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[436] XIII. Minderheitenproblem und Anschlußfrage
Dr. med. et phil. Camillo Morocutti (früher St. Egydi bei Marburg a. d. Drau, dzt. Graz)

Fragen der Minderheiten und des Anschlusses vor allem Fragen des Rechtes, der Kultur und Gesittung • Zersetzung des abendländischen Rechtsbegriffes • Das Selbstbestimmungsrecht ist der Ausdruck des mechanisch und individualistisch erfaßten Nationalismus • Der synthetische Formungswille die treibende Kraft der Anschluß- und europäischen Minderheitenbewegung • Ziel des Anschlusses: Verwirklichung der deutschen Volksgemeinschaft im deutschen Volksstaat • Zusammenhang zwischen Anschlußfrage und Minderheitenproblem • Bedeutung der nationalen Minderheiten für das Stammvolk • Kulturautonomie • Der Anschluß der erste große Schritt zur Vereinheitlichung Europas • Die Anschlußbewegung verfolgt keine machtpolitischen Ziele • Die Minderheitenfrage im Reich und in Österreich • Nicht Kampf um die Vormachtstellung in Europa, sondern um den Erhalt Europas.

In der Einstellung der heutigen europäischen Machthaber zur Anschlußfrage und zum Minderheitenproblem offenbart sich eine Denkart, die nicht nur den Interessen des deutschen Volkes und der Minderheitsvölker, sondern auch den wahren Interessen Europas entgegengesetzt ist. Die unrichtige Behandlung dieser beiden Rechts- und Kulturfragen hat wesentlich dazu beigetragen, die seit Versailles erschütterte Geltung Europas als Rechts- und Kulturzentrum der Welt fortschreitend zu vermindern. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum der Führer Europas, daß sie das Minderheitenproblem und die Anschlußfrage ausschließlich als politisches Problem und als Machtfrage behandeln.

Die Fragen der Minderheiten und des Anschlusses sind nicht in erster Linie Fragen der Macht und Politik, sondern vor allem Fragen des Rechtes, der Kultur und Gesittung. Denn täuschen wir uns nicht: die Weltgeltung des abendländischen Kontinents war seit je gegründet in seiner Geistigkeit und Kultur, in der sittlichen und geistigen Dynamik des abendländischen Menschen, mit der er das reale Leben in Wirtschaft, Volk und Staat, über die Grenzen Europas hinauswirkend, durchdrang und gestaltete.

Das Debakel Europas im Jahre 1918 und in all den nachfolgenden Kriegsjahren war nicht so sehr ein Zusammenbruch der europäischen Kriegsmacht, der europäischen Wirtschaft und Technik, sondern vor allem ein Zusammenbruch des europäischen Geistes, der europäischen Kultur.

[437] Erst durch die Besiegung und Zersetzung des abendländischen Rechtsempfindens, des heroischen abendländisch-nordischen Geistes – durch den sieghaften Einbruch östlichen Hordengeistes, durch die Kollektivierung der Volksmassen und Nationen bei gleichzeitiger Demokratisierung und Mechanisierung vom großkapitalistischen Westen her, erst durch diesen Zusammenprall und dieses Sichfinden einander wesensfeindlicher, aber im Grunde antieuropäischer Mächte in Versailles –, erst dadurch wurde die Weltstellung und Weltgeltung Europas endgültig gebrochen. Darum wird nicht von der Wirtschaft und nicht von der Politik her, die ja größtenteils europäischer Führung entglitten, sondern nur von seinen wesenhaften Rechts- und Kulturgrundlagen aus Europa neu erbaut werden.

Das Wesenhafte Europas aber ist – trotz wundervoller Differenzierung durch Völker, Kulturen und Sprachen – seine organische Einheit. Diese Verbundenheit der europäischen Völker, Wirtschaften und Kulturen zu einer kontinentalen Einheit entspricht dem Wesen des abendländischen Menschen, der in der Synthese von Individualismus und Universalismus seine Erfüllung und Vollendung findet.

Versailles und die Nachkriegsjahre sind die Gipfelung des nationalen Individualismus, die Zeit einer mechanischen Zerfällung Europas. Seit Versailles erfolgte eine künstliche Herausstellung von Nationen, Kleinvölkern und Splittervölkern aus den natürlichen und gewachsenen Zusammenhängen, eine forcierte Auflösung Europas in Mittel- und Kleinstaaten, die man aus lebendigen volklichen und wirtschaftlichen Bindungen rücksichtslos herausschnitt.

Will Europa als Einheit und wollen die europäischen Völker und Staaten in einer ihren differenzierten Kulturen und ihren hohen Werten entsprechenden würdigen Lebensform bestehen, dann muß Europa aus der nationalistischen und individualistischen Zerfällung herausfinden zu einer synthetischen und organischen Gestaltung seiner Lebensnotwendigkeiten. An Stelle einer atomistischen Trümmerpolitik im Staaten- und Völkergefüge muß eine Politik der Erschließung, der Ergänzung und Zuordnung von Volk zu Volk, von Staat zu Staat einsetzen. Die Politik der Zangenverträge, der nationalen, wirtschaftlichen und kulturellen Abschließung und Einschließung muß ersetzt werden durch eine ergänzende Nachbarpolitik, durch eine Politik der natürlichen Bindung. Diese Völker- und Staatenbindung hat aber nichts mehr mit Machtpolitik [438] im bisherigen imperialistischen Geiste zu tun, sondern ist schöpferische Rechtsgestaltung und Befriedungsarbeit im europäischen Lebensraum.

Nur von dieser grundsätzlichen Einstellung aus können das Minderheitenproblem und die Anschlußfrage in ihrer Bedeutung für den Aufbau und die Befriedung Europas richtig beurteilt und richtig gelöst werden. Die Behandlung dieser beiden Fragen von nur machtpolitischen Gesichtspunkten, im Geiste einer nationalistischen Zerfällungspolitik, im Sinne eines aufgepeitschten nationalistischen Individualismus führt auf Abwege und Irrwege, die für die Lösung des gesamteuropäischen Problems verhängnisvoll werden müssen.

Dabei ist die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht in diesen beiden Fragen gar nicht das Wesentliche und Richtige. Das Selbstbestimmungsrecht Wilson–Masarykscher Prägung ist der Ausdruck des mechanisch und individualistisch erfaßten Nationalismus, der bindungslos und traditionslos für alle und für jeden gilt. Dieses Selbstbestimmungsrecht entspringt der Theorie des nationalen Liberalismus und der nationalen Gleichheit, es hat dieselben ideellen Voraussetzungen wie die Lehre von der sozialen Gleichheit und führt in seiner konsequenten Verwirklichung zur nationalen Gleichmacherei, zur unterschiedslosen Kollektivierung nationaler Gruppen und Grüppchen. Diese atomistische Erfassung der Volkstumsprobleme in Europa widerspricht der Wesensstruktur des europäischen Völkergefüges, das nur in organischer Bindung und Ergänzung bestehen kann und sich trotz voller Wahrung völkischer Eigenart zu einer Einheit entwickeln muß.

Wilsons Selbstbestimmungsrecht entbehrt durchaus des für europäische Völker lebensnotwendigen synthetischen Prinzips. Man könnte heute eine ganze Reihe europäischer Kleinvölker anführen, die sich durch die mechanische Selbstbestimmung Wilsons keineswegs in ihrer nationalen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung selbstbestimmt oder gar befreit fühlen. Manche von ihnen würden die früheren Bindungen wiedereingehen, da durch diese Verbindungen die Wirtschaft und die Kultur ihrer Völker ganz anders befruchtet und befähigt wurde, als durch die Fiktion eines Selbstbestimmungsrechtes, das in Europa mit seiner Durchwachsung und Verzahnung der Völker nicht verwirklicht werden kann.

Der synthetische Formungswille ist die treibende Kraft der deutschen Anschlußbewe- [439] gung und der europäischen Minoritätenbewegung. Sind es doch vor allem die europäischen Minderheitsvölker und ist es doch das besiegte deutsche Volk, die an ihren eigenen lebendigen Volkskörpern die verstümmelnden Methoden der volklichen Abschnürung und Amputation, der nationalen Einkreisung und Aufsaugung, der wirtschaftlichen Drosselung und Zerreißung schmerzhaft genug erlitten. Es ist der mächtige und unaufhaltsame Lebenswille dieser Völker und Volksteile, der sie zwingt zur Gestaltung der ihnen entsprechenden Lebensformen für ihr Volkstum, ihre Wirtschaft und ihre Kultur. Es ist aber nicht ein beengtes, eigensüchtiges nationalistisches Prinzip gewalttätiger Lebenserhaltung, sondern das organische Prinzip universaler und synthetischer Lebensformung, das diese zurückgesetzten Völker bewegt. Dieser Gestaltungswille reicht über die einzelnen Völker und Volksteile hinaus und weitet sich zur verbindenden Form der werdenden europäischen Einheit.

Darum ist es auch unrichtig, den Anschluß als die Verwirklichung des deutschen Nationalstaatsgedankens zu werten und damit den Anschluß in eine Linie mit den durch die Friedensdiktate kreierten individualistischen Nationalstaaten zu stellen.

Das Ziel des Anschlusses ist nicht die Schaffung eines deutschen Nationalstaates westlerischer Prägung, sondern die Verwirklichung der deutschen Volksgemeinschaft im deutschen Volksstaate. In dieser Verwirklichung liegt die Erfüllung des deutschen Staatsgedankens, der im deutschen Idealismus und Universalismus wurzelt.

Diese universalistische und idealistische Erfassung von Volkstum und Staat ist wertvollstes Gedankengut und Lebensgut nicht nur des deutschen Volkes, sondern der nordisch-abendländischen Völker. Im deutschen Volke offenbart sich – trotz vielfacher und künstlich von außen hineingetragener Splitterung – immer dieser Gestaltungswille zu einem weiten und erschlossenen Gemeinschaftsleben. Im großen deutschen Kaisergedanken, der im heiligen römischen Reich deutscher Nation seine wundervolle Verwirklichung fand, gestaltet sich diese erste europäisch-deutsche Synthese! Und immer wieder tritt dieses Einigungsstreben bei den verschiedenen abendländischen Völkern, allerdings in verschiedener Form, in Erscheinung, und es ist kein Zufall, daß es die deutsche Einheitsbewegung des 19. Jahrhunderts ist, die zum Vorbild nationaler Einigungsbestrebungen bei allen anderen europäischen Völkern wird. Ebenso ist es aber auch [440] kein Zufall, daß das deutsche Volk seinem Wesen gemäß, fremden und in ihren Zielen nicht immer eindeutigen Außenmächten gefügig nachfolgt, wenn die Verheißungen dieser Mächte irgendwie und wenn auch nur scheinbar dem universalistischen und idealistischen deutschen Denken entgegenkommen. Die Ideen der französischen Revolution und Napoleons Europapläne haben den Deutschen seinerzeit ebenso bestrickt wie Wilsons 14 Punkte, Coudenhove–Briands Paneuropapläne, oder wie gegenwärtig die Gemeinschaftsbewegung des Faschismus den deutschen Menschen anzieht.

Der Wilson–Masaryksche Nationalstaatsgedanke entspricht nicht dem organischen deutschen Staatsdenken. Der Anschluß ist auch keine Schöpfung der Nachkriegszeit, – sondern die letzte Ausdrucksform des immanenten, gewachsenen und gewordenen Einigungswillens des deutschen Volkes. Es liegt ein Unrecht und ein Widersinn sondergleichen darin, daß dem deutschen Volke die Erfüllung seiner volklichen und geschichtlichen Sendung im europäischen Völkerraume von sieghaften, aber antieuropäischen Mächten verwehrt wird, während anderen gar nicht einigungswilligen und einigungsbedürftigen Völkern ihre nationale Kollektivierung geradezu aufgezwungen wird. Diese kollektivistische Zwangslösung der volklichen Probleme in Europa steht in krassem Gegensatz nicht nur zur Wesensstruktur der europäischen Völker, sondern auch zur Wirtschaftsstruktur des europäischen Kontinents.

Die Anschlußbewegung entspringt dem Willen des deutschen und österreichischen Volkes zur deutschen Volksgemeinschaft. Dieser Gemeinschaftswille ist gegründet in der gemeinsamen Kultur, im gemeinsamen Schicksal und in dem einheitlichen Volkstum der Deutschen. Heimat, Väterglaube und Volkstum sind die bindenden und tragenden Kräfte, die die Vereinigung des deutschen Volkes im zwischeneuropäischen Völkerraum fordern und formen. Notwendig steht diese Bewegung im Gegensatz zu denjenigen Mächten, die traditionslos, bindungslos und heimatlos Europa mechanisch zerteilen und desorganisieren.

Die Anschlußbewegung ist eine geistig-kulturelle Bewegung, die das Recht des deutschen Volkes auf die wesensgemäße Formung seiner Schicksals-, seiner Kultur- und Volksgemeinschaft verwirklichen will. Dadurch wird diese Bewegung zur Trägerin – nicht etwa des mechanischen Selbstbestimmungsrechtes –, sondern zur Trägerin des organischen Lebensrechtes eines Volkes auf sein wahres [441] und ihm gemäßes Eigenleben in der ihm zugewachsenen volklichen Lebensform.

So vergeistigt und verwirklicht sich in der Anschlußbewegung der Wille zum volklichen Recht schlechthin. Dieser Wille zum volklichen Recht ist nicht Politik, sondern ist vielmehr, ist in seiner Tatwerdung Verwirklichung ewigen Rechtes, schöpferische Rechtsgestaltung und dadurch Aufbau, Ordnung, Befriedung.

Es hieße die Augen vor der Wirklichkeit verschließen, wollte man den tiefinnerlichen geistigen, kulturellen und rechtlichen Zusammenhang zwischen Minderheitenfrage und Anschlußproblem übersehen. Aber es hieße noch vielmehr die zukunftsgestaltende Bedeutung dieser realen geistigen Mächte verkennen, würde man – wie es zum Schaden aller europäischen Völker noch immer geschieht – den Zusammenhang dieser Kultur- und Rechtsfragen nur politisch bewerten.

Der Kern der Minderheitenfrage und des Minderheitenschutzes ist die Forderung nach der nationalkulturellen Entwicklungsfreiheit. Diese kann nur gesichert werden durch die Anerkennung des Rechtes auf volkliches und kulturelles Eigenleben der Minderheit. Das nationalkulturelle Eigenleben und Gemeinschaftsleben der Minderheiten ist in den demokratischen Nationalstaaten nur sehr mangelhaft geschützt.

Die politischen Führer der Nationalstaaten haben bisher den großen vermittelnden und verbindenden Wert andersnationaler, in ihrem nationalkulturellen Gemeinschaftsleben gesicherter Volksgruppen für ihr eigenes Volkstum und ihren eigenen Staat noch nicht erkannt. Sie glauben vielfach, durch eine Aufsaugung dieser Volksgruppen ihren eigenen nationalen Interessen am besten zu dienen. Sie sehen noch nicht, daß diese nationale Gleichmacherei in ihrem Wesen und ihren Methoden in nichts verschieden ist von der sozialen Gleichmacherei und daß die Entnationalisierung, das heißt die Zerstörung volklichen und kulturellen Besitztums, die Vernichtung nationalen Gemeinschaftslebens in Wirklichkeit nichts anderes ist als nationaler Bolschewismus. Sie sehen auch nicht, daß sie durch diese Zerstörung nationaler Kulturgemeinschaften und Lebensgemeinschaften die Existenzgrundlagen Europas unterwühlen, denn sie öffnen dadurch allen gemeinschaftsfeindlichen Mächten Tür und Tor. Das europäische Völkergefüge kann auf die Dauer [442] nur durch Bindung und Ergänzung, keinesfalls aber durch Zerfällung und Auflösung bestehen.

Hingegen erkennen die verantwortungsbewußten Führer der europäischen Minderheitsvölker, daß ihre Aufgabe nationale Erschließung und Vermittlung ist. Dieser Aufgabe können sie nur gerecht werden, indem sie ihr volkliches Leben und ihre nationale Kultur erhalten, – nicht indem sie im Mehrheitsvolk aufgehen und sich gleichmachender Assimilierung preisgeben. Nationale Assimilation ist Zerstörung des Gemeinschaftslebens einer Minderheit, ist Mißachtung und Verletzung des Rechtes auf Volksgemeinschaft.

Befriedete Minderheiten sind die natürlichen Bildner zu nationaler Annäherung und völkischer Verständigung. Sie sind die Brückenbauer von Volk zu Volk und dadurch rückwirkend von Staat zu Staat. Darum ist es klar, daß befriedigte auslandsdeutsche Volksgruppen die Werber sind, berufen, die Sympathien ihres Muttervolkes für das Wirtsvolk zu wecken, bei dem sie gastlich geachtet in ihrer nationalen und kulturellen Eigenart ungefährdet leben.

Es ist eine sehr kurzsichtige Politik nationalstaatlicher Führer, durch eine geringachtende und harte Behandlung ihrer Minderheiten die besten und beredten Anwälte bei ihren Stammvölkern zu Verfolgten, Märtyrern und Anklägern zu machen.

Kein Volk, dem wie dem deutschen, Volksgemeinschaft, Schicksalsgemeinschaft und Kulturgemeinschaft unveräußerliche Werte bedeuten, kann und darf seine in der Fremde lebenden Volksteile vergessen. Solches Vergessen wäre Selbstverstümmelung eines Volkes. Die Minderheiten eines Stammvolkes sind ein unschätzbarer Wert, sie sind die feinen Nervenendigungen, die Gefühlsorgane, die dem Muttervolk Abneigung, Gefahr und Schmerz, aber ebenso Wohlwollen, Zuneigung, Freundschaft rascher, sicherer und wahrer vermitteln als offizielle diplomatische Vertretungen. Minderheitsvölker sind das Bindeglied nicht nur für das gleichnationale Stammvolk, sondern auch für das andersnationale Wirtsvolk. Sie sind der Lebensstrang, den zu durchschneiden oder abzutöten Verstümmelung einer Volksgemeinschaft bedeutet, eine Wunde setzt, die nicht nur das Muttervolk dauernd schmerzt, sondern auch im Wirtsvolk gefährliche Wundkeime zurückläßt.

Der Zusammenhang zwischen Minderheitenfrage und Anschlußproblem ist ein geistig-kultureller, ein sittlicher und rechtlicher. Es sind die gleichen bewegenden Kräfte, die das deutsche Volk [443] und die verschiedennationalen Minderheitsvölker zu der Forderung nach dem gemäßen volklichen Eigenleben in der entsprechenden volklichen Lebensform bestimmen.

Die Gemeinschaftsform, in der die national-kulturelle Entwicklungsfreiheit der einzelnen Minderheitengruppen am besten gewährleistet werden kann, ist nach Ansicht berufener Minderheitenführer die national-kulturelle Selbstverwaltung, bei der alle politischen und nationalen Beeinflussungen von seiten der Mehrheitsvölker ausgeschaltet werden. Die Kulturbetreuung einer Minderheit durch das Staatsvolk führt notwendigerweise zur nationalen Bevormundung und schließlich zur Entnationalisierung. Das Wesen des Minderheitenschutzes ist die Sicherung der nationalen Kultur, der Sprache und der Schule einer Minderheit. Es ist gar nicht möglich, daß gewaltsam aufstrebende, national aggressive Kleinvölker und Mittelvölker diesen Minderheitenschutz für die ihnen einverleibten nationalen Gruppen garantieren könnten. Die Geschichte und die Handhabung der Minderheitenschutzverträge beweist dies zur Genüge.

Nur durch die Verwaltung der Volkstumsgüter durch die Minderheit selbst kann die Gefahr dieser falschen entnationalisierenden Minderheitenbehandlung gebannt werden. Durch die Übertragung der vollen Verantwortung für das nationale Eigenleben einer Minderheitengruppe auf die Führer dieser Gruppe wird die Verantwortungsfreude und Verantwortungspflicht der Minderheit geweckt; eine unverantwortliche, negative Führung einer Minderheitengruppe kann nur auf diesem Wege der national-kulturellen Selbstverantwortung und Selbstverwaltung zu positiver Leistung gewandelt werden. Eine Minderheit, die ihre volklichen und kulturellen Lebenserfordernisse selbst betreut und pflegt, bildet einen in sich geschlossenen Gemeinschaftsorganismus, der sich erst so selbstgesichert der Kultur und dem Volkstum des Mehrheitsvolkes, ohne Angst, aufgesaugt und vernichtet zu werden, erschließen kann. Die national-kulturelle Selbstverwaltung einer Minderheit bedeutet darum nicht Abschließung, sondern Erschließung; sie ermöglicht Entspannung und Beruhigung zwischen Mehrheitsvolk und Minderheitsvolk und bedingt durch das notwendig vorausgesetzte gegenseitige Vertrauen den nationalen Wertaustausch zwischen verschiedenen Völkern. Durch nationale Assimilation gefährdete Volksgruppen sind in ihrem Gemeinschaftsleben geschädigt und dadurch unfähig zu einem aufbauenden Wertaustausch von Volk zu Volk.

[444] Marksteine auf dem Wege zur Verwirklichung dieses organischen Selbstschutzes der Minderheiten sind die vor einigen Jahren geschaffene deutsche Kulturautonomie in Estland und die Schulautonomie in Lettland, ferner die Ausarbeitung eines Kulturautonomiegesetzes für die Kärntner Slowenen im Jahre 1927 und die preußische Minderheitenschulverordnung des Jahres 1928. Im Gegensatz zu diesen positiven Aufbauarbeiten stehen die Verschleppungsversuche derjenigen Minderheitengruppen, die die national-kulturelle Selbstverwaltung ihrer Volksgruppen ablehnen. Auch hier tritt das mechanische und atomistische Prinzip in der Behandlung der Minderheitenfrage durch die Siegermächte auf dem Umwege über die slawischen Minderheiten in Österreich und Deutschland in Erscheinung. Unverkennbar sind hier die Zusammenhänge, die sich in ähnlichen destruktiven Anschauungen und Zielsetzungen zur Lösung der Minderheitenfrage äußern. Wie sich die Völkerbunddelegierten Mello Franco und Politis ganz unverhüllt gegen das Recht auf volkliches Eigenleben der Minderheitsvölker wenden und als das gegebene Mittel zur Lösung der Minderheitenfrage die nationale Assimilierung anempfehlen, so kehren sich auch die Führer der den Siegermächten nahestehenden slawischen Minderheiten in Österreich und Deutschland gegen die national-kulturelle Selbstverantwortung und Selbstverwaltung der Minderheiten. Sie fordern national-kulturelle Mitbetreuung durch das Mehrheitsvolk und decken sich hierin mit den Anschauungen von Benesch, Zaleski und anderen Politikern der Nationalstaaten.

Es wird von dieser Seite nicht verstanden, daß eine Annäherung zwischen zwei Völkern nicht möglich ist durch nationale Assimilation, sondern nur durch freiwilligen Wertaustausch zwischen ungebrochenen, lebensgesicherten Volksorganismen. Volksgruppen, die unverletzte Kulturgemeinschaften im Wirtsvolk bilden, sind wertvolle Keimzellen der kulturellen und nationalen Verständigung, sie sind die Enzyme, die den Prozeß der Synthese unter den europäischen Völkern fördern.

Ebenso ist aber die Schaffung der deutschen Volksgemeinschaft im deutschen Volksstaat die natürliche und notwendige Ersttat jeder weiteren Zusammenfassung und Sammlung der europäischen Nationen. Alle Vereinigungsbestrebungen, die den Zusammenschluß Österreichs und Deutschlands umgehen, strafen sich selbst Lügen und müssen sich ad absurdum führen, weil sie gegen die volklich, recht- [445] lich und kulturell zutiefst begründete Vereinigung im europäischen Völkergefüge verstoßen. Durch den Anschluß Österreichs an Deutschland wird erst die mächtige Welle des Zusammenschlusses, die Kraftwoge der Vereinheitlichung in Europa, ausgelöst werden.

Darum ist es klar, daß alle Minderheitsvölker, die in einer synthetischen und organischen Lösung der Minderheitenfrage die alleinige Gewähr für die Erhaltung ihrer Volkstümer sehen, daß diese den deutsch-österreichischen Zusammenschluß als den Anbeginn der Einigung, des Aufbaues und der Völkerbefriedung in Europa werten. Anderseits sind die Minderheitsvölker die berufenen Vorposten und Verbindungsposten ihrer Stammvölker, die Wegbahner der Verständigung zwischen ihrem Muttervolk und ihrem Wirtsvolk. Dieser geistig-kulturelle Zusammenhang, der getragen wird von dem großen Gedanken der Volksgemeinschaft, bedeutet für jedes Stammvolk und seine abgesprengten Volksteile einen unersetzbaren Lebenswert. Dieser durch lebendige Wechselwirkung bestehende Zusammenhang zwischen Muttervölkern und Minderheitsvölkern zeigt den naturgemäßen Weg zum Aufbau der europäischen Völkergemeinschaft durch den Aufbau der einzelnen Volksgemeinschaften. Man kann unmöglich eine europäische Völker- und Staatengemeinschaft wollen und die einzelnen Volksgemeinschaften nicht wollen. Man kann nicht Paneuropa schaffen wollen und den Zusammenschluß Österreichs und Deutschlands verbieten.

Die Lebensberuhigung der Minderheiten und die durch den Zusammenschluß gewährleistete Lebenssicherheit des deutschen Volkes sind an sich schöpferische Friedensarbeit. Diese heute von kurzsichtigen Machthabern hintertriebene Friedensschöpfung und Rechtsgestaltung wäre der allein wirksame Beginn zur allgemeinen Entspannung und Beruhigung in Europa.

Angesichts der Erstarkung der anderen Kontinente und kontinentalen Völkergemeinschaften ist die Solidarität der europäischen Völker ein Gebot der Selbsterhaltung. Die europäische Völkergemeinschaft kann ohne vorherige Lösung der Minderheitenfrage, ohne Verwirklichung der deutschen Volksgemeinschaft niemals errichtet werden. Europa hat seit 1918 seine Weltstellung und Selbstführung verloren, es ist unter den wirtschaftlichen und machtpolitischen Einfluß außereuropäischer Mächte gekommen. Es ist einleuchtend, daß die Weltmächte, die an der beherrschten Stellung Europas interessiert sind, nichts tun werden, was die Einheit der [446] europäischen Völker und Staaten fördern könnte. Die friedlosen Minderheitsvölker, das rechtlos getrennte und deshalb unbefriedigte deutsche Volk sind heute ohne Selbstverschulden eine wesentliche Ursache der fehlenden Einheit, der bestehenden Schwäche Europas. Der Blick der europäischen Führer ist getrübt, die aus machtpolitischen Prestigegründen die Befriedung der Minderheiten und die Vereinigung des deutschen Volkes fürchten und verhindern, denn sie sehen über ihren beengten und eigensüchtigen machtpolitischen Interessen nicht das Lebensinteresse Gesamteuropas. Die Beruhigung der europäischen Minderheitsvölker, die Sicherung der deutschen Volksgemeinschaft im ruhelosen zwischeneuropäischen Völkerraum dient im höchsten Maße dem Lebensinteresse Gesamteuropas. Wenn heute von den Gegnern des Anschlusses und den Gegnern der Minderheiten diesen immer wieder machtpolitische Ziele unterschoben werden, so ist dies der selbsttrügerische Spiegelgedanke derjenigen, die durch ihre eigensüchtige nationalistische Machtpolitik Europa zertrümmern und vor aller Welt schwächen.

Aus der Erkenntnis dieser Tatsachen und Zusammenhänge erwächst den Minderheitsvölkern und dem deutschen Volke die Pflicht, sich ihrer großen senderischen Aufgaben für die Befriedung und Einigung Europas bewußt zu sein. Die Vereinigung des deutschen Volkes, die Lebenssicherung der Minderheitsvölker ist die Verlebendigung des Volksgemeinschaftsgedankens, des Rechtsgedankens und des Friedensgedankens in Europa. Durch die Verwirklichung dieser Zielsetzungen würden alle Völker und Volksgruppen an Lebenssicherheit und Lebensruhe gewinnen, auch diejenigen Völker, die sich in eingebildeter und krankhafter Angst vor dem deutschen Volke und den Minderheitsvölkern noch immer fürchten.

In dem Bewußtsein ihrer Aufgabe und Verantwortung müssen Deutschland und Österreich vorbildlich in der Behandlung ihrer eigenen Minderheiten vorangehen, wenngleich ihnen selbst eine gerechte Befriedung der Minderheitenforderungen – wie es die Geschichte des Kärntner Autonomiegesetzes und die Regelung der Minderheitenschulfrage in Preußen zeigten – von den slawischen Minderheitenführern erschwert werden. Noch stehen die slawischen Minderheitenführer in Österreich und Deutschland in der Front der Anschlußgegner, obwohl die Verwirklichung des Anschlusses, als die Verwirklichung der deutschen Volksgemeinschaft, notwendigerweise [447] die nationalen Gemeinschaftsrechte der slawischen Minderheiten nur fördern kann. Schon heute besteht für die Kärntner Slowenen in Österreich die Möglichkeit, von der national-kulturellen Selbstverwaltung für ihre Minderheit Gebrauch zu machen. Es ist wohl möglich, daß bei beruhigter Auffassung der slowenischen Minderheitenführer und bei einer weniger parteipolitischen Einstellung der deutschen Führer in Kärnten zu diesen Volkstumsfragen die noch strittigen Punkte des Autonomiegesetzes werden bereinigt werden können. Die Befürchtung der Minderheiten in Österreich und Deutschland, daß durch die Verwirklichung des Anschlusses die Lebensrechte dieser Minderheiten verkürzt werden könnten, ist nicht begründet. Weitschauende deutsche und österreichische Führer werden schon jetzt alles daran setzen, eine vorbildliche Regelung der Minderheitenfrage in Österreich und Deutschland herbeizuführen.

Durch eine beispielgebende Lösung der Minderheitenfrage dient Österreich–Deutschland am wirksamsten dem Volksgemeinschaftsgedanken. Eine solche Lösung der Minderheitenfrage ist aber nur möglich durch Hintanstellung veralteter nationaler Prestigefragen, durch Ausschaltung lokalpatriotischer und parteipolitischer Überspitzungen. Das durch den Zusammenschluß in seiner Volksgemeinschaft gesicherte deutsche Volk wird um so leichter eine großzügige Bereinigung der Minderheitenfrage durchführen können, weil es eine nationale Bevormundung und Schwächung von außenstehenden Mächten nicht mehr zu befürchten haben wird.

Trotz vieler Anfeindungen und Erschwerungen bemühen sich schon jetzt Österreicher und Reichsdeutsche um eine gründliche und vollkommen befriedigende Lösung der Minderheitenfrage für die im deutschen Volksgebiet lebenden andersnationalen Gruppen. Der Kärntner Autonomiegesetzentwurf und die preußische Minderheitenschulverordnung sind grundlegend für den weiteren Ausbau des Minderheitenrechtes und Minderheitenschutzes. In diesen beiden Lösungsversuchen ist die Forderung nach der national-kulturellen Entwicklungsfreiheit und der Gedanke der Volksgemeinschaft bereits berücksichtigt. Deshalb ist es durchaus verständlich, daß die verschiedennationalen, außer Deutschland und Österreich lebenden Minderheiten von der Regelung der Nationalitätenfragen in Deutschland und Österreich eine beispielgebende Wirkung erwarten.

Die europäischen Minderheitsvölker können naturgemäß nur auf jene Mächte bauen, die mit ihren Anschauungen und ihren Ar- [448] beiten dem Volksgemeinschaftsgedanken, dem Gedanken der national-kulturellen Entwicklungsfreiheit und damit dem Rechts- und Friedensgedanken in Europa dienen. Darum ist es auch innerlich begründet, daß der deutsche und der österreichische Delegierte auf den Völkerbundversammlungen die naturgegebenen Anwälte der Minderheiten sind und daß anderseits die Führer der internationalen Minoritätenbewegung – auch die Führer der nichtdeutschen Gruppen – auf die deutsche und österreichische Anwaltschaft beim Völkerbund vor allem vertrauen können.

In der internationalen Minoritätenbewegung, die in den Genfer Nationalitätenkongressen ihren Ausdruck findet, wird die Notwendigkeit einer organischen und synthetischen Lösung der Minoritätenfrage von den meisten Minderheitenführern anerkannt. Der Gedanke der Volks- und Kulturgemeinschaft, die Forderung nach national-kultureller Entwicklungsfreiheit und national-kultureller Selbstverwaltung, der Gedanke der schicksalhaften Verbundenheit, der Solidarität aller europäischen Minderheitsvölker, wurde in grundlegenden Entschließungen auf den Nationalitätenkongressen in Genf von den Vertretern von 35 Millionen Minderheitsvölkern festgelegt. Es ist unleugbar, daß diese Delegiertenversammlungen aller europäischen Minderheitsvölker der geistige und sittliche Sammelpunkt der lebensgefährdeten Volksgruppen Europas sind, von dem der Gemeinschaftsgedanke, der Rechts- und Friedensgedanke eindringlich in die Welt hinausgerufen wird.

Der Gedanke der Volksgemeinschaft ist der zeugende Gedanke, der die europäische Völkergemeinschaft in diesem Jahrhundert begründen wird. Die Machthaber, die heute das Eigenleben der Minoritäten bekämpfen und die Schaffung der deutschen Volksgemeinschaft im deutschen Volksstaat verhindern wollen, versündigen sich nicht nur am deutschen Volke und an den Minderheitsvölkern, sondern sie sündigen gegen den Geist des erwachenden, sich einigenden Europa!

Es geht hier nicht um den Kampf der Vormachtstellung in Europa, sondern um den Lebenserhalt Europas und aller seiner Völker, um die Aufrichtung der verlorenen europäischen Weltgeltung. In diesem Ringen um die Erhaltung Europas steht notwendigerweise die organische Volksgemeinschaft gegen die unterschiedslose nationale Kollektivierung, gegen den nationalen Bolsche- [449] wismus! Es kämpft der organische Volksstaat gegen den mechanischen Nationalstaat!

Diese Tatsachen nicht erkennen wollen, wäre Selbsttäuschung und hieße das Wesen und den Wert der Anschlußfrage und des Minderheitenproblems für den Aufbau Europas verhängnisvoll mißdeuten.

Die Wechselwirkung und der Zusammenhang zwischen Minderheitenproblem und Anschlußfrage sind gegeben und tiefinnerlich begründet. Es ist das gleiche Schicksal, die gleiche Rechtlosigkeit und die gleiche nationale Entmündigung, die eine geistige Front der Rechtwilligen und wahrhaft Friedwilligen in Europa geschaffen. Es ist die Front all derjenigen, die das natürliche Recht jedes Volkes auf Eigenleben in der zugewachsenen volklichen Lebensform fordern und erkämpfen. Die Minderheitsvölker mit ihrer Forderung nach der national-kulturellen Entwicklungsfreiheit und das deutsche Volk mit der Forderung nach Volksgemeinschaft im Volksstaat sind heute die Führer zu befriedender und befreiender Rechtsgestaltung im europäischen Völkerraum!


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Die Anschlußfrage
in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung

Friedrich F. G. Kleinwaechter & Heinz von Paller