SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor


[400] XI. Die Anschlußfrage als soziales und soziologisches Problem
Univ.-Prof. Dr. oec. publ. et jur. Adolf Günther (Innsbruck)

Sozialgesetzgebung • Sozialpolitik • Soziologie • Soziale Strukturen Österreichs und des Deutschen Reiches • Das gesellschaftliche Problem des Anschlusses • Die mitteleuropäische Frage • Die Anschlußfrage als Problem der Logik • Die historische Auffassung über die Anschlußfrage • "Nie davon reden, immer daran denken!" • Europa in Bewegung • Frankreich • Mitteleuropa–Paneuropa kein Gegensatz • Italien • Der soziale Einschlag in der Weltwirtschaft • Die kulturell-geistige Seite des Anschlußproblems • Die rechtspolitisch-gesetzgeberische Seite des Anschlußproblems • Die Anschlußfrage als soziologisches Problem • Die soziologischen Lehrmeinungen • Gesamtdeutsche Gruppenbildungen • Binnen- und Grenzdeutsche • Die Judenfrage • Verschiedene Auffassungen über die Grenzprobleme • Köln und Wien • Reichsdeutsches Kapital in Österreich • Wirkung des Zusammenschlusses auf die sozialen Strukturen der beiden Volkswirtschaften • Österreichs Bevölkerung stärker durchorganisiert als die Deutschlands • Wien das Tor zum Osten.

Das Wort "sozial" ist nicht abgestempelt; in Verbindung mit "Gesetzgebung" wurde es freilich zu einem ganz bestimmten Tatbestande – "Sozialgesetzgebung" –, als "Sozialpolitik" dagegen erlangt es wiederum eine größere Breite der Anwendung. Indem man weiterhin zum theoretischen Studium des "Socium" eine ganze wissenschaftliche Disziplin, die "Soziologie", entwickelte, indem auf der anderen Seite eine weltanschauliche und politische Richtung, die des Sozialismus, auf das gleiche Stammwort zurückgeführt wird, ergibt sich ein fast verwirrender Reichtum von Anwendungsmöglichkeiten.

All das will berücksichtigt werden, wenn man einem konkreten Problem, wie in unserem Falle dem Zusammenschlusse der beiden deutschen Staaten und ihrer Wirtschaft, etwas wie eine "soziale Seite" abgewinnen will. Die Angleichung der "sozialen Gesetzgebung" kann hierunter fallen wie auch eine Betrachtung der "sozialen Strukturen" Österreichs und des Reiches. Man kann aber auch – und das soll in der Hauptsache unsere Aufgabe sein – den Versuch machen, die soziologische Methode an dem Problem zu erproben. Jedenfalls darf das Problem selbst durch die Vieldeutigkeit des "Sozialen" nicht noch erschwert werden.

Gewisse grundsätzliche Anschauungen über die deutsch-österreichische Frage verlangen darüber hinaus eine allgemein wissenschaftskritische Darlegung: aus leicht verständlichen Gründen wird eine Angelegenheit, welche natürlich nicht nur – und nicht einmal in erster Linie – der reinen Wissenschaft angehört, für die


Scriptorium merkt an:
Das Buch, das uns zur Vorlage dieser online-Veröffentlichung dient, ist an dieser Stelle fehlerhaft: durch einen Druck- oder Bindefehler sind die Seiten 401–416 nicht enthalten. Wir versuchen, die fehlenden Seiten aufzutreiben; bis dann muß der erhaltene Rest des Kapitels leider genügen.


[417] weil innerhalb der geeinten Sondergruppen Gegensätze entstanden, für gegeben. Es kommt manch anderes hinzu: das politische Temperament des Deutschösterreichers, seine Agitationslust und ‑kraft ist manchmal stärker als die des Reichsdeutschen; kommt, was wichtig und auch Regel ist, der stets sehr energische sudetendeutsche Einschlag hinzu, dann ist Mißverständnis und Gegensatz gar nicht selten (hiebei ist wichtig, daß die erwähnten Teilzusammenschlüsse von Turnern, akademischen Organisationen usw. so gut wie restlos – was wir nur billigen können – auch die Sudetendeutschen umfassen, denen nur manchmal aus taktischen Erwägungen die Sonderorganisation innerhalb der Gesamtgruppe erhalten blieb). Wir brauchen ferner nur um uns zu sehen, um festzustellen, daß Deutschösterreich Führerpersönlichkeiten in einem für seinen engen Raum überreichlichen Maß produziert: viele von ihnen fanden in Verbindung mit dem Reich Betätigung. Wenn es aber als Eigentümlichkeit des Menschentyps, den man gut als "gelernten Österreicher" gezeichnet hat, gelten kann, daß er in schwierigen Lagen meist noch Auswege fand, daß er zum Kompromiß neigt und die mittlere Linie zu finden weiß; dann hat sich diese schätzbare Eigenschaft verhältnismäßig weniger da gezeigt, wo sie besonders wichtig gewesen wäre: im Zusammenwirken mit dem Reichsdeutschen. Regelmäßig hat in den gesamtdeutschen Sondergruppen sich vielmehr der österreichische Standpunkt durchgesetzt, spät erst und auch nicht stets erfolgte, wie erwähnt, etwas wie eine Gegenbewegung vom Reiche her.


Suchen wir hier den Standpunkt des durchschnittlichen Reichsdeutschen, wie er uns oft genug im Gespräch von Mann zu Mann entgegentrat, festzulegen, so wird hiebei wichtig, was oben über die Konkurrenz der gesamtdeutschen Grenzen und – wie wir hinzufügen müssen – Grenzräume gesagt wurde. Überall wurde durch die "Friedensverträge" deutsches Grenzland, das oft weit ins deutsche Binnenland hineingewachsen und mit diesem organisch verschmolzen war, abgetrennt. Berlin liegt heute der polnischen Grenze noch weit näher wie vordem. München kann, wie Haushofer ausführte, von italienischen und tschechoslowakischen Ferngeschützen – um von Fliegerbomben gar nicht zu reden – mühelos erreicht werden. In gewissem Sinne ist ganz Deutschland [418] aus einem politischen Binnenlande zu einem Grenzland erwachsen. Wenn damit auch, was im Interesse der Verständigung nur zu begrüßen ist, das "Gefühl für die Grenze" allgemein im Reiche verbreitet wurde, so steht doch auch fest, daß der Ost- und Westpreuße das Grenzproblem anders wie der Rheinländer und wieder anders wie der Österreicher empfindet. Ob der Lette, Pole, Tscheche, Jugoslawe, Italiener, Franzose, Belgier, Däne als eigentlicher Gegner gelte, hängt oft von unmittelbaren Erfahrungen in Grenzverkehr und Nachbarschaft ab. Nicht immer würdigte der Österreicher diese Vielgestaltigkeit des Grenzproblems für Deutschland; will er aber gesamtdeutsch denken, dann muß er zu gerechter Würdigung, aus der unter Umständen Zurückstellung eigener Grenzwünsche folgt, gelangen. Im ganzen fehlt es hieran gewiß nicht: die Rheinbefreiung wurde von ganz Österreich als seine eigene Sache betrachtet; auch kennt ja der Deutschösterreicher die "Konkurrenz der Grenzen" aus unmittelbarer Anschauung, z. B. wird der Tiroler hier nie ganz auf einer Linie mit dem Kärntner stehen, und für das deutsche Burgenland, für Ober- und Niederösterreich liegen die Grenzverhältnisse wieder gesondert. Hoffen wir, daß das Gefühl für die Notwendigkeit, in gesamtdeutschen Fragen die jeweils mögliche und geeignete Grenzpolitik zu treiben, weiter zunehme! Die Politik kann hier an Grenzkombinationen nicht vorbei; für sie gilt es, alle verfügbaren Kräfte an der jeweils gefährdetsten Stelle – diese ist m. E. im Augenblicke nicht so sehr in Österreich, wie im polnischen Korridor gegeben, doch kann das wechseln – einzusetzen: Bei der begrenzten Abwehrfähigkeit ist eine Auslese der kritischen Punkte nötig, sie kann nur geschehen, wenn die deutsche Gesamtgrenzbedrohung allen Deutschen, auch denen in Österreich, deutlich vor Augen steht und als eine alle gleichmäßig berührende, insoferne einheitliche Angelegenheit erachtet wird.

Vom reichsdeutschen Standpunkt ist nun aber weiterhin wichtig, daß, trotz des erwähnten Zurückweichens der deutschen Grenze gegen den Kern und des damit gegebenen Grenzcharakters Gesamtdeutschlands, doch auch gewisse Besonderheiten und Reservate des Kerns, der Mitte anerkannt und von den Belangen der eigentlichen Grenzgebiete unterschieden bleiben. Die sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen Probleme der deutschen Mitte bleiben eben doch oft besondere. Wenn schon die großen Bodenschätze Deutschlands im Westen auch einem Grenzbezirk angehören, so liegt doch ein Schwer- [419] punkt ihrer Bearbeitung und Verwertung mehr gegen die Mitte zu. Von hier aus sehen sich viele Probleme anders an als aus der unmittelbaren Grenzperspektive. Darüber hinaus wird in Deutschland immer eine mehr westliche von einer mehr östlichen Orientierung unterschieden werden. Die erste ist ozeanisch, in betontem Sinn weltwirtschaftlich, die zweite binnenländisch, seitdem Österreich vom Südmeer abgeschnitten ist. So wenig diese Unterschiede zu Gegensätzen führen müssen, so sehr haben sie doch schon zu solchen geführt; das alles muß in Österreich und im Reiche, wenn man gesamtdeutsch gerichtet sein will, noch stärker erkannt werden, als es heute der Fall ist.

Im ganzen ist es natürlich, daß etwas wie ein westöstliches Gefälle zumal in wirtschaftlich-sozialen Fragen vorherrscht: der Reichtum ist heute, soweit überhaupt von solchem gesprochen werden kann, im Westen zu suchen; sehr viele wissenschaftliche Institute des Ostens, auch Österreichs, rechnen heute mit diesem Reichtum. Daneben aber ziehen sich in eigentümlicher, historisch-bedingter Weise unmittelbare Beziehungen, vor allem kultureller Art, vom reichsdeutschen Westen nach Österreich; Köln und Wien dünken sich, zum Teil aus gemeinsamer katholischer Vergangenheit her, verwandt, über den Zusammenhang von Donau und Rhein (auch Weichsel) hat zumal Steinacker Wertvolles ausgesagt. Auch Innsbruck ist, zumal durch seine Universität, in diese Zusammenhänge einbezogen. Es scheint für das gesamtdeutsche Schicksal wichtig und verbindlich zu sein, daß es nicht nur aus Nachbarbeziehungen heraus aufzubauen ist, daß regional weit entfernte Mittelpunkte des gesamtdeutschen Gedankens vorhanden sind, daß dieser, wo er wirtschaftlich nicht hinreichend Nahrung erhält, solche aus Kultur- und sozialen Zusammenhängen empfängt; auf der anderen Seite sprang die Wirtschaft schon in Lücken ein, welche im Kultur- und sozialen Zusammenhang gegeben waren.

Wir münden damit aus der Spezialbetrachtung wieder ins große Ganze ein. Es ist soziologisch ungemein reizvoll, wahrzunehmen, wie in der gesamtdeutschen Bewegung die Impulse, öffentlichen Meinungen, wirtschaftlichen Tatsachen zwar wechseln können, sich aber doch im ganzen aufs Schönste ergänzen. Nur auf rassenmäßige Übereinstimmungen kann das Problem niemals abgestellt werden; wer so vorgeht, riskiert begründeten Widerspruch gerade bei solchen, [420] die mit ihm in der gesamtdeutschen Tendenz durchaus übereinstimmen würden. Keineswegs auch kann der – immerhin weitere – Stammeszusammenhang für alle Fälle ausreichen; er verhinderte nicht, daß die "stammverwandten" Tiroler und Bayern sich jahrhundertelang in den Haaren lagen – was zum Teil gewiß auf heute überwundene dynastische Gegensätze zurückführte, zum Teil aber schon aus dem sozialen Nachbarverhältnis abgeleitet werden konnte. Ein solches kann ebensowohl freundlich wie feindlich gerichtet sein, selten dagegen werden Nachbarn sich gleichgültig gegeneinander verhalten. Die Gefahr, die jedes sozial nicht geordnete Nachbarverhältnis in sich schließt, läßt den staatlichen Zusammenschluß besonders dringlich erscheinen. Er allein verbürgt ein Ende jener nachbarlichen Meinungsverschiedenheiten, die auch in jüngerer Zeit sich zwischen Österreich und Bayern stellten; in den Handelsvertragsarbeiten traten sie zutage: das Reich konnte, da es infolge der "Meistbegünstigung" allen anderen Nachbarn und auch dritten Staaten die gleichen Zugeständnisse gewähren müßte, das Instrument des Handelsvertrages Österreich gegenüber nicht so anwenden, wie es national erwünscht und – mit Rücksicht auf Österreichs großes Handelspassivum im Verkehr mit dem Reich – auch wirtschaftlich geboten wäre; will es aber im Nachbarverkehr Erleichterungen gewähren, die als solche nicht unter die Meistbegünstigung fallen würden, dann empfindet das Bayern als Schädigung: konkurriert sein Süden doch in den wichtigsten Produktionen mit dem nachbarlichen Tirol, Salzburg und Oberösterreich. Wir können auf diese Frage, die zu sehr unerwünschten handelspolitischen Zuständen führen muß, nicht eingehen, sie gehört zur Zuständigkeit eines anderen Mitarbeiters. Doch sei unsere Meinung dahin umrissen: nie wird hier ein Handelsvertrag, der sorgfältige Abwägung der beiderseitigen Interessen zur Pflicht eines jeden Unterhändlers macht, Ordnung schaffen, nur eine Wirtschafts- und Zollunion, die ganz neue Grundlagen birgt, führt zum Ziele. Sie ist, auch staats- und völkerrechtlich, durchaus möglich.


Der Zustand des Getrenntseins der beiden deutschen Staaten und Staatsvölker bringt auch in wirtschaftlicher Hinsicht eigentümliche Wirkungen, die sich oft sozial ausladen, hervor. Keine Zollgrenze [421] vermag z. B. zu hindern, daß Kapital vom Reich auf Österreich übertragen wird; nach Angaben des Generaldirektors Schlenker arbeiten heute 300 Millionen Reichsmark im österreichischen Geschäft. Man mag hierin etwas wie einen – wenn auch längst nicht hinreichenden – Ausgleich für das österreichische Passivum von über 300 Millionen Schilling jährlich, im Handel mit dem Reiche, sehen. (Wenig entwickelt ist dagegen die Beteiligung des Reiches an österreichischen Banken.) Ferner wirken zahlreiche reichsdeutsche Kartelle in Österreich, auch internationale Kartelle erstrecken sich gleichmäßig auf beide Staaten. Wer in Beziehungen dieser Art – zu denen auch Verständigungen zwischen reichsdeutschen und österreichischen Gewerkschaften, Genossenschaften, Konsumvereinen, Sparkassen usw. stoßen – etwas wie Ersatz der staatlichen oder wenigstens wirtschaftlichen Gesamteinigung erblicken wollte, würde die Kehrseite der Medaille übersehen: sie kann u. a. darin gegeben sein, daß ein auf Österreich übergreifendes reichsdeutsches Kartell sich in Österreich den dort bestehenden Schutzzoll zunutze macht, was keineswegs mit den sozialen Interessen der österreichischen Weiterverarbeiter oder Verbraucher in Einklang stehen würde. Wirtschaftlicher organisatorischer Einfluß über die Grenze hinweg ist oft unkontrollierbar und deshalb nicht immer erwünscht, sosehr im allgemeinen reger Austausch der Produkte gefördert werden soll. Auch in politischer Hinsicht kann solcher Einfluß bedeutungsvoll werden. Sosehr wir damit rechnen, daß zwischen Politik und Wirtschaft sich Fäden ziehen, sosehr sollte doch das Sonderinteresse in österreichisch-deutschen Fragen hinter das Allgemeininteresse zurücktreten. Es liegt hiebei ähnlich wie im oben erwähnten Fall von gesamtdeutschen Vereinen: es kann dem Anschluß nicht nützen, wenn eine politische Gruppe im Inland an einer wirtschaftlichen Gruppe des Auslandes Stütze findet; es ist ebensowenig erwünscht, wenn Sondergruppierungen im Zeichen der Republik oder eines dynastischen Gedankens stattfinden.


Erwägt man, welche Wirkung der Zusammenschluß auf die sozialen Strukturen der beiden Volkswirtschaften üben würde, so hat man von ihrem heutigen Gegensatze auszugehen: Österreich fehlt, bis auf wenige Teilerscheinungen, die großgewerbliche Unternehmungsform, die im Reiche, und vor allem in dessen [422] Westen und Mitte, zu Hause ist. Der oft beobachtete Ergänzungscharakter der beiden Volkswirtschaften tritt auch hiebei in Erscheinung. Allerdings würden im Falle des Anschlusses manche nicht einfache Übergänge notwendig sein – man kann dazu die Mittelzollinie rechnen –, man würde aber keineswegs fürchten müssen, daß der österreichische klein- und mittelgewerbliche Betrieb – nur deshalb, weil er in den Größenverhältnissen hinter dem Reich zurückbleibt – unterliegen müßte. – In einer weiteren Hinsicht ist der soziale Strukturunterschied zwischen Österreich und dem Reich längst nicht so groß, als auf den ersten Blick erscheinen mag: hat sich im Reich die Industrie durchgesetzt, spricht man dort mit Grund von einem Vorgang der "Industrialisierung", der den Raum der Landwirtschaft immer mehr einengt, dann sieht es in Österreich scheinbar ganz anders aus: der vorwiegend agrarische Charakter ist diesem Lande ja von keinen Geringeren als den "Sachverständigen" des Völkerbundes, Layton und Rist, attestiert worden, ja, man war so weit gegangen, in dem tierzüchtenden Lande vor allem den Ackerbau hervorzuheben. – Wer nun aber zahlenmäßig an die Sache herangeht und, indem er Österreich im Auge hat, neben den überwiegend agrarischen Alpenländern auch die Hauptstadt Wien in Betracht zieht, der erfährt, daß die kommerziell und industriell Hauptberufstätigen mehr ausmachen wie jene der Landwirtschaft. Geht man auf die Berufszugehörigen zurück, so kann man ohne großen Fehler von etwa mehr als einem Drittel solcher, welche mit der Landwirtschaft zusammenhängen, sprechen und von nicht sehr viel weniger als zwei Dritteln solcher, welche in irgendeinem Sinne – wenn auch nur als Dienende und freie Berufe – Beziehung zu Handel und Industrie haben! Wenn nun auch die bäuerliche Gruppe in Österreich weit mehr intakt geblieben ist als im Reiche; wenn der Bauer der Alpenländer in den weitaus zahlreicheren Fällen mit familieneigenen Arbeitskräften seine Wirtschaft bestreiten kann: so ist doch der auf den Beruf zurückführende soziale Gegensatz zwischen beiden Staaten längst nicht so groß, als gemeinhin angenommen wird und sich aus dem Augenschein, der dem Fremden zumal in den Alpen zuteil wird, ergibt. Es kann heute ferner weder der österreichischen Bauernwirtschaft etwas schaden, wenn sie in großen Mustergütern nach mittel- und ostdeutschem Zuschnitt Belehrung und Vorbild empfängt; noch der reichsdeutschen Großindustrie, wenn in den besonderen Verhältnissen Österreichs wohl stets der Boden für mehr handwerkliche [423] Qualitätsbetriebe gegeben sein wird. Sozialer Ausgleich vielmehr darf hievon erwartet werden.


Einige andere soziale Fragen seien wenigstens gestreift: wir sehen Österreichs Bevölkerung in eher noch stärkerem Maße "durchorganisiert" als die des Reiches; das gilt vor allem für die Arbeiterschaft, die einen besonders großen Anteil gewerkschaftlich Organisierter verzeichnet; auch die Zahl tariflich gebundener Arbeitsverhältnisse ist in Österreich eher noch größer als im Reiche, wennschon das hier bestehende Institut der Verbindlichkeitserklärung dort nicht gilt. Die Sozialversicherung ist in beiden Staaten ziemlich ungleich, aber in jedem Falle in beträchtlichem Umfange ausgebaut. Bei alledem wird man kaum etwas finden, was dem Anschluß Schwierigkeiten bereiten könnte. Auch sind die in der privaten Industrie Österreichs gezahlten Reallöhne oft nur um jene Beträge, welche sich aus der Nichtvalorisierung der Mieten in Österreich ergeben, geringer, als die im Reich gewährten. Man kann ein Problem darin sehen, wie sich der Anschluß auf die Mieten – die dann natürlich nicht lange mehr niedrig erhalten werden könnten – auswirkt und welches die Folgen entsprechender Lohn- und Gehaltsregelungen für die Lebensfähigkeit der österreichischen Industrie sein würden. Doch überwiegen bei Fragestellungen wie diesen die vorwiegend wirtschaftlichen Gesichtspunkte, denen im einzelnen nachgehen nicht unsere Aufgabe ist.

Arbeitslosigkeit besteht heute hüben und drüben; Kapitalarmut – wenn auch, s. o., in ungleichem Maße – ist auch in beiden deutschen Staaten anzutreffen. Die gegenüber dem Reiche bevorzugte Lage der österreichischen Finanzen wird in einem gewissen Sinne durch die gedrückte Lebenshaltung des österreichischen Beamten ausgeglichen, ein Treffen auf mittlerer Linie ist hiebei das Wahrscheinliche. Manches von dem, was Verfasser in Schmollers Jahrbuch über Die soziale Seite des Anschlusses vor einigen Jahren schrieb, trifft heute nicht oder nicht in vollem Umfange mehr zu; auf vieles in jenem Aufsatze darf aber noch heute als den Verhältnissen entsprechend verwiesen werden, er mag zur Ergänzung gegenwärtiger Ausführungen herangezogen werden.


[424] Indem dieser dem Abschluß nahe ist, darf wohl auf das, was eingangs über Zielsetzung und Methode gesagt worden war, in aller Kürze zurückgegriffen werden. Nicht so sehr eine erschöpfende Aufzählung der unzähligen Tatbestände und Zusammenhänge, die in irgendeinem Sinne "soziale" genannt werden können, konnte beabsichtigt sein; neben allgemeinen wissenschaftskritischen Ausführungen, die, indem sie dem Gesamtproblem des "Anschlusses" galten, doch dessen "soziale" Seite besonders berührten, sollten Anwendungsfälle für eine Methode, für die Verfasser sich gerne einsetzt, gefunden werden. Damit war die Aufgabe zwar der Soziologie zugänglich, aber doch nicht zu einer ausschließlich soziologisch zu lösenden geworden.

Wenn aber doch soziologische Gesichtspunkte verfolgt werden konnten, so ist daran der entwickelte Zustand der Soziologie in Österreich beteiligt. Lange Zeit ist das wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Denken des Österreichers mehr nach innen gerichtet gewesen, die Grenznutzentheorie war eine Frucht solcher Verinnerlichung, zu der man im Reiche, unter dem Druck großer wirtschaftspolitischer Zeitprobleme und ‑aufgaben, nicht immer im selben Maße gelangte. Das entwickelte sozialwissenschaftliche Denken kam dann nicht selten mehr politischen als wirtschaftlichen Problemen zugute und schulte an seinem Teil den österreichischen Politiker und Publizisten (vgl. oben!). Im Grenzlande, hart am tschechischen Raum, hat die organisch-universalistische Theorie von Othmar Spann sich zuerst gestaltet, ein anderes Grenzland bot sich der in der Zielsetzung so entgegengesetzten Lehre von Gumplowicz. (Man könnte hier noch eines Dritten, des Balten v. Lilienfeld, Erwähnung tun.) – In der Folge hat die soziologische Theorie vielfach und manchmal verfrüht den Weg in die Praxis genommen; nicht ohne gelegentlich Schaden zu erfahren, indem auf der anderen Seite die Praxis aus nicht immer völlig verstandenen Theorien den an sich möglichen Nutzen kaum ziehen konnte. Wir verfolgen diesen Prozeß bis in die Gegenwart und erachten ihn, über seine wissenschaftliche und wissenschaftsgeschichtliche Tragweite hinaus, als einigermaßen bezeichnend für österreichische Belange. Es ist viel theoretische Neigung und Besinnlichkeit im Osten vorhanden und es wäre falsch, zu übersehen, daß in diesem Punkt der Deutschösterreicher mit manchem Volksfremden übereinstimmt, mit dem ihn eine ähnliche altösterreichische Tradition verbindet; das ist aber nur einer der zahlreichen Fälle, in denen der [425=Karte] [426] Grenzlandcharakter Deutschösterreichs hervortritt: er weist, bei aller scharf markierten deutschen Einstellung, den Deutschösterreicher auf seine Mission hin, die Übermittlung fremder Kulturen, Wirtschaftswerte und Lebensformen zu unterstützen. Nicht zuletzt aus diesem psychologisch-soziologischen Grund und nicht etwa nur infolge der Gunst der Lage bleibt ja auch Wien das Tor zum Osten. Daß beide Gesamtdeutschland gesichert seien, daß jede politische oder wirtschaftliche Kombination, die nicht in erster Linie vom Zusammenschluß des Reiches mit Österreich ausgeht, verhindert werde: das ist der Sinn unserer Arbeit am "Anschluß".


Seite zurückInhaltsübersichtnächste
Seite

Die Anschlußfrage
in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung

Friedrich F. G. Kleinwaechter & Heinz von Paller