SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor


III. Europa und die Anschlußfrage   (Forts.)

 
Paneuropa und der Anschluß
Dr. Karl C. von Loesch (Berlin)

Keine einheitliche Stellungnahme der paneuropäischen Bewegung zur Anschlußfrage • Die Paneuropäische Union • Coudenhove • Briand • Die statische Gruppe der paneuropäischen Bewegung • Der Pseudopaneuropäismus • Coudenhoves Pan-Europa • Coudenhoves Programm • Mechanisches Denken sucht eine statische Paneuropalösung • Coudenhoves Anschlußgegnerschaft • Die nationalen Minderheiten Europas und Paneuropa • Jede Europareform verlangt Bewegung und Entwicklung • Die dynamische Gruppe der Europabewegung • Unterschätzung des Volkstums • Rechtsgedanke • Rechtshygiene • Die Interparlamentarische Union und die Union der Völkerbundligen • Grundzüge des Rechtes der europäischen Völker • Neuabgrenzung der Staaten • Ohne Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich ist keine Neuordnung Europas möglich.

Es gibt keine einheitliche Stellungnahme der paneuropäischen Bewegung zum Anschluß – trotz der Anschlußgegnerschaft des Grafen Nikolaus von Coudenhove-Kalergi –, so wie es auch noch keine einheitliche Einstellung der deutschen Einheitsbewegung zu Paneuropa gibt und geben kann. Denn wenn die Generalunternehmer der Paneuropäischen Union verkünden, die Verfolgung paneuropäischer Ideen schließe an und für sich schon ein Eintreten für die Wiedervereinigung der beiden größten deutschen Staatlichkeiten aus, so beweist dies nur, daß die von der Paneuropäischen Union vertretene Spielart des europäischen Gedankens anschluß- und der deutschen Sache feindlich ist – nicht aber mehr. Denn der Europagedanke ist kein Monopol einer bestimmten Gruppe und selbst die übrigens sehr alte Wortbildung "Paneuropa" darf nicht nur in der Sinnverengung gebraucht werden, die ihr anschlußfeindliche Kreise Wiens gegeben haben, als sie unter dieser Devise einen Werbefeldzug großen Ausmaßes begannen.

Schon der Sprachgebrauch der europäischen Presse zeigt, daß man tatsächlich alle jene Bewegungen paneuropäisch nennt, welche engere rechtliche Bindungen zwischen den europäischen Staaten anstreben; so sprach man von Briands paneuropäischem Manifest, das [133] eine paneuropäische Staatenverbindung einleiten wolle. Man wird also gut tun, die Coudenhovesche Lehre auszusondern und sie als die der paneuropäischen Union in Gegensatz zu den übrigen europäischen Einigungsbestrebungen zu stellen.

Mit dieser Feststellung soll aber nicht gesagt sein, es habe etwa der Begriff Paneuropa nicht durch Coudenhove einen anschlußgegnerischen Beigeschmack erhalten, der durch Briands Note im Jahre 1930 noch eine recht deutliche Verstärkung erfuhr. Dies hängt damit zusammen, daß die Paneuropäische Union früh auf den Kampfplatz trat und laut die Trommel rührte und daß Frankreich im Jahre 1929 während der Völkerbundhauptversammlung als erster unter den europäischen Staaten das Europathema aufwarf, während die übrigen Einigungsbestrebungen weder über eine annähernd ebenso rührige Organisation von internationaler Verbreitung verfügen, noch überdies einen Fürsprecher unter den europäischen Staaten gefunden haben.

Auch das hat wieder seinen guten Grund. Es liegt in der besonderen Artung der Vorstellungswelt, der jedesmal die Begründungen entnommen wurden, in dem Standpunkt, von dem aus die Ursachen der gegenwärtigen Friedlosigkeit Europas beurteilt werden. Daraus ergab sich dann auch die Unterschiedlichkeit der Rezepte, die zur Heilung empfohlen wurden, gewissermaßen von selbst. Denn das Ziel der einzelnen europäischen Bewegungen ist ja je nach Vorstellungswelt und politischer Lage der Urteilenden grundverschieden.

Wenn es auch sicher falsch wäre, die Bestrebungen Coudenhoves und Briands vollkommen identifizieren zu wollen, so dürfen sie doch in eine Gruppe zusammengefaßt werden, weil ihre Grundhaltung die gleiche ist. Diese Gruppe ist als statische zu bezeichnen. Gemeinsam ist beiden die Bejahung des heutigen politischen Zustandes, wie er durch die Diktatverträge nach Abschluß des Weltkrieges geschaffen wurde. Dieser Zustand soll erhalten und gesichert werden gegen Veränderungen, die aus dem Inneren oder von außen her (aus Sowjetrußland) kommen. Ist diese Sicherung erst einmal durch neubeschworene Verträge der 27 europäischen "Vollstaaten" erreicht, die Mitglieder des Völkerbundes sind, dann kann man – so schlägt Briand 1930 vor – langsam daran gehen, auch Handelshindernisse wegzuräumen. Coudenhove war ursprünglich radikaler; er hat einige Wandlungen durchgemacht, die im einzelnen aufzuzählen nicht lohnt. Er glaubte anfänglich England [134] ausschließen zu sollen und er verlangte überdies von den Staaten, die er zu seinem Paneuropa zulassen wollte, sie sollten demokratisch-parlamentarisch regiert sein; inzwischen ist aber diese Regierungsform in einer Reihe von Staaten auf Zeit oder Dauer abgeschafft und diese Bedingung praktisch unerfüllbar geworden. Wichtiger ist aber, daß auch Coudenhove von den Staaten ausging, wie sie durch das Pariser Vorortvertragswerk geschaffen wurden. Aufschlußreich ist, daß er ein geringes Verständnis für die Völker Europas, für ihre Leiden und ihre Wünsche hat. Doch davon später. In ihrer Grundhaltung sagt Coudenhoves These den Bedürfnissen der heute in Frankreich herrschenden Schicht zu, deren Nationalismus für die Völker Europas nur insoweit Verständnis hat, als es sich um Träger mit Frankreich verbündeter Staaten handelt. Nur in diesem Sinne hat Frankreich stets das Selbstbestimmungsrecht der Völker verstanden, das es seit der großen Revolution verkündete und das im Weltkriege zum propagandistisch höchst erfolgreich ausgenützten Rüstzeug der Verbündeten gehörte. Einen europäischen Gedanken des rechtsgleichen Bündnisses freier Volkstümer vermochte der französische Nationalismus, ja die französische Gedankenwelt überhaupt, nie zu fassen, weil ihr die Grundlage dazu fehlte: weil es in Frankreich wohl eine Nation gibt, aber kein Volkstum im Sinne der deutschen und der sonstigen germanischen Volkstümer, der slawischen, der baltischen, des ungarischen usw. Der Paneuropäismus der in Frankreich heute herrschenden politischen Mentalität unterscheidet sich darin von dem Coudenhoveschen. Er will nur den Ausbau und die Sicherung der Vormachtstellung Frankreichs, von der kein Tüpfelchen aufgegeben werden soll, und benutzt dazu, nachdem das Genfer Protokoll gescheitert ist, den Paneuropäischen Gedanken, der ihm genehm ist, weil er es gestattet, alte Pläne in neuer Aufmachung der Welt darzubieten. Dieser Pseudopaneuropäismus vermummt sich nur europäisch; er gibt sich übrigens nicht viel Mühe dabei und hat es natürlich nicht nötig, die Probleme des Erdteils ernsthaft zu studieren.

Coudenhove ist es dagegen ernst mit dem Zusammenschluß Europas; er ging mit gutem Glauben und ohne Frivolität an seine Aufgabe, freilich mit dem allzu leichten Rüstzeug vorgefaßter Meinungen. Gerade darum erlebte er anfangs einen raschen Publikumserfolg, weil er fertige, leicht faßbare Rezepte zu liefern vermochte, [135] die er mit seiner ganz eigentümlichen Begabung für Schlagworte und Sinnbilder einprägsam zu formen wußte. Ein marktschreierischer Apparat wurde in der Paneuropäischen Union geschaffen, eine Zeitschrift, zahlreiche Broschüren, Fahnen und Wappen sorgten dafür, daß jeder politisch irgendwie Interessierte von Coudenhoves Paneuropalehre Kenntnis nehmen mußte.

Fünf Jahre nach Abschluß des Weltkrieges, als die Fehllösungen der Diktatverträge und das Versagen des Völkerbundes gerade auf den wichtigsten Gebieten offenbar geworden waren, veröffentlichte R. N. Graf Coudenhove-Kalergi 1923 von Wien aus seine Programmschrift Paneuropa. Diese begann mit den Worten: "Dieses Buch ist bestimmt, eine große politische Bewegung zu erwecken." Ein stolzes Wort, das ein junger, geistig nur mäßig begabter, freilich energisch auftretender und rühriger Mensch, der der Öffentlichkeit damals völlig unbekannt war, dennoch in kurzer Zeit wahr zu machen vermochte. Bereits 1926 konnte er den ersten internationalen Kongreß der Paneuropäischen Union nach Wien berufen, den Österreichs Bundeskanzler Seipel eröffnete. Aus fast allen Kulturstaaten mit Ausnahme Italiens und Rußlands erschienen damals Männer mit klangvollen Namen aus den verschiedensten politischen Lagern. Die Weltpresse berichtete. Massen bereiteten ihrem jugendlich-schönen Führer stürmische Huldigungen. Seither ist es stiller um Coudenhove geworden, trotzdem es ihm gelang, von vielen Ministern europäischer Staaten empfangen zu werden. Erst 1930 kam aber der so oft angekündigte zweite paneuropäische Kongreß in Berlin zustande. Trotz Ministerreden und Ministerfrühstück war die Aufnahme kühl und das Interesse schwach: vielleicht nicht zuletzt, obgleich oder gerade weil Briand seine Paneuropanote zurückgehalten hatte, um sie – mit kavaliermäßiger Geste gegenüber dem Propagator dieser Idee – am Tage des Kongreßbeginnes zu veröffentlichen.

Dieser äußere Erfolg Coudenhoves, den er nicht zuletzt seiner Anschlußgegnerschaft verdanken dürfte, ist aber viel matter als derjenige vier Jahre zuvor in Wien, als man ihn als Welterlöser feierte. Damals hatte er in eine günstige Konjunktur hineingestoßen; er gab der Sehnsucht nach dem Tausendjährigen Reiche neue Gestalt. Waren doch alle jene enttäuscht gewesen, die Großes vom Frieden der Gerechtigkeit, des gleichen Rechtes unter den Völkern, die nicht mehr wie Schachfiguren hin- und hergeschoben werden sollten, erwartet hatten, und außerdem noch jene, die schon vor dem Weltkriege vom [136] Sozialismus Erlösung erhofft hatten, als dieser noch nirgendwo herrschende Partei war. Ihnen schien Paneuropa ein lockendes Wunschbild und man fragte nicht viel nach Einzelheiten des Coudenhoveschen Lehrgebäudes. So folgten ihm damals viele, gelockt von einem erhabenen Endziel.

Dann aber setzte die Kritik ein und die Anhängerschar bröckelte wieder ab. So trat z. B. der Reichstagspräsident Löbe, ein Vertreter des Anschlußgedankens, aus der Paneuropäischen Union aus, ferner mehrere namhafte Politiker des bürgerlichen Lagers. Anationale und Nationalisten westlicher Prägung blieben zurück. Nicht nur darum, weil Briands nüchterner, auf Machtsicherung bedachter Realismus vielen die paneuropäische Bewegung zu kompromittieren schien und gerade die Idealisten, welche die Mache durchschauten, abstieß; nicht nur wegen gewisser Reibungen im Anhängerkreise der Paneuropäischen Union, die vor zwei Jahren zu Massenaustritten aus der reichsdeutschen Gruppe führte. Sondern innere Mängel des Führers verengten den Anhängerkreis, die Primitivität seiner Vorstellungswelt, welche dem hauptsächlichsten und schwierigsten Problem Europas nicht gerecht wird, dem des Volkstums. Coudenhove kann zwischen der berechtigten Vertretung des Volksgedankens, dem edelsten und sichersten Fundament von Staat und Kultur, und gewissen Ismen nicht unterscheiden, dem Nationalismus, dem Chauvinismus und dem Antisemitismus. Diesem Mangel entspringt auch die Leere seiner Lehre. Ihre einprägsame Einfachheit folgt aus seiner oberflächlichen Betrachtung der Ursache des heutigen, so unbefriedigenden Zustandes. Daher ist das Endziel der Entwicklung, die er erwartet, auch grauenhaft und höchstens für die bewußt auf Blutmischung ausgehenden Franzosen erträglich.

In einer seiner zahlreichen Schriften "Adel" (im Sammelbande Praktischer Idealismus, 1925 neugedruckt) entwirft Coudenhove ein Bild der künftigen nationalen Entwicklung Europas, wie er sie sich vorstellt. "Der Mensch der fernen Zukunft wird Mischling sein." (Coudenhove ist selbst ein europäisch-japanischer Mischling.) Ferner heißt es: "Die eurasisch-negroide Zukunftsrasse, äußerlich der altägyptischen vielleicht ähnlich, wird die Vielfalt der Völker durch eine Vielfalt der Persönlichkeit ersetzen." Nur zu einem einzigen Volke hat Coudenhove Vertrauen: "Statt das Judentum zu vernichten, hat es Europa wider Willen durch jenen künstlichen Ausleseprozeß (nämlich durch Stählung durch ein heldenhaft ertragenes Martyrium [137] und durch Läuterung von willensschwachen, geistesarmen Elementen, wovon Coudenhove im vorhergehenden Satze sprach) veredelt und zu einer Führernation der Zukunft erzogen. Kein Wunder also, daß dieses Volk, dem Ghettokerker entsprungen, sich zu einem geistigen Adel Europas entwickelt. So hat eine gütige Vorsehung Europa in dem Augenblick, als der Feudaladel verfiel, durch die Judenemanzipation eine neue Adelsrasse von Geistes Gnaden geschenkt."

Das ist das (nicht einmal nur unterbewußte) Vorstellungsbild des künftigen, besser geeinigten Europas, auf das hin Coudenhove seine Paneuropalehre entwickelte. Kein Wunder, daß die Völkerprobleme nur ganz äußerlich behandelt werden. Glaubt er doch, das Entscheidende liege darin, daß er nachgewiesen habe, das "Dogma des europäischen Nationalismus, welches die Nationen für Blutgemeinschaften erkläre", sei ein Mythus. Weil es aber in Europa kein Volk von reiner Rasse gäbe, so kommt er zu folgendem Lehrsatze: "Die Nation ist ein Reich des Geistes, und Nationen sind also Symbiosen, Gemeinschaften zwischen großen Männern und ihren Völkern, Heroenkult aber die Religion des Nationalismus."

Mit einer so billigen Bagatellisierung glaubt Coudenhove Europas schwerstes Problem aus der Welt geschafft zu haben; er negiert es, er vermag es wohl nicht zu erfassen. Und doch verlangt gerade dies Problem ein Umdenken auf breitester Front; Europas Neuordnung ist ohne das Entstehen einer neuen Staats- und Volksauffassung, ohne die Ablösung von der bisherigen nicht möglich. Er aber sieht nur Staat, Wirtschaft und Technik, Menschenmassen, die regiert und ernährt werden sollen, aber keine Völker mit ihren Leidenschaften und Leistungen. Seine politische Sittlichkeit, wenn man von einer solchen sprechen darf, erschöpft sich im Aufstellen einer Geschäftsordnung für betriebsame Fellachengemeinwesen, die von fremder Oberschicht (Adelsrasse) regiert werden; er kennt aber keine neue aufwärts führende Rechtsordnung zwischen kulturschöpfenden, eigenbewußten Völkern.


Nachdem Coudenhoves geistiger Besitzstand klargelegt ist, genügt es, kurz sein Programm zu besprechen. Seit 1923 lehrte er: Die Hauptsache ist, daß die Staaten Europas, soweit sie demokratisch regiert werden, erst einmal einen Bund bilden. England und Ruß- [138] land gehören nicht dazu, England, weil es wesentlich eine außereuropäische Macht ist, Rußland, weil es sich durch das Sowjetsystem außerhalb der traditionellen Formen westlich-freiheitlicher Demokratie gestellt habe. Diese These wurde schon 1926 von dem Reichstagsabgeordneten Mittelmann durch eine Resolution des ersten paneuropäischen Kongresses durchlöchert. Coudenhove mußte selbst einen Pflock zurückstecken. Auf Einzelheiten kommt es hier nicht an; wichtig ist, daß er (und 1930 Briand in noch klarerer Formulierung: "alle 27 europäischen Staaten des Völkerbundes") von vornherein den Staatenkreis, der zusammengeschlossen werden solle, fest umriß. Mechanisches Denken sucht also eine statische Paneuropalösung. Coudenhove bekennt sich auch, was bei Briand nicht in Erstaunen setzt, zu den Pariser Friedensschlüssen, deren Folgen er (trotz seiner anfänglichen Kritik an den heutigen Zuständen Europas und am Völkerbunde) beschönigt, wenn er sagt, daß sie "politisch einen Fortschritt gegenüber den Vorkriegsverhältnissen bedeuten". Seine Ausführungen über diesen Fortschritt bleiben flach. Sie sind, wenn man an das Schicksal der Deutschen, Ungarn, Bulgaren, Mazedonier, Russen, Ukrainer, Weißrussen und Kroaten denkt, widerspruchsvoll, ja zum Teil unwahr. So verkündet Coudenhove von Anbeginn an – und das ist Musik in französischen Ohren – die Lehre von der Unverrückbarkeit der in Paris geschaffenen Grenzen. Daraus entspringt auch seine Anschlußfeindschaft. Er tut so, als sei eine friedliche Grenzverschiebung ausgeschlossen, und erklärt, wer auf eine Änderung der deutschen Grenzen hinarbeite, müsse Kriegspolitik treiben: obwohl Wilna ohne Krieg an Polen, das Memelgebiet ohne Krieg an Litauen, Ödenburg ohne Krieg an Ungarn kam. Also auch geschichtlich unwahr ist Coudenhoves Kernsatz: "Wer an diese Grenzen rührt, rührt an dem Frieden Europas." Dieser überentschlossene Pazifismus auf Kosten unglücklicher Völker hat eine verzweifelte Ähnlichkeit mit dem Sicherungsverlangen machtstaatlicher Sieger, die von ihrer Beute nichts hergeben wollen zugunsten einer echten Befriedung Europas durch einen gerechten Ausgleich. So begegnen sich der Europareformer Coudenhove und der Frankreichs Herrschaft sichernde Briand in einer Grundthese, die letztlich jede gesunde Entwicklung ausschließt und gerade die ungesunden Gegenwartsverhältnisse versteinern will. Aus dieser Ungeheuerlichkeit folgen dann eine Fülle von Irrtümern, die zu widerlegen sich nicht lohnt.

[139] Coudenhoves praktische Vorschläge sind dreigegliedert:

  1. Wirtschaftliches Gedeihen durch Zollunion.
  2. Friede durch Abrüstung und Schiedsverträge.
  3. Verschwinden der Grenzen durch Minderheitenrecht.

Dem Zweiten ist ohne weiteres zuzustimmen; bemerkenswert ist aber, daß Frankreich, Coudenhoves staatlicher Gönner, seit Jahren jede Abrüstung verhindert hat. Daß die Paneuropäische Union Coudenhoverscher Observanz die Grenzen durch Minderheitenschutz zum Verschwinden bringen und der große Freibrief der Minderheiten sein würde, ist Schwindel. Niemals haben daher auch die europäischen Minderheiten, die doch in ihrer verzweifelten Lage nach jedem Rettungsanker zu greifen geneigt sind, Coudenhove Vertrauen geschenkt. Aus dem Lager des europäischen Nationalitätenkongresses hat er (wie auch Briand) nur Ablehnung erfahren. Man mißtraut, durch schmerzliche Erfahrungen gewitzigt, der Behauptung Coudenhoves, wären erst einmal die Vereinigten Staaten von Europa geschaffen mit ihrer Zollunion und ihrem Minderheitenrecht (Coudenhoves "Toleranzedikt" für seine Nationalreligionen), so seien Staatsgrenzen ja überhaupt nur noch Verwaltungsgrenzen, die für das politische Eigenleben eines Volkes eine so untergeordnete Rolle spielen würden wie heute die Verwaltungsgrenzen innerhalb eines Staates. Praktisch wären dann alle Wünsche der Minderheiten mit einem Schlage befriedigt.

Auf dem ersten paneuropäischen Kongreß erklärten sich daher auch Angehörige von Minderheitsvölkern mit so mageren Verheißungen unbefriedigt. Der Untersteiermärker Dr. Morocutti, der Ukrainer Lozynsky und der Ungar Dr. Faluhelyi legten, ausgehend von den unbefriedigenden Wirkungen der Minderheitenschutzverträge, Anträge vor, die das Problem immer schärfer herausarbeiteten. Lozynsky forderte das Selbstbestimmungsrecht für Minderheiten; er unterschied dabei zwischen territorialen, die zum geschlossenen Siedlungsgebiete des Hauptvolkes gehören, und exterritorialen, und verlangte für diese Gruppen Rechte verschiedenen Umfanges, vor allem für erstere das Recht, sich dem Staate des geschlossenen Siedlungsgebietes anzuschließen oder anderenfalls sich auf föderativ-autonomer Grundlage zu organisieren. Dr. Faluhelyi ging noch weiter, folgerichtig forderte er: Im künftigen Paneuropa sollten sich die administrativen Grenzen, welche die gegenwärtige Staatsgrenze zu ersetzen [140] bestimmt seien, mit den nationalkulturellen Grenzen decken. Hier wurden Wege der Entwicklung aufgezeigt; die Aussprache förderte wertvolle Anregungen zutage und schließlich wurde auf Antrag des Prager Professors Dr. Kafka ein ständiger Studienausschuß eingesetzt. Dieser sollte die Fragen der nationalen Minderheiten prüfen und auf Grund der Prüfung im Einvernehmen mit der Interparlamentarischen Union, der Union der Völkerbundligen und dem Genfer Nationalitätenkongreß genaue Vorschläge zur Sicherung der Rechte der nationalen Minderheiten in Europa ausarbeiten. Der Antrag Kafka schloß mit dem Satze: "Der Kongreß geht dabei von der Voraussetzung aus, daß im Hinblick auf die europäischen Grenzen die Paneuropabewegung durch befriedigende Regelung der Frage der Minderheiten den gewünschten Erfolg haben kann." So stand es 1926; die Paneuropäische Union hat damals Anregungen erhalten, die geeignet waren, das allzu einseitige Programm Coudenhoves zu erweitern und nützliche Arbeiten zu leisten. Seither sind vier Jahre verflossen und es ist nichts geschehen. Die Anregungen von 1926 verdorrten und es kam zu keiner Zusammenarbeit mit den drei vorgenannten internationalen Körperschaften, welche ihrerseits ohne die Paneuropäische Union an deren Hauptproblem weiterarbeiteten. Der zweite paneuropäische Kongreß 1930 aber war viel einseitiger zusammengesetzt als der erste. Er zeigte endgültig, daß das Volksproblem keine Heimat in der Paneuropäischen Union hat. Damit hat sich diese im Grunde genommen selbst aus der Liste der ernst zu nehmenden Europabewegungen gestrichen. Sie ist immer mehr ein Anhängsel der Bestrebungen zur Verewigung des durch die Pariser Verträge geschaffenen Staatenzustandes geworden.

Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß Coudenhove und Briand ein Bündnis aller (oder fast aller) europäischen Staaten zur Sicherung der derzeitigen Grenzen als Voraussetzung für Paneuropa ansehen. Ein solches Kleben an dem Schulbegriff Europa, dieser flache Formalismus, der nicht in die Tiefe dringt und die Ursachen der europäischen Not ununtersucht läßt, kann sich auch damit begnügen, für alle diese Staaten die Zollunion zu fordern, eine Forderung, die übrigens Briand kaum anzudeuten wagt. Dieser ist vorsichtiger, verlangt er doch internationale Wirtschaftsabmachungen [141] privater Industriegruppen. Hier zeigt sich, entsprechend dem Charakter der französischen Nation, die Sicherheitsforderung, welche auf wirtschaftlichem Gebiete wiederkehrt, das Statische des französischen Denkens in seiner vollen Unfruchtbarkeit gegenüber dem Europaproblem. Diese Denkweise, der letztlich ja auch Coudenhove anhängt, ist unfähig zu begreifen, daß jede Europareform Bewegung und Entwicklung verlangt und daß ein verwerflicher Konservativismus, der sie zu verhindern sucht, die notwendige Entwicklung wohl einige Zeit lang zurückstauen kann, bis der Druck immer stärker wird, bis die Dämme zerreißen.


Nichts wäre irriger, als aus dem Versagen der Paneuropäischen Union schließen zu wollen, als wäre die nichtstaatliche Europabewegung versandet oder aus den mehr oder weniger ablehnenden Antworten, die Briand auf seine Paneuropa-Rundfrage von den von Frankreich nicht abhängigen Staaten erhielt, die Versuche der Staaten Europas, zu einer Einigung zu gelangen, wären endgültig gescheitert. Es ist vielmehr zu erwarten, daß kein Problem (neben dem der Arbeitslosigkeit und dem der Unrentabilität der europäischen Landwirtschaft, mit denen es ja sehr eng verbunden ist) die europäische Öffentlichkeit und die europäischen Staatsmänner in den nächsten Jahrzehnten stärker beschäftigen wird. Freilich wird man viel tiefer schürfen müssen, um Rezepte zu finden, die die Gebresten dieses Erdteiles heilen können. Die Europabewegung wird dann nicht mehr statisch sein, sondern dynamisch das Problem zu lösen versuchen.

An Vorarbeiten, die außerhalb der Paneuropäischen Union und des Quai d'Orsay geleistet wurden, hat es im letzten Jahrfünft nicht gefehlt. Sie traten freilich weniger anspruchsvoll auf und zeigten vielfach das Endziel nicht klar. Mit gutem Grunde, um die Früchte der Arbeit nicht von vornherein zu gefährden.

Hier sind in erster Linie auf wirtschaftlichem Gebiete alle jene Arbeiten zu nennen, die in internationalem, also in einem übereuropäischen Rahmen, zum Abbau der Zollmauern, zur Erleichterung des Wirtschafts- und Personenverkehrs, zur Befreiung des Warenaustausches und des Niederlassungsrechtes von den Fesseln des äußeren und inneren Protektionismus begonnen wurden, teils unter [142] den Auspizien des Völkerbundes, teils unter denen der internationalen Handelskammer. Ein Enderfolg, wenn ein solcher nur in der praktischen Durchführung der wertvollen dort vorgelegten Vorschläge, die zumeist auf österreichische Anregung zurückgehen, gesehen werden darf, blieb allerdings bisher versagt. Aber die Klärung der Probleme, welche freilich nicht vor der breiten Öffentlichkeit eingetreten ist, darf als Gewinn gebucht werden. Hier sind nur Andeutungen möglich. Es zeigte sich, daß überkontinentale Abmachungen von mondialer Ausdehnung scheitern müssen, nicht nur an der Verschiedenheit der Interessen, sondern auch vor allem an der Unterschiedlichkeit des Kulturniveaus. Der Gegensatz zwischen mittel- und westeuropäischer Denk- und Handlungsweise und der des Orientalen und Exoten offenbarte sich deutlich in der Verschiedenheit der Rechtsauffassungen. Der Rechtsgedanke trat im Ringen um gemeinschaftliche wirtschaftliche Rechtsnormen hart in Erscheinung, er wirkt in der Stille weiter im Sinne eines werdenden europäischen Rechtes als der Grundlage zu einem stufenweise zu vollziehenden Abbau der Handelshindernisse mit dem Endziel einer europäischen Zollunion.

Stufenweise in doppeltem Sinne, im zeitlichen und im räumlichen. Der zeitliche kennzeichnet sich durch die Überlegung, daß zahlreiche praktische Hindernisse dem Zusammenschluß von 29 europäischen Staaten entgegenstehen, die 28 Wirtschaftsgebiete umfassen. (Nur Belgien und Luxemburg sind zollpolitisch zusammengeschlossen.) Diese Hindernisse, die zum Teil noch in allerjüngster Zeit erhöht wurden und dem Wirtschaftsindividualismus der letzten Vergangenheit entspringen, können nur allmählich abgebaut werden. Der Abbau muß nicht nur darum langsam sein, weil Sprünge der Wirtschaftspolitik zahlreiche Existenzen über Nacht vernichten und die allgemeine Wirtschaftskrise verstärken würden. Aber nicht nur, um der Wirtschaft Zeit zu geben zum "Sich-Anpassen" an neue Lagen, an die Vergrößerung und Vereinheitlichung der Wirtschaftsgebiete, bedarf es der Einstufung: sondern auch weil die Wirtschaft nicht der allein bestimmende Faktor in der Europabewegung ist, mag sie auch die treibende Kraft sein. Denn die politischen Hindernisse einer wirtschaftlichen Vereinigung müßten erst überwunden sein, die in politisch-seelischen Gegensätzen der Völker und Nationen liegen und die zur Voraussetzung die Auffindung und Anerkennung übervölkischer Rechtsnormen haben. In ferner Vergangenheit gab es [143] solche, als die Universitas des Abendlandes mehr als eine Sehnsucht war; seit dem Mittelalter hat sie der Individualismus europäischer Teilstaatlichkeit abgebaut, eine Erfindung gerade des französischen Nationalismus in seinem Kampfe gegen das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Dieser Individualismus erfand den heutigen, nach jeder Richtung hin überspitzten Souveränitätsbegriff, von dem Briand ja auch kein Tüpfelchen opfern will. Er muß aber eingeschränkt werden nach außen und nach innen hin, wenn eine auch nur beschränkte Einheit Europas, gleichviel auf welchem Gebiete, zustande kommen soll. Ein solches Eingeständnis erfordert aber eine grundlegende Änderung der heute in Europa herrschenden Staatsauffassung, auf welcher ja gerade auch das Diktatfriedensgebäude der Pariser Vorortverträge "ruht".

Daher ist auch die andere Stufe, die räumliche, mit der zeitlichen eng verknüpft. So wie die Wirtschaftserleichterungen bis zu einer vollen europäischen Zollunion durch Präferenzgewährung und sonstige Abmachungen erst allmählich gesteigert werden können, so kann ein wirtschaftliches Paneuropa, genau so wie ein politisches, nicht von vornherein den gesamten Erdteil umfassen. Beruht doch dessen Abgrenzung nach Osten und Südosten auf einer (geopolitisch gesehen) recht fragwürdigen geschichtlichen Konvention, was ich im zweiten Bande des Buches des Deutschtums Staat und Volkstum 1926 klarzulegen mich bemühte. Dazu kommt, daß das Bedürfnis nach Wirtschaftsvereinheitlichung in den einzelnen Wirtschaftsgebieten recht verschieden groß ist. Die natürlichen Wirtschaftszusammenhänge der Inseln und Halbinseln mit dem angegliederten Festlande sind viel geringer als die der dortigen Staaten, welche natürlicher Grenzen entbehren und vor 1914 im engsten Wirtschaftszusammenhange, ja teilweise in dem gleichen Wirtschaftsverbande standen. Schließlich sind die Sympathien der Völker und ihrer Staaten recht verschieden gelagert; sie sind nicht räumlich bedingt, sondern entspringen anderen, oft kuriosen Ursachen.

Die räumliche Stufung des Zusammenschlußvorganges kann so erfolgen, daß zunächst eine Gruppe von zwei oder mehreren benachbarten Staaten miteinander in engere Verbindung treten und so einen Kern für weitere Ankristallisierungen bilden. Das Ausmaß der Annäherung kann verschieden sein, kann von nachbarrechtlicher Teilbegünstigung bis zur Zollvereinigung fortschreiten. Es können auch mehrere Kerne in sich gleicher Tendenz entstehen. Die Geschichte des [144] 19. Jahrhunderts kennt mehrere Beispiele, wie den Preußischen Zollverein und den bayrisch-württembergischen Zollzusammenschluß vor 100 Jahren, welche schließlich nach 50 Jahren im neudeutschen Reich ihre Krönung fanden. Luxemburg ist aus dem deutschen ins belgische Zollbündnis, Liechtenstein aus dem österreichisch-ungarischen ins eidgenössische nur übergewechselt. Andere großörtliche Bestrebungen führten noch nicht zur Überwindung nationalindividualistischer Wirtschaftsisolierung, fanden aber doch in der skandinavischen und der baltischen Nachbarrechtsklausel immerhin international-vertraglichen Ausdruck. Zu einer mitteleuropäischen Klausel, zu einer Donaukonföderation, zu einem wirtschaftlichen Verbande der Agrarstaaten des Ostens oder zu einer Konvention der west- und mitteleuropäischen Verbraucherstaaten ist es noch nicht gekommen. Staaten und private Vereinigungen erstreben sie, sie liegen in der Luft.

Dagegen nahm der Verein deutscher Eisenbahnverwaltungen, der auf dem Teilgebiete des Verkehrs arbeitet, in den letzten Jahren an Umfang zu. Er hätte daher das Recht, einen umfassenderen Namen zu führen. Denn der Kreis seiner ordentlichen und außerordentlichen Mitglieder umfaßt heute Holland, die Schweiz, Österreich, Ungarn und die skandinavischen Eisenbahnverwaltungen bis Finnland. Diese mit Recht still und sachlich arbeitende Körperschaft zu studieren, lohnt wirklich. Sie zeigt, wie es politische Abneigungen bisher verhinderten, daß zwischengelagerte Staaten einbezogen werden konnten, und wie die Ungleichheit der Auffassungen von geordneter Geschäftsführung Rumäniens Beziehungen zu ihm immer lockerer werden ließen. Sie zeigt weiter, wie der Verkehr gewissermaßen von selbst zu Abmachungen kommt, welche über immer größere Räume sich ausdehnen, wenn sie nur den wirklichen Bedürfnissen der Völker angepaßt sind, während mondiale Verbände, wie der Pariser Welteisenbahnverein, verkümmern, weil sie, allzu weit gespannt, künstelnd Gebiete zusammenfassen wollen, die in Wirklichkeit nur wenige Gemeinsamkeiten haben. Sie zeigt endlich, wie vermessen es ist, den Umfang von Einigungsbestrebungen vorweg festsetzen zu wollen: zu eng, wie Briand es will, oder teils zu eng, teils zu weit, wie Coudenhove.

Man soll vielmehr wachsen lassen und den Wachstumsvorgang sorgsam beobachten. Nur die Richtlinien organischen Wachstums lassen sich im voraus erkennen. Das Ende liegt aber nach Breite, Höhe und Tiefe im Dunkel der Zukunft; je weiter europäisches [145] Denken fortschreitet, um so weiter kann dereinst auch der Umfang europäischer Einigung gespannt werden. Diese Sonderbetrachtung zeigt mit überzeugender Deutlichkeit den rechten Weg zu Paneuropa. Es gilt in erster Linie, zeitlich abgestuft, die vorhandenen Wachstumsneigungen auch räumlich und fachlich nicht zu stören, sondern sie verständnisvoll zu hegen, vorsichtig ihnen den Weg zu bereiten und die Hindernisse zu zerstören. Die Wirtschaft Europas und ihre Not ist der Wegbereiter, Europas Friedens- und Ruhebedürfnis ein weiterer Antrieb – beide drängen vorwärts. Diese Behauptungen bedürfen keiner Beweise mehr.

Die Sprengung der Hindernisse ist die Zukunftsaufgabe, und die Erkennung ihrer Natur muß der Lösung vorangehen. Während auf wirtschaftlichem Gebiete durch die Ausbildung der modernen Technik plurilateraler (mehrstaatlicher) Verträge, die ein Verdienst der unablässigen Völkerbundverhandlungen ist, die Wege zu stufenweisem Abbau der Zollmauern zwischen mehreren Staaten gebahnt wurden und tatsächlich brauchbare Europaarbeit im letzten Jahrfünft geleistet wurde, stagniert sie auf dem hochpolitischen Gebiete. Es sieht so aus, als wäre man im Zeitalter des Völkerbundes, des Briandschen Fragebogens und der Paneuropäischen Union weiter davon entfernt als je. Richtig ist freilich nur, daß alle drei das Problem nicht gefördert haben, daß sie bremsend wirkten. Aber der einmal entfachte europäische Gedanke läßt sich nicht aufhalten; ihn als erster grell beleuchtet zu haben, wird immer Coudenhoves Verdienst bleiben, trotz seiner Irrtümer, die den Weg zeitweise blockieren.

Dieser Hauptirrtum ist, wie schon mehrfach festgestellt, die Unterschätzung des Volkstums, die Lehre von der Unantastbarkeit der derzeitigen Staatsgrenzen, der Wunsch, das heutige Machtverhältnis zu verewigen und letztlich eine kümmerlich-rückständige Auffassung vom Wesen des Staates, von seinen Machtbefugnissen nach außen gegen andere Staaten und nach innen gegenüber Volksgruppen, die nicht zum staatsführenden Volke gehören. Eine Auffassung, die eine organische Weiterbildung des heutigen Staatensystems nicht mehr zuläßt, sondern zu Fehlkonstruktionen verführt. Coudenhove glaubt innerlich an den Völkerbrei; seine ursprüngliche Paneuropa-Konzeption wollte im Grunde die unhistorische Auflösung der Staaten wie der Völker vorbereiten zugunsten einer paneuropäisch-formal- [146] demokratischen Einheitsstaatlichkeit und Einheitsfellachenheit. Briand glaubt gar nichts und will nur Frankreichs staatliche und wirtschaftliche Machtstellung sichern durch Versteifung seiner heutigen Glückslage und der Unglückslage anderer Völker. Der Gedanke des Selbstbestimmungsrechtes der Völker ist beiden, trotzdem sie ihn gelegentlich zu verwenden wußten, fremd, ja unheimlich.

Und doch ist ein Rechtsgedanke, welcher die Völker Europas, nicht nur heute bevorzugte, zu ihren Lebensrechten kommen läßt unter Wahrung der Notwendigkeiten der europäischen Gemeinschaft, das einzige Baumittel zur Herstellung einer dauerhaften, allen Segen gebenden Staatenvereinigung. Ohne ihn ist auch kein raumerobernder Wirtschaftszusammenschluß möglich. Nur wirtschaftlich lassen sich die nun einmal vorhandenen Gegensätze nicht überwinden, führt kein Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa. Diese lassen sich nur auf echtem Föderalismus aufbauen, der den einzelnen Völkern das Recht zu ihrer Staatlichkeit gibt und sichert. Über solche Grundlagen kann sich dann eine überstaatlich-übervölkische Kuppel wirtschaftlich-verkehrspolitischer Gemeinsamkeiten aufwölben. Die Fundamente einer solchen Kuppel sind Rechtssätze europäischer Natur, welche die Rechte der Völker und Staaten abgrenzen, wiederum nach innen und außen, und nun erst einen europäischen Burgfrieden zulassen, so daß die Verteidigung nach außen gemeinsame Sache wird, eine Rechtsprechung nach innen, unter den Mitgliedern des europäischen Bundes, aber die bewaffnete Auseinandersetzung erübrigt.

Rechtshygiene hat der deutsche Abgeordnete Hasselblatt des estländischen Parlamentes daher für Europa gefordert auf den Gebieten des öffentlichen und des privaten Rechtes. Den Umfang der notwendigen Rechtsschöpfung kann, das ist nach dem Vorgesagten klar, niemand voraussagen. Daß sie auf international-wirtschaftlichen und dem Verkehrsgebiete einsetzt und einsetzen mußte, liegt in der Natur der Dinge. Den abendländisch-europäischen Rechtsgedanken zu pflegen, ihm überhaupt erst einmal gesicherten Raum in der Vorstellungswelt der Europäer zu schaffen, ist daher der wichtigste Schritt, wenn erst einmal ernster Verständigungswille da ist. Pflegt letzteren der Bund für europäische Verständigung "zur Ergänzung des Verständigungswerkes der Regierungen", freilich leider mit bedauernswert geringem Erfolge, so will die historisch-religiöse "Abendland"bewegung den universalisti- [147] schen Gedanken des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation beleben und in zeitgemäße Formen kleiden: "Das abendländische Problem ist keine Nützlichkeits- oder Interessenfrage: Es unter diesem Gesichtspunkte zu fassen, ist eine Betrachtungsweise, die an die Politik der Vorkriegszeiten erinnert, in denen wir von wirtschafts- und machtpolitischer Organisation alles, alles erwarteten, ein Standpunkt, der letzten Endes zu unserem heutigen Chaos geführt hat. Auch verrät diese Einstellung einen nicht allzu tiefen Einblick in die die Entwicklung bestimmenden Kräfte." (K. Kleefisch im Abendland, Jahrg. 1, Nr. 11.)

Diese und andere europäische Bewegungen und Organisationen haben besser als die Paneuropäische Union dazu beigetragen, den Boden geistig aufzulockern. Im Schoße der Minderheitenbewegung, vor allem im Europäischen Nationalitätenkongreß, hat man die Rechte der Völker, zunächst freilich nur soweit es die Minderheitsvolksgruppen angeht, zu umreissen gesucht und wertvollste Arbeit geleistet, von der der Völkerbund mit Nutzeffekt Kenntnis zu nehmen leider bisher Abstand genommen hat. Die Interparlamentarische Union und die Union der Völkerbundligen haben nicht nur in ihren Minderheitenausschüssen trotz ihrer weltumspannenden Organisation gerade zu diesem Teile des Europaproblems, freilich in engerem Rahmen, Wichtiges beigesteuert. Ein Gesamtprogramm aber ist bis heute noch nicht einmal in Grundrissen veröffentlicht worden, selbst nicht vom Schutzbundkreise, der so viele Einzelbeiträge zur Lösung des Europaproblems geliefert hat, zumeist in den Zeitschriften Volk und Reich und in der Deutschen Rundschau.

Ein solches Programm müßte das wirtschaftliche und das politische Problem Europas in voller Breite gleichmäßig fassen, wie es der frühere österreichische Minister und Gesandte Dr. Riedl schon 1923 (freilich erst 1926 im zweiten Bande der Bücher des Deutschtums Staat und Volkstum veröffentlicht) versuchte, indem er eine Satzung der Vereinigten Staaten von Europa nach dem Vorbild der Verfassung des Deutschen Bundes von 1816 entwarf.

Die Grundzüge des Rechtes der europäischen Völker, aus denen langsam ein europäisches Staatenrecht erwachsen kann, lassen sich immerhin umreißen. Den Völkern Europas, gleichviel in welcher Lage sie heute sind, ist grundsätzlich das Recht auf einen eigenen Staat sicherzustellen, der manchen heute noch versagt ist. Die Ab- [148] grenzung des Umfanges dieses Staates bereitet nur dort Schwierigkeiten, wo die Volksgrenzen zweifelhaft sind oder der Wille der Bevölkerung. Die Abgrenzung ist heute ein Hauptstreitpunkt und der Anlaß zur Unzufriedenheit derer, denen es versagt ist, zum konnationalen Staate zu gehören, obwohl sie im geographisch geschlossenen Siedlungsgebiet mit der Hauptmasse ihrer Volksgenossen leben. Grundsätzlich muß also nicht nur das Recht auf eigenen Staat gewährleistet werden, sondern auch auf den größtmöglichen Umfang dieses Staates, der möglichst alle Konnationalen des geschlossenen Siedlungsgebietes umfassen soll. Hier ist also eine Einschränkung des sogenannten Selbstbestimmungsrechtes zuungunsten der fernen Siedlungsinseln außerhalb des geschlossenen Siedlungsgebietes geboten. Es müssen ernsthafte Vorkehrungen getroffen werden zur Durchführung einer gerechten Grenzzeichnung in Mischzonen (Verzahnungsgürteln) dort, wo zwei oder mehrere Völker aneinanderstoßen. Solche Mischzonen sind in Mitteleuropa ungemein breit. Dazu kommt, daß der Charakter der Grenzbevölkerungen keineswegs eindeutig feststeht und daß sie oft von verschiedenen Völkern auf Grund von Abstammung, Sprache, Siedlungsraum, geschichtlichen Merkmalen oder wirtschaftlichen, kulturellen oder politischen Neigungen für sich in Anspruch genommen werden, oder daß ein Staat erst jüngst den volklichen Charakter von Gebieten mehr oder weniger gewaltsam geändert hat. Wenn objektive Merkmale versagen, so ist dann im ersteren Falle eine Anfrage bei der Bevölkerung (Volksabstimmung unter neutraler Aufsicht) gegeben.

Eine Neuabgrenzung von Staaten, die sehr wohl ohne Kriege vollzogen werden kann (Norwegen trennte sich von Schweden ohne Krieg, Irland von Großbritannien dagegen erst nach schweren Volksaufständen) erschöpft aber das Problem noch nicht; denn sie löst die Minderheitenfrage nicht. Eine erschöpfende Darstellung eines modernen Minderheitenrechtes, welches heute sein größtes Hindernis im Zentralismus unifizierender Demokratien, Pseudodemokratien und faschistisch regierter Staaten findet, würde den Rahmen dieses Aufsatzes überschreiten. Sicher ist es jedoch, daß eine bessere Abgrenzung der Staaten von den 35 Millionen, welche die Minderheiten Europas außerhalb der Sowjetunion zählen, mehr als die Hälfte verschwinden ließe. Das Problem würde aber so nicht nur verkleinert, sondern auch entgiftet, da nach einer gerechten Neuabgrenzung der Verdacht der Staatsuntreue gegenstandslos wäre. Jene von der heute [149] herrschenden Staatsauffassung geduldeten, wenn nicht begünstigten Entnationalisierungsmaßnahmen, die so viel böses Blut machen, würden aber unterbleiben; werden sie doch zumeist begründet mit der Notwendigkeit, Grenzgebiete dadurch zu sichern, daß ihre Bevölkerung vertrieben oder ihres Volkstums entkleidet wird. Umgekehrt würde die tatsächliche Sicherung von Volkstumsrechten für Minderheiten, welche international und verfassungsmäßig festgelegt wären, die Bedeutung der Grenzfragen, vor allem ihre Schärfe, mildern; denn ein gesichertes Minderheitsvolkstum hat nicht annähernd so stark den Drang, aus einem Staatsverband auszuscheiden, als ein gequältes.

Der Zerfall Europas.
[149]      Der Zerfall Europas.


[150] So sehen wir, wie auch hier enge Zusammenhänge zwischen den einzelnen Faktoren auf dem Wege der echten Befriedung Europas bestehen. Eine befriedigende Neuordnung muß gleichzeitig auf wirtschaftlichem und auf politischem Gebiete, ja auf den verschiedenen Teilgebieten desselben angestrebt werden, in zeitlich, räumlich und fachlich gestuftem Fortschreiten: zu einem Endziel, das freilich, was den Inhalt der künftigen Verfassung eines föderativ auf Volksstaaten aufgebauten Europas und seines endgültigen geographischen Umfanges angeht, im einzelnen noch nicht umschrieben werden kann. Der Weg zu diesem Ziel wird sicher nicht geradlinig sein, der Gipfel wird nicht in einem Ansturm genommen werden können, er ist von verschiedenen Seiten her etappenweise zu erreichen. Eine dieser Etappen ist die staatliche Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reiche, die Erfüllung der vornehmsten Volksforderung der Deutschen, des eigentlich mitteleuropäischen Volkes. Ob sich diese Wiedervereinigung zuerst nur zollpolitisch vollziehen wird oder gleichzeitig zollpolitisch und staatlich, kann niemand voraussagen. Sie ist jedenfalls aber kein Hindernis für Fortschritte auf dem Wege zu einer föderativen Einigung Europas, sondern vielmehr eine Voraussetzung dazu. Ohne Wiedervereinigung ist keine Neuordnung Europas möglich. Die Wiedervereinigung der deutschen Staaten ist vielmehr der Anfang einer mitteleuropäischen Kernbildung, um die herum weitere Kristallisationen erst möglich sind. Im Interesse Europas muß sie geschehen.


Seite zurückInhaltsübersichtnächste
Seite

Die Anschlußfrage
in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung

Friedrich F. G. Kleinwaechter & Heinz von Paller