruf, in der Ausgestaltung des ehelichen Güterrechtes und der Erbfolge. Aber gerade im Recht der Schuldverhältnisse, wie überhaupt im gesamten Wirtschafts- und Verkehrsrecht wimmelte es von Verschiedenheiten, die der neuen Zeit und ihren Bedürfnissen unerträgliche Schwierigkeiten bereiteten. Sie trugen mindestens dazu bei, jene rätselhafte Erscheinung heraufzuführen, die man als Rezeption des römischen Rechtes bezeichnet. Nirgends trat sie radikaler auf als in deutschen Landen. Die Rechtseinheit setzte sich hier auf Kosten des nationalen Rechtes durch. Als letzteres, das zunächst nur im usus modernus pandectarum sein Leben fristete, sich stark genug fühlte, um das Joch des fremden Rechtes abzuschütteln, geschah es umgekehrt auf Kosten der Rechtseinheit: Karl Gottlieb Suarez Preußisches Allgemeines Landrecht, Franz v. Zeillers Österreichisches Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch und die anderen deutschen Partikularrechte bedeuten den Sieg des deutschen Rechtes, aber die Niederlage der deutschen Rechtseinheit. Als nach dem nationalen Aufschwung der Freiheitskriege Thibaut beides miteinander verschmelzen und ein einheitliches deutsches Recht geschaffen sehen wollte, unterlag er mit seiner Forderung dem kühlen Widerspruch Savignys. Aber was nationalem Empfinden nicht in großem Schwunge und Wurfe gelang, vollbrachte in schrittweisem Voranschreiten die Wirtschaft. Der Deutsche Bund schuf 1850 ein Wechselrecht, 1863 ein Handelsrecht, das für das ganze, damals noch Österreich mit umfassende Deutschland galt, und war auf dem Wege zu einem einheitlichen Obligationenrecht, als die Politik dazwischen trat und durch den blutigen Schnitt des Jahres 1866 es verhinderte, die angesponnenen Fäden weiter zu spinnen.

Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn, politisch geschieden, entfernten sich auch in ihren Rechtssystemen mehr und mehr voneinander. Unter den Juristen, Theoretikern wie Praktikern, hielt allerdings der Deutsche Juristentag die persönliche Verbindung aufrecht; und in Österreich hatte man noch längere Zeit hindurch das Bedürfnis, sich in seiner Gesetzgebung von Deutschland nicht zu trennen. Schon 1867 brachte die Regierung im Abgeordnetenhause [464] einen Strafgesetzentwurf ein, der, wie die Begründung hervorhebt, "die im Wechsel- und Handelsrecht erreichte und in anderen Zweigen des Rechtes angebahnte Einheit der Gesetzgebung für Österreich und alle übrigen Länder deutscher Bildung und Zunge auch bezüglich des Strafgesetzes anstrebte". Später stand durch volle 26 Jahre eine Regierungsvorlage aus dem Jahre 1874 in parlamentarischer Beratung, der eine Umarbeitung des deutschen Reichsstrafgesetzbuches von 1870 zugrunde lag. Justizminister Glaser brachte bei dieser Gelegenheit das Bedürfnis nach deutscher Rechtseinheit mit schöner Offenheit zum Ausdruck. Aber in Wirklichkeit gingen die Wege der juristischen Gesetzgebung mehr und mehr auseinander. Den Reichsjustizgesetzen trat in Österreich Franz Kleins Zivilprozeßordnung gegenüber, und das Bürgerliche Gesetzbuch für das Deutsche Reich untergrub die Grundlagen für das Handelsgesetzbuch dergestalt, daß auch letzteres neu gestaltet werden mußte. Nur schüchtern wagte sich im März 1909 Professor Sperl als Berichterstatter der Wiener Handelskammer mit seinem Vorschlage hervor, einen Vertrag über wechselweise Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidungen bürgerlicher Gerichte zu schließen, um, auf ihm weiterbauend, zu einer umfassenden Rechtsangleichung zu gelangen. Er wurde, als er im September 1911 auf dem Heidelberger Juristentage wiederholt wurde, freundlich begrüßt, aber nicht weiterverfolgt.

Der Weltkrieg brach aus. Hatte ein Krieg die sich anbahnende Rechtsangleichung ein halbes Jahrhundert vorher unterbrochen, so verhalf dieser Krieg ihr zu neuem Leben. Die todgeweihte Gemeinschaft des Kampfes sollte in den Tagen des Friedens fortgesetzt, die Blutgemeinschaft zur Lebensgemeinschaft, die Lebensgemeinschaft zur Rechtsgemeinschaft entwickelt und ausgebaut werden. Wieder ging die Wirtschaft voran. Im August 1915 beschlossen die Ältesten der Kaufmannschaft in Berlin einen Plan zu entwerfen, um die Vereinheitlichung der auf Handel und Industrie bezüglichen Gesetzgebung Deutschlands und Österreichs zu betreiben, und am 3. Jänner 1916 bekannten sie sich erneut zu der Überzeugung, daß die wirtschaftliche Annäherung beider Staaten unterstützt werden müßte durch eine Annäherung auf dem Gebiete der Gesetzgebung, durch welche die Gesetze, die Handel, Industrie und Verkehr unmittelbar berühren, wie das Handelsrecht, insbesondere das Aktien-, Versicherungs-, Börsen- und Seerecht, die Gesetze über den gewerblichen Rechtsschutz in den betreffenden [465] Ländern möglichst der Vereinigung zugeführt würden. Die Ausführung dieser Aufgabe sollte dadurch vorbereitet werden, daß durch den ehemaligen österreichischen Justizminister Franz Klein das in Betracht kommende Material auf die Möglichkeit der Vereinheitlichung hin kritisch gesichtet, und ein Programm für die Vereinheitlichung selbst aufgestellt würde. Am 8. April 1916 gelangte die ständige Deputation des Deutschen Juristentages auf Grund von Anträgen der Professoren Zitelmann und von Liszt zur einstimmigen Annahme einer Entschließung, in der der Überzeugung Ausdruck gegeben wurde, "daß, entsprechend der von allen Seiten als notwendig erkannten Vertiefung des politischen Bündnisses zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn und der erhofften wirtschaftlichen Annäherung auch eine Vereinheitlichung des Rechtes in möglichst weitem Maße und großzügig geschaffen werden kann und muß... Die Vereinheitlichung ist zunächst in Angriff zu nehmen für das gesamte Handels-, Wechsel- und Scheckrecht, das Schiffahrts-, Versicherungs- und Konkursrecht sowie den gewerblichen Rechtsschutz. Im übrigen bedarf es zuvor einer genaueren Feststellung, wie weit auf dem Gebiete des bürgerlichen, des Straf- und des Prozeßrechtes und darüber hinaus auf anderen Rechtsgebieten eine Rechtsvereinheitlichung unter Berücksichtigung der Verschiedenheiten in den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen durchführbar ist". Unmittelbar darauf traten die Waffenbrüderlichen Vereinigungen Deutschlands, Österreichs und Ungarns zusammen und schufen Rechtsausschüsse, um auch ihrerseits die mit Begeisterung aufgenommene Idee der Rechtsangleichung zu verwirklichen.

Auf die Idee wie auf die Begeisterung fiel der Reif des für die Mittelmächte unglücklichen Kriegsausganges und der für sie vernichtenden Friedensverträge. Aber der Zusammenbruch, der so vieles unter sich begrub, brachte zwar zunächst auch den Plan der deutsch-österreichischen Rechtsangleichung ins Stocken, erwies sich aber sehr bald für ihn geradezu fördernd. Er befreite ihn von Hemmungen, die ihm in der früheren Lage aus der Beschaffenheit der beiden Staaten als unübersteigbare Schranken erwachsen waren. Bisher mußte man ängstlich darauf bedacht sein, die Souveränität jedes der beteiligten Staatswesen zu schonen und selbst den Anschein zu vermeiden, als könnte sie in irgendeinem Punkte angetastet werden. Schon der bloße Verdacht, daß die Rechtsangleichung etwa gar der Vorläufer eines Zusammenschlusses zur Staatseinheit werden könnte, [466] hätte das ganze Werk unweigerlich scheitern lassen. Jetzt lag es gerade gegenteilig. Nach dem Wegfall der Monarchien und der Loslösung Deutschösterreichs aus der staatlichen Verbindung mit nichtdeutschen Nationen ist der Gedanke des vollkommenen Anschlusses und der gänzlichen Verschmelzung mit elementarer Macht erstanden, hat in dem Beschluß der Provisorischen Nationalversammlung in Wien vom 12. November 1918 und in Art. 61 der Weimarer Verfassung seinen Ausdruck gefunden und ist zwar durch den Machtspruch er Sieger der Möglichkeit sofortiger Verwirklichung beraubt worden, aber auf beiden Seiten das Ziel nationaler Sehnsucht geblieben; und dieser Gedanke wirkt anfeuernd und anspornend auf den der Rechtsangleichung. Denn sie ist die Vorbereitung des Anschlusses, die gar nicht entbehrt werden kann, wenn er sich, sobald seine Stunde gekommen, einigermaßen glatt und reibungslos vollziehen soll. Zu sehr haben sich im Laufe der Jahrhunderte die beiden Staaten bis in alle Äußerlichkeiten und Kleinigkeiten hinein auseinandergelebt, als daß nicht ein nicht genügend vorbereiteter Zusammenschluß nach dem ersten Freudenrausch zu allerlei Peinlichkeiten, verdrießlichen Weiterungen und ärgerlichen Reibungen führen müßte. Gewiß soll die Rechtsangleichung keine juristische Dampfwalze sein, die in rücksichtsloser Gleichmacherei alles Recht nivelliert; sie soll tiefere, innerlich begründete Unterschiede schonen; aber sie soll den Schutt beseitigen, den Eigenbrötelei und eigensinnige Absperrung, Unüberlegtheit und Kurzsichtigkeit aufgehäuft haben.

Mit der Begeisterung allein ist es nicht getan. Gefühlswerte sind freilich unentbehrlich; und je länger es dauert, bis sie sich in reale Gestaltung umsetzen, desto notwendiger ist es, alles zu tun, um sie lebendig, die Stimmung aufrechtzuerhalten und die seelische Triebkraft nicht ermüden zu lassen. Kein Mittel aber ist hiezu tauglicher als gemeinsame praktische Arbeit, die in ihrer Nüchternheit der sonst verrauschenden idealistischen Empfindungswelle äußeren und inneren Halt gewährt. So stark jedoch die Impulse sind, die Anschluß- und Rechtsangleichungsbestrebungen sich gegenseitig geben – unlösbar sind letztere mit ersteren keineswegs verknüpft. Die Rechtsangleichung ist vom Anschluß nicht unbedingt abhängig, nicht auf ihn angewiesen, nicht durch ihn bedingt; sie empfängt nicht nur aus ihm Kraft und Bedeutung; sie besitzt ihren Eigenwert. Auch wenn der Anschluß niemals kommen sollte, würde die Rechtsangleichung von wesenhafter Wichtigkeit sein; und auch wer ihn nicht für möglich, ja sogar [467] aus irgendwelchen Gründen nicht einmal für wünschenswert halten sollte, könnte und müßte für die Rechtsangleichung eintreten. Ist sie doch ein Teil der kulturellen Ausprägung der zwischen den Bürgern beider Staaten auch ohne staatliche Einigung bestehenden nationalen Einheit, also ein unzerstörbares Recht, aber auch eine unerläßliche Pflicht eines Volkes, das sich seines Seins bewußt, auf sein Wesen stolz und im Besitz der moralischen Kraft ist, es sich zu wahren und zu erhalten. Hier haben weder die Verträge von Versailles und St. Germain noch das Genfer Protokoll vom 4. Oktober 1922 es gewagt, Schranken aufzurichten und Zäune zu ziehen. Dieser Weg ist frei, und materielle und ideelle Interessen heischen übereinstimmend, ihn zu betreten.

Dies ist denn auch geschehen. Die deutschösterreichische Rechtsangleichung wird betrieben. Vielerlei Mächte sind am Werke beteiligt: die Regierungen, der Volksbund, die Arbeitsgemeinschaft, die Wissenschaft, die Wirtschaft. Über die Methode hat man gestritten. Soll das gesamte Recht in beiden Ländern systematisch auf die Angleichungsfähigkeit durchgeprüft und je nach dem Ausfall dieser Prüfung der Vereinheitlichung zugeführt werden? Eine unmögliche Aufgabe; unmöglich nicht bloß wegen der technischen Schwierigkeiten eines so riesenhaften Unterfangens, sondern auch wegen der unerträglichen Verwirrung, die entstehen müßte, wenn man auf einmal den gesamten Rechtszustand in Frage stellen wollte. Oder soll man nur da, wo in dem einen oder dem anderen Lande ohnedies eine Änderung des geltenden Rechtes beabsichtigt wird, sie benutzen, um sie gleichzeitig und gleichmäßig in beiden Ländern herbeizuführen und insofern allmählich eine Rechtseinheit herzustellen? Wollte man sich hierauf beschränken, so würde die Rechtsangleichung nicht bloß überaus langwierig sein, sondern auch sich ungeregelt und unzusammenhängend entwickeln, so daß die innere Einheit des ganzen Systems Schaden leiden müßte. Eine feinfühlige Kombination beider Methoden von Fall zu Fall dürfte das einzig Richtige und einzig Mögliche sein. Sie wird angewandt.

Überblickt man nun, was auf diese Weise geleistet wird, so gliedert sich der Stoff zwanglos in drei Gruppen. Die erste umfaßt das schon Erreichte, die zweite das bereits in der Arbeit Befindliche, die dritte das nur erst ins Auge Gefaßte. Für alle drei Gruppen gilt das Wort: Geben und Nehmen. Es kann gar keine Rede davon sein, daß etwa Österreich das Deutsche Recht im wesentlichen un- [468] besehen auf sich übertragen könnte. Das wäre nicht bloß psychologisch, sondern auch sachlich verfehlt. Gerade im Recht hat Österreich vielfach Ausgezeichnetes geleistet und kann mindestens volle Gleichberechtigung beanspruchen. Sie muß ohne kleinliches Mäkeln und Feilschen auf beiden Seiten bestehen und geübt werden.

Erreicht sind umfassende Vereinbarungen auf den verschiedensten Gebieten. Von außerordentlicher Wichtigkeit ist der Vertrag über Rechtsschutz und Rechtshilfe vom 21. Juni 1923, der am 14. Juni 1924 in Kraft getreten ist. Einen Vertrag dieser Art hat Deutschland mit keinem anderen Lande abgeschlossen; er geht so weit, als man im Verhältnis zweier selbständiger Staaten zueinander überhaupt gehen kann. Gerichtsurteile und Schiedssprüche werden wechselseitig in einem denkbar einfachen Verfahren anerkannt und vollstreckt, und damit die wichtigsten Voraussetzungen für einen konstanten Wirtschaftsverkehr, insbesondere für die Kreditaktionen geschaffen, ohne die er nicht bestehen kann. In derselben Richtung wirkt der gleichzeitig abgeschlossene Beglaubigungsvertrag, der für gerichtliche und anderweitige behördliche und notarielle Beglaubigungen eine beinahe unbeschränkte Anerkennung gewährleistet. Sehr bewährt hat sich hiebei eine neue Vorschrift, wonach die oberste Justizverwaltungsbehörde jedes der beiden Staaten der anderen auf Ansuchen Auskunft über das in ihrem Gebiet geltende Recht erteilt; eine Bestimmung, die von den Gerichten bereits in zahlreichen Fällen zur Feststellung von sonst schwer zu ermittelnden Rechtsvorschriften nutzbar gemacht wird. Bei der Überfülle und Zersplitterung des Rechtes in beiden Staaten, das durch das Nebeneinander von Reichs-, Landes- und Ortsrecht für den Außenstehenden noch unübersichtlicher wird, ist die Eröffnung dieser authentischen Informationsquelle von nicht zu unterschätzender Bedeutung. – Am 5. Februar 1927 wurden in Wien zwei Abkommen unterzeichnet, das Vormundschafts- und das Nachlaßwesen betreffend, die am 24. Oktober 1927 in Kraft getreten sind. Ersteres bestimmt im wesentlichen, daß für die Zuständigkeit zur Führung einer Vormundschaft über Minderjährige im Verhältnis zwischen Österreich und dem Deutschen Reich nicht die Staatsangehörigkeit, sondern – abweichend von den sonst für die Führung von Vormundschaften über Ausländer geltenden Grundsätzen – der gewöhnliche Aufenthalt des Pflegebefohlenen maßgebend ist. Das Nachlaßabkommen bedeutet vor [469] allem insofern einen Fortschritt, als die Behandlung von Nachlässen der beiderseitigen Staatsangehörigen bisher im Verhältnis zu den einzelnen Ländern des Deutschen Reiches nicht einheitlich geregelt war. Außerdem soll der gesamte Nachlaß, gleichviel, ob er nur bewegliche oder auch unbewegliche Sachen umfaßt, grundsätzlich als Einheit behandelt und der Regelung durch die Heimatbehörden des Erblassers nach seinem Heimatrecht überlassen werden, so daß der Erbe sich nicht mehr an die Behörden zweier Staaten zu wenden braucht und die Anwendung verschiedener Erbrechte entfällt. – Auch die Verhandlungen wegen eines Vertrages über die Sozialversicherung haben zu einem positiven Ergebnis geführt. Er regelt das Gegenseitigkeitsverhältnis in beiden Staaten auf dem Gebiete der Kranken-, Unfall-, Angestellten- und Knappschafts- und Pensionsversicherung und enthält auch Bestimmungen für die Invalidenversicherung, die jedoch erst wirksam werden, sobald in Österreich die Invalidenversicherung in Kraft gesetzt wird.

Auf dem Gebiete des gewerblichen Rechtsschutzes und des Urheberrechtes bestanden zwischen Deutschland und Österreich früher zwei Übereinkommen, das eine vom 17. November 1908, das andere vom 30. Dezember 1899. Beide haben nach österreichischer Auffassung durch die staatsrechtlichen Veränderungen nach dem Kriege ihre Rechtswirksamkeit verloren. Wenn auch ihr Inhalt durch den Beitritt Österreichs zur Pariser und Berner Verbandsübereinkunft (in den Jahren 1909 und 1920) zum Teil gegenstandlos geworden ist, legten doch beide Teile nach dem Kriege großen Wert darauf, den noch praktisch bedeutsamen Bestimmungen der Abkommen wieder Geltung zu verleihen und sie durch Regelung einiger anderer Fragen zu ergänzen, die in der Pariser und Berner Verbandsübereinkunft, den beiden großen Kollektivverträgen auf dem Gebiete des gewerblichen Rechtsschutzes und des Urheberrechtes, noch nicht nach Wunsch zum Abschluß gebracht worden sind. Dies ist gelungen. Am 15. Februar 1930 ist die neue Übereinkunft unterzeichnet und von beiden Staaten auch bereits ratifiziert worden. Sie bringt die Beseitigung des Ausführungszwanges bei Patenten, gewerblichen Mustern und Modellen, indem davon ausgegangen wird, daß es keinen Unterschied begründen soll, ob die Ausführung in Deutschland oder Österreich erfolgt: die Gebiete beider Länder sollen in dieser Hinsicht als ein Land, und zwar hier wie dort als Inland gelten. Ausgeschlossen wird ferner die Entstehung des Vorbenutzungsrechtes für das Prioritätsintervall. Ein Reichsdeut- [470] scher oder Österreicher, der eine Erfindung im anderen Lande mit der Priorität seiner Heimatsanmeldung gemäß dem Unionsvertrag anmelden will, kann also nicht mehr in seinem Patentrecht durch dritte Personen auf Grund angeblicher Benutzung der Erfindung in der Zeit zwischen beiden Anmeldungen im anderen Lande beeinträchtigt werden. Das gleiche gilt für Gebrauchsmuster. Mit rückwirkender Kraft wird die Unabhängigkeit des Schutzes der Marke vom Heimatschutz begründet, den das neue österreichische Markengesetz von Angehörigen aller anderen Staaten verlangt. Dem Interesse vor allem der österreichischen Sensenindustrie dient die Aufrechterhaltung der Bestimmung, daß öffentliche Wappen aus dem Gebiet eines der beiden Staaten in dem anderen nicht als Freizeichen angesehen werden dürfen. Beibehalten ist auch die Vorschrift, daß die reichsdeutschen und österreichischen Urheber auch für solche literarischen und künstlerischen Werke, die sie außerhalb des Gebietes der Berner Union, z. B. in Rußland, zum erstenmal veröffentlichen, Schutz im anderen Lande genießen. Endlich ist in Nachbildung des Art. 3 der Pariser Übereinkunft bestimmt, daß nicht nur die Staatsangehörigen, die in einem der Staaten Wohnsitz oder Niederlassung haben, die Vergünstigungen des Übereinkommens genießen sollen.

So erfreulich diese Einigung ist, so erfüllt sie freilich noch durchaus nicht die gerade auf diesem Gebiete gehegten weitergehenden Wünsche. Die Beschlüsse der im Mai 1928 in Rom abgehaltenen internationalen Urheberrechtskonferenz machen eine Ergänzung des österreichischen Urheberrechtsgesetzes in zweierlei Richtung notwendig. Einerseits muß das sogenannte droit moral, worunter die unveräußerlichen Persönlichkeitsrechte des Urhebers an seinem Werke zu verstehen sind, in das Urhebergesetz eingebaut werden; anderseits bedarf das Recht der rundfunkmäßigen Wiedergabe eines Werkes einer ausdrücklichen Regelung. Daraufhin hatte sich schon im Sommer 1928 Österreich an Deutschland mit der Anregung gewandt, "mit Rücksicht auf die engen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und Österreich auf kulturellem Gebiete und auf dem Gebiete des Verkehrs ein einheitliches Urheberrechtsgesetz für beide Staaten zu schaffen". Die Anregung ist gut aufgenommen, ihr jedoch bisher keine praktische Folge geleistet worden, weil man in Deutschland erst prüft, ob überhaupt ein neues Urheberrechtsgesetz geschaffen werden soll, oder ob man sich nicht mit bloßen Einzeländerungen und Ergänzungen begnügen [471] kann. Nun hat inzwischen Österreich das Gesetz vom 19. Dezember 1929 erlassen, durch das die Schutzfrist für Werke der Literatur und Kunst, soweit sie am 31. Dezember 1929 oder 31. Dezember 1930 endet, bis 31. Dezember 1931 verlängert wird. Es schafft ein Provisorium, im wesentlichen mit Rücksicht auf die Werke des am 3. Juni 1899 verstorbenen Komponisten Johann Strauß. Einer endgültigen Regelung der vielumstrittenen Frage einer Verlängerung der dreißigjährigen Schutzfrist sollte damit nicht vorgegriffen werden. Im Gegenteil betonte der Bericht des Justizausschusses an den Nationalrat ausdrücklich, daß die Bande, die im Bereiche des gesamten Geisteslebens zwischen Österreich und dem Deutschen Reiche bestehen, ein einseitiges Vorgehen Österreichs in der für die kulturelle Entwicklung des ganzen deutschen Volkes so wichtigen Frage der urheberrechtlichen Schutzfrist ausschließen. Er schlug deshalb folgende Entschließung vor, die auch die Zustimmung des Nationalrates fand: "Die Bundesregierung wird aufgefordert, bei der durch die Beschlüsse der im Jahre 1928 in Rom abgehaltenen Urheberrechtskonferenz notwendig gewordenen Reform des österreichischen Urheberrechtes im Einvernehmen mit der deutschen Reichsregierung vorzugehen, um hiedurch die Schaffung inhaltlich übereinstimmender Urheberrechtsgesetze in der Republik Österreich und im Deutschen Reich herbeizuführen." Übrigens war es schon in der Begründung zu der Urheberrechtsnovelle vom 13. Juni 1920 als naheliegend bezeichnet worden, in erster Linie sogar an die Übernahme des Deutschen Rechts zu denken; jedenfalls müsse es das Ziel sein, zu einer vollkommen gleichförmigen Urheberrechtsgesetzgebung zu kommen. Es ist damals und auch heute noch nicht erreicht worden, obgleich in den Grundfragen des materiellen Rechtes schon jetzt vielfach volle Übereinstimmung besteht, die allerdings hie und da durch die Rechtsprechung wieder gestört ist. Insbesondere ist die Verbreitung durch den Rundfunk ohne Zustimmung des Autors vom Reichsgericht für unzulässig, vom Obersten Gerichtshof in Wien für zulässig erklärt worden; und nicht minder drängen die noch offenen Fragen, wem das Urheberrecht am Film zuzugestehen ist, und wie es um die rechtliche Natur des Tonfilms steht, nach einheitlicher Beantwortung.

Eine wirkliche Rechtsangleichung ist hingegen durch das österreichische Gesetz vom 16. Februar 1928 erfolgt, durch das eine Reihe von Bestimmungen, insbesondere über den Begriff des Kaufmanns und die Unterscheidung von Voll- und Minderkaufleuten mit Wirkung vom [472] 1. April 1928 ab aus dem Deutschen Handelsgesetzbuch in das österreichische übernommen worden sind. Hiebei wurde im Bericht des Justizausschusses des Nationalrates ausdrücklich festgestellt, daß "die volle Übernahme der seit 27 Jahren in Geltung stehenden bewährten Vorschriften des Deutschen Handelsgesetzbuches nicht nur einen erheblichen Fortschritt auf dem Gebiete der Rechtsangleichung zwischen Österreich und dem Deutschen Reich bedeutet, sondern den Vorteil bietet, daß damit für die österreichische Praxis die reiche deutsche Literatur und Rechtsprechung nutzbar gemacht wird". – Sodann ist das bedeutsame Gebiet des Eisenbahnverkehrsrechtes in beiden Staaten übereinstimmend geregelt und zugleich die Grundlage für eine einheitliche Eisenbahnverkehrsordnung gelegt worden. – Durch Bundesgesetz vom 2. Juli 1929 über Änderung des gerichtlichen Verfahrens (6. Gerichtsentlastungsnovelle) hat Österreich in engster und bewußter Anlehnung an die deutsche Gesetzgebung das Gebiet der Kleinen Justizreform, also der Übertragung bisher richterlicher Geschäfte auf befähigte Fachbeamte der Gerichtskanzlei, unter Überwindung heftiger Widerstände, besonders aus richterlichen Kreisen, weiter ausgedehnt. – Endlich ist die jüngst verabschiedete Reform der österreichischen Verfassung in wesentlichen Punkten, vornehmlich in Ausgestaltung der Rechtsstellung des Bundespräsidenten, dem deutschen Vorbild gefolgt.

Aus der Masse des werdenden Gemeinschaftsrechtes ragt das Riesenwerk des neuen Strafgesetzbuches hervor, an das sich im Oktober 1921 der reichsdeutsche Ministerialdirektor Dr. Bumke und der Wiener Professor Graf Gleispach nach eingehender Erörterung herantrauten. Es war ein Wagnis. Gerade das Gebiet des Strafrechtes war die längste Zeit hindurch als eines derjenigen betrachtet worden, die nach ihrer ganzen Beschaffenheit und ihrer engen Verknüpfung mit eingewurzelten Sonderanschauungen und Rechtsgewohnheiten der Rechtsangleichung am wenigsten zugänglich seien. Der Deutsche Juristentag hatte erst nachträglich und zögernd am 21. Mai 1916 das Strafrecht in ihren Kreis einbezogen; und selbst Wilhelm Kahl, der jetzt die Schaffung des gemeinsamen Werkes als die Krönung seiner Lebensarbeit betrachtet und mit unermüdlicher Hingabe, diplomatischer Geschicklichkeit und zäher Energie betreibt, hatte ursprünglich es für nötig gehalten, "den Wein der Begeisterung für Strafrechtseinheit mit Wasser zu vermischen", weil man in den Bestrebungen nach Rechtseinheit nicht wesentlich über Wirtschafts- und Verkehrswesen, [473] beide allerdings im weitesten Sinne gedacht, werde hinausschreiten können. Aber bei dem Zusammenwirken zwischen den Vertretern der beiden Staaten, die diesen – für Deutschland siebenten – Strafrechtsentwurf aufstellten, ergab sich, daß über die großen Ziele der Reform eigentlich bereits seit langem beiderseitiges Einverständnis bestand. Mit Genugtuung stellt dies die Begründung des Entwurfes fest und fährt fort: "Daß es gelungen ist, auch in den Einzelheiten, insbesondere in der Abgrenzung der einzelnen Tatbestände, zu einer Übereinstimmung zu gelangen, ist ein schönes Zeichen dafür, wie sehr die sittlichen Grundanschauungen in den beiden Bruderländern übereinstimmen. Gewiß bringt die Rechtsangleichung es mit sich, daß beide Teile auf manche hergebrachte Einrichtung, auf den einen oder anderen überlieferten Ausdruck verzichten müssen; das Opfer ist gering, gemessen an dem hohen Ziele, der Praxis und der Wissenschaft in beiden Ländern eine einheitliche Grundlage und der kulturellen Gemeinschaft der deutschen Stämme einen sichtbaren Ausdruck zu geben." Der nationale Schwung, der in diesen Worten liegt, übertrug sich auch auf die parlamentarische Behandlung des Stoffes, und es zeigte sich, daß er geeignet war, über manche Schwierigkeit hinwegzuhelfen, die mit juristischen Gesichtspunkten allein vielleicht kaum zu überwinden gewesen wäre. Er trat am stärksten in den deutschen und österreichischen parlamentarischen Strafrechtskonferenzen zutage, in denen sich ganz offiziell Vertreter des deutschen Reichstages und des österreichischen Nationalrates trafen, um je nach dem Fortgang der Verhandlungen in beiden Körperschaften eine tunlichste Übereinstimmung der Ergebnisse zu sichern. In den fünf Konferenzen dieser Art, die abwechselnd in Deutschland und in Österreich stattfanden, wurde dieses Ziel fast vollständig erreicht. Auf solche Weise konnte die erste Lesung des Entwurfes in erfreulichster Harmonie beendet und in die zweite Lesung eingetreten werden, die – ein Beweis für die sorgfältige Arbeit der ersten – rasch vorwärts kommt. Zwar liegt noch eine ganze Reihe wichtiger Fragen vor, deren Nachprüfung sich der Reichstagsausschuß und die Reichsregierung ausdrücklich vorbehalten haben. Aber je weiter die Arbeit fortschreitet, desto stärker wird die Empfindung, daß sie nicht vergeblich aufgewendet sein darf, und daß sie vor allen Dingen aus nationalen Gründen zu einem positiven Ende gebracht werden muß, weil andernfalls die nationalen Schäden die juristischen weitaus überwiegen würden.

Das gleiche gilt für das der parlamentarischen [474] Behandlung harrende Strafvollzugsgesetz als notwendige Ergänzung des Strafgesetzbuches. In gemeinsamer Bearbeitung der beiden Regierungen befinden sich sodann das Presserecht und das Arbeitsvertragsrecht, während das Tarifvertragsrecht von den Rechtsausschüssen der deutschen und der österreichischen Arbeitsgemeinschaft unter Mitwirkung von Regierungsvertretern gestaltet wird. Diese Mitwirkung wird auch den Arbeiten zuteil, die eine aus Vertretern der Rechtsausschüsse und der beiderseitigen Handelskammern paritätisch zusammengesetzte Kommission dem Konkursrecht, der Vergleichs- (Ausgleichs-) Ordnung und dem Offenbarungseidverfahren widmet. Sie werden von hervorragenden Vertretern der juristischen Wissenschaft und der Praxis sowie des Wirtschaftslebens geleistet und stehen kurz vor dem Abschluß.

Rechtsangleichungspläne endlich beziehen sich gleichfalls auf fast alle Teile des Rechtssystems. Man wünscht ein gemeinsames Staatsangehörigkeitsrecht oder ein deutsches Volksbürgerrecht mit der Folge, daß die beiderseitigen Staatsangehörigen, falls sie ihren Wohnsitz im Gebiet des anderen Teiles haben, dort auch für letzteren aktiv und passiv wahlberechtigt werden. Dieser Vorschlag hat sich bereits zu einem Antrag im Deutschen Reichstag verdichtet (Drucks., III. Wahlperiode, Nr. 3629), der den in Deutschland niedergelassenen Österreichern einen Anspruch auf Einbürgerung geben will. Anderseits hat der österreichische Nationalrat zum zweitenmal eine Entschließung auf Angleichung des heillos zer- und verfahrenen österreichischen Eherechtes an das deutsche angenommen. Der Deutsche Reichstag wiederum faßte eine Entschließung, die Reichsregierung zu ersuchen, mit Österreich über die Ausfuhr deutscher Kunstwerke in Verbindung zu treten mit dem Ziele, eine Übereinkunft im Sinne einer möglichst umfassenden Erhaltung des gesamtdeutschen Kunstbesitzes zu erzielen. Auf strafrechtlichem Gebiete erwägt man die Schaffung eines gemeinsamen Militärstrafgesetzbuches, auf wirtschaftlichem Rechtsangleichung für Aktienrecht, Kartellrecht und Haftung von Großverkehrsmitteln. Auch ein Rechtshilfeabkommen in Verwaltungssachen ist angeregt.

Freilich stehen diesen Gewinnposten auch Verlustkonten gegenüber. Als Deutschland seine Vergleichsordnung vom 5. Juli 1927 erließ, beklagte man sich in Österreich darüber, daß dies ohne ausreichende Fühlung mit ihm und in einer von der österreichischen Ausgleichsordnung sehr abweichenden Form geschehen sei. Von [475] deutscher Seite wurde demgegenüber betont, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse in beiden Ländern ganz verschieden gelagert seien und eine einheitliche Lösung unmöglich machten. Österreich hat darauf jetzt mit einem Entwurf geantwortet, der sich als eine Novelle zu seiner Ausgleichsordnung darstellt und Wege einschlägt, die sich zwar zum Teil den deutschen Einrichtungen nähern, zum anderen aber sehr erheblich von ihnen wegführen. Damit wird zugleich die gemeinsame Arbeit der Juristen und Wirtschaftler auf diesem Gebiete durchbrochen und bedroht. Es ist nur zu wünschen und zu hoffen, daß diese Arbeit hinreichend beschleunigt wird, um den österreichischen Sonderschritt zu verhüten. Österreich klagt aber auch darüber, daß Deutschland das Recht der unehelichen Kinder und der Adoption einseitig neu regeln will. Am meisten verstimmt ist es über die Inangriffnahme einer Zivilprozeßreform durch das Reich allein; es hätte ähnlich wie bei der Strafrechtsreform von Anfang an mit Österreich Hand in Hand gehen sollen. Die Regierungen haben sich schließlich dahin geeinigt, daß die Gemeinschaftsarbeit sofort nach der Veröffentlichung des in Vorbereitung befindlichen deutschen Referentenentwurfes beginnen soll.

Um alle diese gesetzgeberischen Akte und Versuche ranken sich, sie umrahmend, unterstützend und fördernd, Maßnahmen anderer Art. Das preußische Justizministerium zieht zu seinen Konferenzen ihrer Justizverwaltung Vertreter Österreichs zu. Die juristische Literatur wendet sich mehr und mehr der Rechtsvergleichung zwischen deutschem und österreichischem Recht zu, indem sie dabei deutlich auf das Ziel lossteuert, die aufgedeckten Verschiedenheiten zu überwinden. Diese Bestrebungen werden durch die Universitäten unterstützt, indem zum Teil eigene Vorlesungen ähnlichen Inhalts gehalten, zum anderen Teil Fragen dieser Art im Rahmen anderer Vorlesungen berührt und erörtert werden. Auch werden Themen zu Doktordissertationen gern unter solchen Gesichtspunkten ausgewählt. Bibliotheken werden zusammengestellt und ergänzt zu dem Zwecke, den Einblick in das Recht des anderen Teiles zu vermitteln, und Studienreisen veranstaltet, um Gelegenheit zu geben, dieses Recht nicht bloß theoretisch zu studieren, sondern auch in seiner praktischen Handhabung zu beobachten. Dem gleichen Zweck dient der Austausch von Beamten, durch den außerdem ebenso wie bei gemeinsamen Tagungen des Deutschen Juristentages und anderer Kongresse die persönliche Fühlungnahme zwischen den am Rechts- [476] leben führend beteiligten Personen und Ständen vermittelt wird. Dies ist von größter Bedeutung, weil die Erfahrung lehrt, daß selbst bei gleichem Wortlaut der Gesetze ihre Ausübung vielfach ein ganz verschiedenes Gesicht zeigt. Deshalb genügt es nicht einmal, wenn die Rechtsangleichung bis zur wörtlichen Übereinstimmung der Gesetze fortschreitet und sich nicht mit dem bloß Sachlichen, also mit der Rechtsannäherung begnügt. Das tut allerdings auch not. "Zur raschen Abwicklung des Eisenbahnverkehrs", sagt mit Bezug hierauf ein geistreicher Wiener, "von einem Staate in den anderen genügt nicht, daß die Schienenweite nur annähernd die gleiche ist; sie muß vollständig gleich sein, soll sich der Verkehr reibungslos entwickeln." Aber es muß auch dafür Sorge getroffen werden, daß die Auslegung des gemeinsamen Wortlautes gemeinsam bleibt, und hiefür sind persönliche Zusammenkünfte sehr geeignet und so lange erforderlich, als nicht dauernde Einrichtungen geschaffen werden, die die Erhaltung der Rechtseinheit sichern. Man wird nach Verabschiedung des neuen Strafgesetzbuches gerade nach dieser Richtung hin Vorsorge treffen müssen, weil sonst die Praxis der Gerichte die Erfolge der Gesetzgebung sehr leicht wieder aufheben kann. Aber auch andere Gebiete, wie z. B. das des Urheberrechtes, würden einen guten Boden für Besprechungen abgeben, die etwa von den Richtern der beiderseitigen höchsten Gerichtshöfe von Zeit zu Zeit abgehalten werden könnten.

Darüber hinaus ist nicht zu vergessen, daß am Horizont des Deutschen Rechts der Plan einer umfassenden Justizreform aufgetaucht ist. Wird sie in Angriff genommen, wie es der Reichstag wünscht, dann sollte dies nicht geschehen, ohne daß sofort Österreich herangezogen wird. Seine reichen Erfahrungen würden der großen Sache sehr zugute kommen und dazu beitragen, daß die Rechtsangleichung den Charakter hätte, den ihr Franz Klein wünschte: einer Rechtsangleichung nach oben. Sie würde der deutschen Rechtsentwicklung einen wunderbaren Aufschwung verleihen, der wiederum der nationalen Entwicklung des deutschen Volkes zugute käme. So behält der große österreichische Reformator recht, wenn er den Juristen hüben und drüben zuruft, es sei ein Augenblick gekommen, wo auch sie Geschichte machen können – aber sie sollten ihn nicht versäumen!


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Die Anschlußfrage
in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung

Friedrich F. G. Kleinwaechter & Heinz von Paller