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I. Die historischen Grundlagen   (Forts.)

 
Die Entstehung der Anschlußfrage
als Problem der europäischen Politik

Dr. Heinz von Paller (z. Zt. Graz)

Die Anschlußfrage als deutsches und europäisches Problem • Die Anschlußfrage während des Weltkrieges • Die Entente und Österreich-Ungarn • Die Zertrümmerung der Donaumonarchie kein Kriegsziel der Entente • Das "neue Europa" der slawischen und romanischen Auslandsrevolution • Die Tschechen und Südslawen gegen die Polen und Italiener für den Anschluß • Die Anschlußfrage in der politischen Propaganda der Alliierten während des Weltkrieges • Die Anschlußfrage auf der Pariser Friedenskonferenz • Wilson und die Entstehung der "Nationalstaaten" • Das Anschlußverbot eine Verletzung der von den alliierten und assoziierten Mächten anerkannten Friedensbedingungen Amerikas • Wilson und die Anschlußfrage • Die amerikanische Friedensdelegation für den Anschluß • Lloyd George • Sonnino und Orlando • Clemenceau und Tardieu • Französische Intrigen in Wien • Vorschläge zur Lösung der "österreichischen Frage" auf der Friedenskonferenz • Entstehung der Artikel 80 und 88 der Friedensverträge • Rhein und Anschluß • Südtirol und Anschluß • Dreimalige Änderung des Artikels 80 • Tardieus Begründung des Artikels 88 im Friedensvertrag von St. Germain • War die Wiedervereinigung Deutschösterreichs mit dem Deutschen Reiche 1918/19 möglich?

Nicht erst der Weltkrieg oder gar der Zusammenbruch der Mittelmächte haben, wie die französische Publizistik wahr haben [36] möchte, die Anschlußfrage geschaffen. Es setzt schon eine mehr als oberflächliche Kenntnis der deutschen Geschichte voraus, wenn man klarzumachen versucht, daß Österreichs Wille nach einer Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reiche lediglich das Ergebnis eines politischen Prozesses ist, der mit der Auflösung der österreichisch-ungarischen Monarchie einsetzt, und von dem man in bezug auf die Anschlußfrage annehmen zu können meinte, daß er ebenso abklingen werde, wie alle lediglich zweckhaft- und augenblicksgebundenen Begleiterscheinungen gewaltsamer oder revolutionärer Vorgänge. Wohl standen die Deutschen Altösterreichs im großen Weltringen bis zum letzten Atemzuge treu zu dem Staate, der als eine der größten kolonisatorischen Taten des deutschen Volkes ihr Werk war, den sie durch Jahrhunderte getragen und gestützt hatten, der aber mit dem nach der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Nationalitätenkampf immer mehr ihren Händen entgleiten mußte, bis sie sich als einstige Schöpfer und Träger des Staates einer magyarisch-slawischen Mehrheit als Beherrscher der Staatsmacht gegenübersahen. Nie aber war unter den Deutschen der Alpen und Sudeten das Bewußtsein geschwunden, daß sie Deutsche sind, daß sie mit dem Deutschen Reich eine Gemeinsamkeit verbindet, die politische Grenzen und staatspolitische Interessen zwar zu verdunkeln, nicht aber aufzuheben vermochten. Jenen Wandlungen des großdeutschen Gedankens in der österreichisch-deutschen Geschichte gehen Bauer und Brunner in ihren Beiträgen nach. Hier soll von der Entstehung der Anschlußfrage als einem europäischen Problem gesprochen werden, von jener Wende in der Geschichte des großdeutschen Gedankens, da die großdeutsche Frage aus der Enge einer bloßen deutschen Frage in die Sphäre der europäischen Politik getreten war. Wenn hier also vom "Anschlusse" die Rede ist, so wird darunter immer nur die Wiedervereinigung des gegenwärtig zur Selbständigkeit gezwungenen Deutschösterreichs mit dem Deutschen Reiche verstanden, eine vor allem von den Österreichern erhobene Forderung, die zwar niemals von den großdeutschen Ideen von 1814 bis 1914 getrennt werden kann, die aber erst seit den auf die Zertrümmerung der Donaumonarchie gerichteten Bestrebungen als politisches Problem in der europäischen Geschichte erscheint. Die Festlegung dieser für jeden Deutschen selbstverständlichen Tatsache ist deshalb wichtig, weil nicht nur die tendenziöse politische, sondern auch die nach Objektivität strebende historische Kritik der europäischen Öffentlichkeit jene Zu- [37] sammenhänge nicht klar zu übersehen vermag. Für sie beginnt die Anschlußfrage mit den Jahren 1918/19, vor allem weil die französische Mentalität in dem Streben der Deutschen nach einem großdeutschen Staate selten etwas anderes zu sehen vermochte als einen versteckten "Pangermanismus", als "mitteleuropäische, imperialistische Hegemoniebestrebungen".


 
Die Anschlußfrage während des Weltkrieges

So sehr diese historischen Zusammenhänge zu unterstreichen sind, so notwendig ist der Hinweis auf eine andere für die Beurteilung des heutigen Anschlußproblems viel zu wenig beachtete Tatsache: Daß die Anschlußfrage zu einem europäischen Problem, Österreich zu einem der vielen politischen Brennpunkte der in Versailles, St. Germain-en-Laye und Trianon geschaffenen Gefahrzonen Europas geworden ist, ist nicht das Werk der "Pangermanisten", sondern jener Männer, die auf Seite der Ententemächte an der Balkanisierung Mitteleuropas mitgewirkt haben. Der erste, der die Anschlußfrage im heutigen Sinne als Wiedervereinigung Deutschösterreichs mit dem Deutschen Reich angeschnitten hat, war Th. G. Masaryk. Während die Deutschen Österreichs alle ihre physischen und psychischen Kräfte in den Kampf um die Verteidigung und Erhaltung des österreichischen Staates stellten, die letzten Verfechter des großdeutschen Gedankens sich in den mitteleuropäischen Traumfeldern eines Naumann und Friedjung verloren, zeichnete Masaryk in den Wintermonaten 1914/15 in seiner Pariser Stube jene Karte des "neuen Europas", die das Ergebnis dieses Weltkrieges sein sollte. Das Recht der kleinen Völker, die Errichtung eines selbständigen tschechoslowakischen Staates, die völlige Neuordnung Mitteleuropas, das waren die Kulminationspunkte, um die sich alle Gedanken jenes Philosophen und Politikers drehten, der vor wenigen Monaten selbst noch nicht wußte, für welche der beiden Theorien Palackys, der Notwendigkeit der österreichischen Monarchie oder der Vergänglichkeit der "österreichischen" Idee gegenüber der "böhmischen", er sich entscheiden sollte.

Die Anschlußfrage wurde erst wieder eine deutsche Frage, als sie zu einem europäischen Problem geworden war. Sie hing in entscheidendem Maße von der Stellungnahme der alliierten und assoziierten Mächte zu der österreichisch-ungarischen Monarchie, von der Entscheidung ab, ob die Feindbundmächte die Zertrümmerung des alten [38] Völkerstaates als Ziel ihrer kriegerischen Auseinandersetzung betrachteten oder nicht. Hat nun die Entente die Auflösung des Donaustaates von allem Anfang angestrebt? Diese Frage kann heute besonders auf Grund der verschiedenen Forschungen und Memoiren mit einem entschiedenen Nein beantwortet werden.1 Mit Ausnahme Italiens sahen die Großmächte im Deutschen Reich ihren eigentlichen Gegner. Das "militarisierte", das "kaiserliche" Deutsche Reich mußte niedergerungen werden. Was bedeutete da in dieser einzigartigen Kräftezusammenballung die österreichisch-ungarische Monarchie als politisches Problem?

In der alten taktischen Frage, ob man sich zuerst auf den stärkeren oder auf den schwächeren Gegner werfen sollte, hat sich die Entente in den ersten Kriegsjahren sowohl militärisch wie aber auch politisch im Sinne der ersten Möglichkeit entschieden. Erst die unerwartete offensive Widerstandskraft der deutschen Armeen und die Erkenntnis, daß nicht die militärische Macht, sondern die Zeit der alliierten Mächte stärkster Verbündeter sei, veranlaßten die Ententestaaten, sich auch mit jenen Fragen zu beschäftigen, die die slawische und romanische Auslandrevolution in tausenden Denkschriften und Broschüren, Artikeln und Reden in die ententistische Öffentlichkeit schleuderte. Erst spät und durchaus nicht einmütig erkannte die Entente die einzigartige Gelegenheit, den Feind im Rücken anzugreifen, indem sie Österreich-Ungarn als Zentrum eines moralisch-politischen Zersetzungsprozesses erfaßte, der früher oder später – besonders nach der russischen Revolution – auch das Deutsche Reich unvermeidlich mitreißen mußte. Verhältnismäßig spät erkannte man in London und Paris, daß der große Krieg für die alliierten Staaten zunächst politisch geführt und gewonnen werden müsse, eine Tatsache, die die verantwortlichen Führer des deutschen Kaiserreiches nie zu begreifen vermochten, die aber gewisse, am Hofe des letzten Habsburg-Lothringers stets zu Intrigen bereite Kreise dazu bestimmte, Verrat an dem deutschen Bundesgenossen zu üben oder wenigstens zu versuchen. [Scriptorium merkt an: Beispiel hier!]

Daß Österreich-Ungarn nach einem Siege der Entente schon [39] wegen der Londoner und Bukarester Abkommen, die den Kaufpreis für Italiens und Rumäniens Eintritt in den Weltkrieg bestimmten, nicht mehr als Großmacht in den Konzern der europäischen Staaten zurückkehren werde, darüber waren sich auch die größten Optimisten in Wien und Budapest klar. Denn ein Österreich-Ungarn ohne Triest und Fiume, ohne Südtirol und Dalmatien, ohne Galizien und die Bukowina, ohne Siebenbürgen und den Banat – das alles hatte man in London und Paris den Bundesgenossen vertraglich zugesichert –, ein solches Österreich-Ungarn konnte keine Großmacht mehr sein. Aber diese Tatsachen beweisen, daß trotz Chéradames, Bertrand Auerbachs, George Weils, Eisenmanns, Seton Watsons u. a. Vorkriegsarbeiten über die Probleme der Österreichisch-ungarischen Monarchie die Ententestaaten jenen brennenden Fragen Mitteleuropas verständnislos gegenüberstanden; eine Erscheinung, über die freilich von ihrem Standpunkte niemand mehr geklagt hat, als Masaryk und Benesch. Glaubte man denn in Paris, London und Rom wirklich, nach solchen Verlusten einen Staat im Herzen Europas erhalten zu können, dessen innere zentrifugale Kräfte sich schon vor dem Kriege stärker entwickelten als die zentripetalen? Welche Gemeinsamkeit sollte dann noch die in dieser Rumpfmonarchie zurückbleibenden Nationen vereinen, der man ihre organische, geographisch-wirtschaftliche Einheit zerrissen hätte?

Aber die Zeit war nicht danach, sich über all diese Fragen den Kopf zu zerbrechen. Man brauchte Bundesgenossen und Helfer. Land und Menschen waren ja genug vorhanden, die man zwar noch nicht besaß, über die man aber in der Hoffnung auf einen endgültigen Sieg schon verfügen wollte! Von da an setzte ein den historischen Betrachter abstoßender Handel und Schacher um Länder und Menschen, Eisenbahnen und Straßen, Bergwerke und Rohrleitungen ein, der noch auf der Pariser Friedenskonferenz eine besondere Rolle spielen sollte, aber in den verschiedenen, während des Weltkrieges zwischen den einzelnen Mächten geschlossenen Geheimverträgen noch nicht den alles beschönigenden Mantel einer moralischen Phraseologie trug. Unter den Siegeln und Unterschriften der Geheimverträge von Petersburg, London, Bukarest, Jean de Maurienne usw. wurde nicht nur die Türkei aufgelöst, Kleinasien, Syrien, Palästina und die deutschen Kolonien verteilt, Schantung den Japanern, drei Viertel Persiens den Briten verschachert, das Rheinland und das Saargebiet vom Reiche getrennt, der Osten des Reiches in eine russische Provinz verwandelt, sondern auch die Öster- [40] reichisch-ungarische Monarchie de facto zertrümmert. Daß diesen Tatsachen entgegen in manchen einflußreichen Ententekreisen eher Gunst als Haß gegenüber der Donaumonarchie vorhanden war, daß man sich bis zuletzt scheute, die letzten Folgerungen gegen den schwankenden Donaustaat zu ziehen, ja daß Lloyd George noch am 5. Jänner 1918, wie auch Wilson in seinen vierzehn Punkten, vor den englischen Gewerkschaftsführern erklärte, die Zertrümmerung Österreich-Ungarns sei kein Kriegsziel Großbritanniens, obwohl die Alliierten bereits in der Antwortnote vom 12. Jänner 1917 auf Wilsons Friedensvorschlag gerade das Gegenteil ausdrücklich erklärt hatten, alles dies hatte seinen Grund entweder in der Hoffnung, Österreich doch noch vom Bündnis mit dem Deutschen Reiche zu trennen, oder in der Scheu vor Verwicklungen, die eine vollständige staatliche Neuordnung Mittel- und Südosteuropas nach sich ziehen könnte; Tatsachen, die aber beweisen, daß die Kriegsziele der alliierten und assoziierten Staaten – ganz abgesehen von den Bestrebungen der slawischen und romanischen Auslandrevolution – tatsächlich den vollständigen Zusammenbruch des Donaustaates herbeiführen mußten, "ein von keinem verantwortlichen Staatsmann zu Anfang des Krieges für wahrscheinlich gehaltenes Ereignis" (Ray Stannard Baker).2

Wesentlich anders stellt sich die Beantwortung der Frage dar, ob die Zerschlagung der österreichisch-ungarischen Monarchie ein Kriegsziel der Entente gewesen ist, wenn man nicht nur die offizielle Politik der verantwortlichen Staatsmänner jener Mächte verfolgt, sondern auch alle jene Unterströmungen, die besonders in den zwei letzten Kriegsjahren die öffentliche Meinung der alliierten Länder in immer stärkerem Maße zu beeinflussen begannen. Die Männer, die damals die leidenschaftlichen Verfechter des Gedankens einer Neuordnung der mitteleuropäischen Staatenordnung waren, Masaryk und Benesch, Stefanik und Trumbic, Supilo und Dmowski, Tolomei und [41] Bianchi, Vuia und Maniu, Sychrava und Batisti, sie alle haben in konsequenter Verfolgung ihrer nationalistischen Pläne und Träume die Zerschlagung der Monarchie angestrebt und sie alle waren trotz mancher politischer und persönlicher Enttäuschungen niemals müde geworden, alle Kräfte dafür einzusetzen, daß die Kabinette in Paris und London, in Rom und Washington diese weitgespannten, den Krieg verlängernden Ziele aufzugreifen bereit waren. Vermißt man bei den verantwortlichen Staatsmännern der alliierten Mächte eine klare oder auch nur beiläufige Vorstellung von jenem Europa, das auf Grund der verschiedenen Geheimverträge nach der Zertrümmerung des mitteleuropäisch-deutschen Lebensraumes entstehen sollte, so ist das Weltbild, das sich die slawische und romanische Irredenta formte, zwar nicht einheitlich, aber doch klar genug, um erkennen zu lassen, wie jenes "neue Europa" aussehen sollte. Dieses hier zu entwerfen, würde ein eigenes Kapitel beanspruchen. Nur so viel sei hier gesagt: Der Friedensvertrag, der dieses Europa hätte schaffen sollen, hätte aus der Erbmasse der Donaumonarchie allein noch über eine Million deutscher Menschen, nahezu zehntausend Quadratkilometer deutschen Bodens mehr unter die Herrschaft anderer Staaten gestellt, als es durch den Vertrag von St. Germain geschehen ist. [Scriptorium merkt an: ein Beispiel hier!]

Hier interessiert uns jedoch nur die Frage: Was sollte nach den Plänen und Absichten der Verfechter einer Neuordnung Mitteleuropas mit jenen Restgebieten deutschen Bodens geschehen, die nicht den Appetit der Konnationalen erregt hatten? Denn etwas war ja doch von dem deutschen Österreich auf jener Karte übriggeblieben, die Masaryk im April 1915 in seiner Denkschrift Independent Bohemia dem englischen Staatsmann Sir Edward Grey entworfen hatte. Es ist nun bezeichnend, daß, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die gesamte, im Auslande tätige slawische Irredenta die richtige Folgerung aus ihrem Kampf um das Selbstbestimmungsrecht ihrer Völker für die Deutschen Altösterreichs nicht zu ziehen wagte, zum großen Teil auch nicht ziehen wollte. Wie immer man vom rein menschlichen Standpunkt die gewaltigen Leistungen eines Masaryk und Benesch, eines Supilo und Stefanik in ihrem Kampf um die nationale Idee beurteilen mag – und kein Historiker wird von diesem Gesichtspunkte den Schöpfern und Trägern jener Staaten eine hohe Achtung versagen können –, hier in der bewußten Ablehnung eines von ihnen selbst als sittliches Gesetz der politischen Weltordnung verkündeten Grundsatzes gegenüber dem deutschen Volke Österreichs [42] liegt eine Unehrlichkeit und Unaufrichtigkeit, die man nicht, wie es Masaryk in seinen Erinnerungen tut, mit ein paar billigen Phrasen von der "ursprünglichen Bedeutung des verminderten Österreichs als Ostreich" abtun kann. Denn daß das Wort "Ostreich-Österreich" überhaupt erst seinen ursprünglichen Sinn erhält, wenn es aus dem Gesichtswinkel einer gesamtdeutschen Einstellung aus ausgesprochen wird – "Ostreich" ist "Österreich" nur vom Kerne des deutschen und nicht etwa des tschechischen Volksbodens aus gesehen –, darüber scheint Masaryk nicht nachgedacht zu haben. Es ist ja selbstverständlich, daß sich von allem Anfange die radikalen Verkünder einer völligen Neuordnung Mittel- und Südosteuropas die Frage vorlegen mußten, was denn mit den deutschen Restgebieten Altösterreichs geschehen soll, zumal nach ihren eigenen Grundsätzen nichts näher lag als die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reiche.

Der schon oben erwähnten Denkschrift Masaryks an den damaligen englischen Staatssekretär für Auswärtiges, Sir Edward Grey, entnehmen wir, daß Masaryk drei Möglichkeiten der Entwicklung dieses Problems vorschwebten: ein selbständiges, aber mit dem Deutschen Reiche verbündetes Österreich; ein selbständiges, Frankreich nahestehendes Österreich und schließlich ein dem Deutschen Reich "einverleibtes" Österreich. Benesch wieder schien von allem Anfange (siehe seine 1916 erschienene Broschüre Détruisez l'Autriche-Hongrie) mit einem dem Deutschen Reiche verbündeten, selbständigen Restösterreich gerechnet zu haben. Nicht ganz ein Jahr nach Überreichung dieser Denkschrift in London, im Februar 1916, legte Masaryk dem damaligen französischen Außenminister Briand die Ziele der tschechoslowakischen Bewegung im Auslande dar. Wie Benesch in seinen Memoiren berichtet, erklärte Masaryk vor dem französischen Staatsmann ausdrücklich: "Begrenzung Österreichs auf die Alpenländer." Masaryk hat auch Anfang 1916 die in der Denkschrift an Grey niedergelegten Gedanken in einem allerdings erst 1918 zuerst englisch erschienenem Buche Das neue Europa erweitert. Bezeichnenderweise ist dort die Möglichkeit einer "Einverleibung" Österreichs in das Deutsche Reich zwar noch angedeutet, im Punkt 23 des dort entworfenen Programms heißt es jedoch: "Die deutschen Provinzen Österreichs werden einen selbständigen Staat bilden." Einer recht interessanten, in der russischen Zeitschrift Russkaja Wolja erschienenen Auseinandersetzung zwischen Masaryk und seinem russischen Helfer Miljukow, dem Führer der Kadettenpartei und späteren [43] Außenminister unter dem Fürsten Lwow, entnehmen wir, daß Masaryk entgegen Miljukow von allem Anfange gegen den Anschluß Österreichs war. Aus dieser Polemik geht aber auch hervor, daß sich Masaryk des Widerspruches wohl bewußt war, den er in der verschiedenen Anwendung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker – schon wegen der Sudetendeutschen – vertrat. Es bedarf nicht erst einer besonderen Betonung, daß natürlich alle übrigen tschechischen Auslandvertreter, Benesch und Stefanik, Sychrava und Osusky u. v. a., in dieser Frage mit Masaryk einer Meinung waren. Aber nicht nur sie, sondern auch die südslawisch-kroatischen Irredentisten standen ganz unter Masaryks Einfluß. So ist es erklärlich, daß auch diese entweder Anschlußgegner, wie Hinkovic (The Jugoslavs in future Europe, London 1916), waren oder aber, wie z. B. Trumbic, das Selbstbestimmungsrecht der Deutschösterreicher zwar anerkannten, im entscheidenden Augenblick aber im vorgeblichen Interesse der eigenen Sache fallen ließen.

Eine der tschechischen Auffassung entgegengesetzte Haltung zur Anschlußfrage nahm aber die polnische Auslandrevolution ein. In seiner im Frühjahr 1917 allen maßgebenden Politikern der alliierten und assoziierten Mächte überreichten Denkschrift: Problems of Central and Eastern Europa erklärte sich der Führer der polnischen Bewegung in den Ententeländern, Roman Dmowski, für den Anschluß aller deutschen Restgebiete Altösterreichs an das Deutsche Reich als Entschädigung für die von Polen beanspruchten Gebiete von Ost- und Westpreußen, Danzig und Pommerellen. Aber nicht die "Entschädigung" für den Anspruch auf jene rein deutschen Gebiete war bestimmend für diese positive Einstellung der Polen zur Anschlußfrage während des Weltkrieges, sondern ein ganz anderer Grund, den Dmowski in seinen Memoiren (Polityka polska i odbudowanie panstwa, Warschau 1926) auch offen ausspricht: "Nach meiner Überzeugung", schreibt er dort, "war es die Hauptaufgabe der Sieger, die Herrschaft Preußens über Deutschland aufzuheben. Das konnte man aber nur machen durch Angliederung der österreichischen Länder an Deutschland und durch gleichzeitige gehörige Amputation Preußens im Osten"; – eine Erwägung, der wir noch später bei der amerikanischen Friedensdelegation in Paris begegnen werden.

Eine ähnliche Stellung zur Anschlußfrage während des Weltkrieges nahm die italienische Irredenta ein. Mitte April 1915, also zur gleichen Zeit, als Masaryk seine Denkschrift in London über- [44] reichte, erschien von dem Trientiner Irredentisten Dr. Ettore Tolomei eine Schrift L'Alto Adige, in der er die Annexion Südtirols verteidigt, für Österreich aber die Wiedervereinigung mit dem deutschen Stammlande vorschlägt: "Ein geschlagenes, aber nicht gedemütigtes Deutschland" – heißt es dort – "möge sich mit den deutschen Provinzen Österreichs entschädigen." Um aber die Schweiz wegen des Münstertales und des Gebietes von Poschiavo für einen Tauschhandel zu gewinnen, bietet Tolomei Vorarlberg der Schweiz an, ein Gedanke, der ja – beschämenderweise – später von deutscher, vorarlbergischer Seite selbst aufgegriffen worden ist. Auch der reformsozialistische Abgeordnete und Minister Bissolati vertrat mit dem linksgerichteten Flügel der radikalen Irredentisten diesen positiven Standpunkt gegenüber der Anschlußfrage.

Im ganzen kann also gesagt werden, daß mit Ausnahme der Polen in erster Linie die slawische Auslandrevolution von allem Anfange gegen eine Wiedervereinigung der deutschen Restgebiete Österreichs mit dem Deutschen Reiche war, wenn sie auch bis zum Abschlusse der Friedensverträge mit dieser Möglichkeit in sehr starkem Maße gerechnet hat. Dennoch aber hat sie auch hier niemals die Klarheit geschaffen, die ihrer grundsätzlichen Einstellung zu dieser Frage entsprochen hätte. Sie war sich wohl bewußt, daß ihr Kampf um das Selbstbestimmungsrecht der Völker dadurch an innerer Wahrhaftigkeit und Stoßkraft verloren hätte, wenn sie gar zu offen zwar den "boches", so doch dem Volk eines Goethe und Beethoven das gleiche Recht der nationalen Selbstbestimmung versage. Nichts ist bezeichnender, als daß die immerhin nicht unbedeutende austrophile Richtung in den alliierten Ländern während des Krieges immer wieder auf die "Gefahr" einer Vergrößerung des besiegten Deutschen Reiches im Falle des Zerfalles der Donaumonarchie hingewiesen hat. Aber noch ein anderer Umstand zwang die slawischen Auslandvertreter zur Zurückhaltung in dieser Frage. Nie wäre ihre Tätigkeit um eine Neuordnung Europas in den alliierten und assoziierten Staaten auf so fruchtbaren Boden gefallen, wäre dieser Boden nicht in London und Paris, in Rom und Mailand, in Chicago und Washington von Persönlichkeiten vorgeackert worden, die zwar nicht führende Staatsmänner waren, aber als Politiker, Gelehrte und Menschen der Gesellschaft großen politischen, wissenschaftlichen und journalistischen Einfluß besaßen. Albert Thomas, der französische Sozialist und gegenwärtige Leiter des Internationalen Arbeitsamtes in Genf, Ernest Denis, L. Eisen- [45] mann, der Slawist an der Sorbonne, Seton Watson, der Slawist der Londoner Universität, Steed damals Außenpolitiker der Times, Franklin Bouillon, Leon Bourgois, Auguste Gauvain, der Außenpolitiker des Journal des Debats, Northcliffe und Bissolati, der Kreis um den Mailänder Corriere della Sera, Professor Borgese, Alberti, sie alle gehörten, um nur einige Namen zu nennen, zu jenen Helfershelfern Masaryks und Benesch'. Wir wissen nun heute, daß vor allem die diesem Arbeits- und Freundeskreis angehörenden Engländer für die Vereinigung Deutschösterreichs mit dem Deutschen Reiche waren, und zwar am entschiedensten gerade der Mächtigste unter ihnen: Northcliffe, der englische Propagandaminister. Im Auftrage dieses von den Militärs in seiner Allmacht viel bekämpften Mannes verfaßte Henry Wickham Steed Ende Februar 1918 eine Denkschrift über die nächsten Aufgaben der ententistischen Propaganda, die deshalb von besonderer Bedeutung ist, weil sie bis zum Ende des Weltkrieges die Richtlinien des Crewe House, wie Northcliffes Ministerium genannt wurde, festlegte. Hier heißt es in bezug auf die Deutschen Österreichs: "Wolle sich Deutschösterreich dabei an Deutschland anschließen, so ist dem nicht entgegenzuarbeiten."

Freilich, es hat in den Westmächten, wie schon angedeutet, auch sehr maßgebende Kreise gegeben, die entweder unmittelbar austrophil waren oder wenigstens eine mitteleuropäische Lösung für notwendig hielten, die keine nordwärtsschreitende "Balkanisierung Europas" zur Folge hätte. Denn nach Ansicht mancher westeuropäischer Sachkenner, wie Noel Buxton, Sir Charles Elliot, André Chéradame, Sidney Whitmann, de Vaux, Sir Horace Rumbold u. a., hatte von den drei Slawen beherrschenden Staaten Österreich-Ungarn seine Aufgabe relativ am besten gelöst. Sie waren daher gegen die Errichtung selbständiger Nationalstaaten, traten entweder für ein dem reichsdeutschen Einfluß entzogenes verkleinertes Österreich-Ungarn ein oder aber in Verfolgung der schon von Talleyrand und Kossuth vertretenen Idee für eine donauföderative Lösung in den "Vereinigten Staaten des Ostens".


 
Die Anschlußfrage auf der Pariser Friedenskonferenz 1919

Das Anschlußproblem, das heißt die Wiedervereinigung der deutschen Restgebiete Altösterreichs mit dem Deutschen Reiche, wurde, wie wir sahen, von der slawischen und romanischen Auslandrevolu- [46] tion bereits seit dem Frühjahre 1915 diskutiert; sie ist seitdem nie wieder aus der Erörterung der europäischen Fragen geschwunden, obwohl die Deutschen der österreichisch-ungarischen Monarchie sich erst mehr als drei Jahre später in Anbetracht der Kriegslage mit diesem, ihr nationales Schicksal bestimmenden Problem zu beschäftigen begannen. Wenn heute vor allem von französischer und tschechischer Seite immer wieder betont wird, daß Österreichs Festhalten an dem Anschlußgedanken eine Gefährdung des europäischen Friedens bedeute, so haben wir Österreicher dem entgegenzuhalten, daß ja nicht wir, sondern jene, schon während des Weltkrieges tätigen Kräfte, jener Geist von Versailles, St. Germain und Trianon es waren, die die Anschlußfrage als europäisches Problem geschaffen haben. Denn erst im Juli 1918 sehen wir zum erstenmal maßgebende deutsche Parlamentarier Altösterreichs bei der Erörterung der Frage, was denn nach einem Zerfall Österreich-Ungarns mit seinen Deutschen geschehen solle. Hier zum erstenmal erklärten die Vertreter sämtlicher deutscher Parteien des österreichischen Reichsrates, Wilsons Doktrin vom Selbstbestimmungsrecht der Völker auch für ihr Volk in Anspruch nehmen, nach einem eventuellen Zusammenbruche des Kaiserstaates "die engste Verbindung mit dem Deutschen Reiche herstellen" zu wollen. Eine Forderung, die zwar vor dem Weltkriege schon von einer deutschen Partei Österreichs in dieser radikalen Schärfe vertreten wurde, die aber unter 230 deutschen Abgeordneten nur drei Vertreter im Reichsrate hatte. Ebenso muß den aus gleichen Quellen stammenden Hypothesen entgegengetreten werden, die glauben machen wollen, daß der Zusammenschlußgedanke ein ursprüngliches Produkt der reichsdeutschen Politik sei. Wenn heute die reichsdeutsche Öffentlichkeit in überwiegender Mehrheit dem Anschlußgedanken bejahend gegenübersteht, so ist dies in erster Linie das erfreuliche Ergebnis der Bestrebungen der Österreicher selbst, im Reiche das Verständnis für den Gedanken der gesamtstaatlichen Einheit der Deutschen zu wecken. Als Deutschösterreich sich im November, Dezember 1918 sofort der deutschen Republik anschließen wollte, war unter den maßgebenden Staatsmännern des Reiches neben dem in dieser Frage schwankenden Außenminister Grafen Brockdorff-Rantzau nur ein einziger, der unbedingt für den sofortigen Anschluß war, nämlich Ministerialdirektor Dr. Simons. Bevor also die schon reichlich abgegriffenen Argumente auch heute immer wieder geltend gemacht werden, möge man sich in Paris und Prag doch darüber klar [47] werden, wie die Dinge entstanden sind und wo die wirklichen Kräfte liegen, die die Anschlußbewegung nicht verstummen lassen.

Wie sah nun die Entscheidung aus, die auf jener größten Friedenskonferenz der ganzen Weltgeschichte über jenes von Wilson selbst, von sämtlichen Alliierten und Assoziierten ausdrücklich anerkannten Rechtes der Selbstbestimmung der Völker, im besonderen der Österreicher, gefällt wurde, und vor allem – nachdem diese Entscheidung ja allgemein bekannt ist –, wie kam es zu dieser Entscheidung, dieser offenen, nicht wegzuleugnenden Rechtsverletzung, zu jenen Artikeln 80 und 88 der Friedensverträge von Versailles und St. Germain?

Wenn André Tardieu, zur Zeit der Pariser Friedenskonferenz ein besonderer Vertrauensmann Clemenceaus, in seiner Geschichte der Friedenskonferenz behauptet, Frankreich sei dafür eingetreten, "daß Österreich von Deutschland getrennt bleiben müsse", während "Großbritannien und die Vereinigten Staaten drei Monate lang über diese Frage diskutierten und schwankten", so entspricht dies insofern nicht ganz den Tatsachen, als das Anschlußproblem bei den oft außerordentlich kritischen Verhandlungen in Paris überhaupt nie eine besondere Rolle gespielt hat. Sie war niemals Gegenstand einer Erörterung in Kommissionen zwischen Sachverständigen und dem Viererrat. Weder die veröffentlichten, noch die bisher nicht publizierten amerikanischen Dokumente über die Pariser Verhandlungen, auch die Korrespondenz zwischen Wilson und seinem Berater House, enthalten einen Hinweis auf dieses Problem.3 Die Franzosen weigerten sich von allem Anfang, auch nur die Möglichkeit eines Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich zu diskutieren und begründeten diese ihre Haltung damit, daß das besiegte, an der ganzen Weltkatastrophe allein verantwortliche Deutsche Reich keinerlei Gebietsvermehrung erhalten dürfe, und zwar auch dann nicht, wenn es die Bevölkerung der betreffenden Gebiete wünsche. Interessanterweise war die unter dem Vorsitze des Franzosen Jules Cambon tagende interalliierte Sachverständigenkommission für die tschechoslowakischen Fragen unter Zustimmung der französischen "Sachverständigen" jedoch bereit, eventuelle Gebietsabtretungen Deutschböhmens an das Reich zu [48] erwägen – was der Viererrat (Wilson, Lloyd George, Clemenceau und Orlando) später allerdings mit Rücksicht auf die "historischen" Grenzen Böhmens ablehnte –, nicht aber den Anschluß Deutschösterreichs an das Deutsche Reich. Es wäre also falsch, anzunehmen, daß die Anschlußfrage auf der Friedenskonferenz eine auch nur annähernd so große Bedeutung gehabt habe wie die Rhein- oder Saarfrage, Danzig, Oberschlesien, Dalmatien, Kleinasien oder Schantung, daß dieses Problem "drei Monate lang" ein Streit- und Diskussionsgegenstand des Dreier-, Vierer- oder Zehnerrates gewesen sei. In der von Temperley geleiteten, von dem Institute of International Affairs herausgegebenen offiziellen englischen Geschichte der Pariser Friedenskonferenz wird behauptet, daß der französische Vorschlag zur Lösung der Anschlußfrage, obwohl der "unmöglichste", deshalb von allem Anfange die sicherste Aussicht auf Durchführung hatte, weil er von Frankreich und seinen kleinen Verbündeten als so "selbstverständlich" hingestellt wurde, daß die meisten übrigen Mächte an seiner Sinn- und Zweckmäßigkeit kaum je zweifelten und ihn auch annahmen, ohne ihn je genau geprüft zu haben. Aber nicht diese französische Stellungnahme allein war die Ursache, daß die Anschlußfrage in Paris eine so untergeordnete Rolle gespielt hat. Von Bedeutung war auch der Umstand, daß der völlige Zusammenbruch des Habsburgerstaates für die Alliierten so überraschend gekommen war, daß die Friedenskonferenz vor einem fait accompli stand und es uns Deutschösterreichern in dem Wirbel der sich überstürzenden Ereignisse nicht gelungen war, uns bei der politischen Welt Gehör zu verschaffen. Vor allem Wilson und Lloyd George standen diesen Vorgängen hilflos gegenüber, ohne eine auch nur annähernde Kenntnis von der ungeheuren Kompliziertheit der mittel- und südosteuropäischen Verhältnisse zu haben. Und so sehen wir besonders diese beiden angelsächsischen Staatsmänner bei den vertraulichen Beratungen in Paris immer wieder auf der Karte Europas mühevoll und umständlich Orte und Landschaften suchen, die sonst jedem Schuljungen des Festlandes geläufig sind. Gerade an Wilson, der, wie Masaryk einmal sagte, die Dinge in Europa wie durch ein verkehrtes Fernrohr betrachtete, sollte sich das prophetische Wort Ratzels "von dem Unheil, das amerikanische oder asiatische Staatsmänner mit ihrem weiten Weltblick in dem engen, komplizierten, historisch so verstrickten Aufbau Europas notwendig anrichten müßten", bitter erfüllen. Was sind, fragt Haushofer einmal irgendwo, für Wilson, [49] Hoover usw. Herzlandschaften des deutschen Volkes mehr als gleich große Landschaften ihres Kolonialbodens?

Als Wilson Anfang Jänner 1918 daran ging, ein klar umschriebenes Programm über "Kriegsziele und Friedensbedingungen" auszuarbeiten, seine berühmten 14 Punkte in das streitende Europa schleuderte, da hielt er in bezug auf die Völker der Österreichisch-ungarischen Monarchie noch an jenen Grundsätzen fest, die ihm eine amerikanische Untersuchungskommission unter Leitung des Dr. Mezes kurze Zeit vorher in einem Gutachten ausgearbeitet hatte. Denn jener Punkt X seiner 14 Punkte ist nahezu wörtlich diesem Gutachten entnommen, wo es ausdrücklich heißt: "Daher muß unsere Politik (gegen Österreich-Ungarn, Anm. d. Verf.) zunächst darin bestehen, die nationalistische Unzufriedenheit aufzustacheln, danach aber in der Ablehnung die äußerste Konsequenz aus dieser Unzufriedenheit zu ziehen, die die Zertrümmerung Österreich-Ungarns bedeuten würde." Das heißt, Wilson erstrebte noch im Jänner 1918 nichts anderes, als was der letzte Habsburg-Lothringer mit seinem Manifest vom 16. Oktober 1918 erreichen wollte: die Erhaltung der Monarchie als föderativen Staat, in dem den Völkern "die freieste Möglichkeit autonomer Entwicklung gewährt" ("self-government") wird. Vier Monate nach dieser Kundgebung Wilsons traf Masaryk in Washington ein, trat dort in persönliche Fühlung mit dem amerikanischen Präsidenten, und wieder vier Monate später war Wilson für Masaryks Ideen gewonnen. So erklärt es sich auch, daß Wilson seinen ursprünglichen Standpunkt gegenüber den Nationen Österreich-Ungarns geändert und ihn in der an die schwedische Regierung gerichteten Note vom 18. Oktober 1918 auch ausdrücklich widerrufen hat. Diese von dem damaligen Staatssekretär für Äußeres, Robert Lansing, unterzeichnete Note ist für die Anschlußfrage deswegen von größter Bedeutung, weil darin die amerikanische Regierung besonders anerkennt, daß "der Präsident nicht mehr in der Lage ist, die bloße Autonomie dieser Völker (der Tschechoslowaken und Südslawen, Anm. d. Verf.) als Grundlage für den Frieden anzuerkennen, sondern gezwungen ist, darauf zu bestehen, daß sie und nicht er Richter darüber sein sollen, welche Aktion auf seiten der österreichisch-ungarischen Regierung die Aspirationen und die Auffassung der Völker von ihren Rechten und von ihrer Bestimmung als Mitglieder der Familie der Nationen befriedigen wird". Da diese Note keinen Vorbehalt in bezug auf die Deutschen Österreichs enthält, bedeutet sie auch die [50] Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Alpen- und Sudetendeutschen.

Diese Note ist zwar, da nicht auch im Namen der Alliierten unterzeichnet, nur für die Vereinigten Staaten von Amerika bindend. Jedoch, es unterliegt keinem Zweifel, daß auch die Entente vor den Waffenstillstandsverhandlungen im November 1918 sowohl Österreich als auch dem Deutschen Reich gegenüber Verpflichtungen eingegangen war, die ihr nicht nur die moralische, sondern auch rechtliche Möglichkeit nahm, den Anschluß Österreichs an das Reich zu verbieten. Denn es war, um nach dem Wortlaut der Note der Pariser Friedenskonferenz vom 16. Juni 1919 an die deutsche Friedensdelegation zu zitieren, vereinbart worden, daß "der Friedensvertrag als Grundlage die 14 Punkte aus der Rede des Präsidenten Wilson vom 8. Jänner 1918 haben sollte, unter Berücksichtigung der Änderungen durch das Memorandum der Alliierten in der Note des Präsidenten vom 5. November 1918, sowie die Grundsätze für eine Regelung, wie sie vom Präsidenten Wilson in seinen weiteren Reden, insbesondere in seiner Rede vom 27. September 1918 ausgesprochen worden sind. Das sind die Grundsätze, die im November 1918 zur Einstellung der Feindseligkeiten geführt haben". Unter diesen "Grundsätzen" ist in bezug auf die Anschlußfrage der Punkt II der vier Punkte Wilsons, formuliert in der in Mount Vernon am Grabe Washingtons am 4. Juli 1918 gehaltenen Rede, besonders wichtig. Er lautet: "Regelung aller Fragen, sowohl der Gebiets- wie der Souveränitätsfragen, der wirtschaftlichen Vereinbarungen und politischen Regelung durch das Volk, das unmittelbar davon betroffen ist, und nicht auf der Grundlage des materiellen Interesses oder Vorteils irgend eines anderen Volkes, das eine andere Regelung zur Ausbreitung seines Einflusses oder seiner Herrschaft wünscht." Doch nicht nur das! Die Entente hat jene Grundsätze Wilsons – von zwei Vorbehalten abgesehen, die hier ohne Belang sind – nicht nur als Grundlage des Friedensvertrages, wie es in der oben zitierten Ententenote vom 16. Juni 1919 irreführenderweise heißt, anerkannt, sondern als "Friedensbedingungen", wie der amerikanische Staatssekretär in der Note vom 5. November 1918 die deutsche Regierung wissen ließ.4 Um es [51] also vorwegzunehmen: Die Artikel 80 und 88 der Friedensverträge sind eine nicht zu leugnende Verletzung jener Grundsätze, die die Entente und Amerika ausdrücklich anerkannt und auf Grund deren die Mittelmächte die Waffen niedergelegt haben, um den Frieden zu schließen.

Uns ist keine Äußerung, keine Niederschrift Wilsons bekannt, aus der seine Stellungnahme zu der besonderen Schicksalsfrage der Deutschen Altösterreichs zu entnehmen wäre. In einer zwischen Wilson und Seymour auf der Überfahrt nach Europa auf dem "George Washington" im Dezember 1918 erfolgten Unterredung äußerte sich Amerikas Präsident dahingehend, daß nach seiner Meinung die österreichische Anschlußbewegung lediglich eine temporäre Erscheinung sei, die verebben werde, sobald die wirtschaftlichen Folgen des langen Krieges in Österreich geschwunden sein werden.5 Aus Kundgebungen dreier anderer, zur Zeit der Pariser Friedensverhandlungen maßgebender amerikanischer Persönlichkeiten wissen wir jedoch, daß die amerikanische Delegation für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reiche war. Lansing hatte, wie er in seinen Erinnerungen selbst berichtet, am 21. September 1918 – also noch vor dem Zusammenbruch der Donaumonarchie – für den inneren Gebrauch der amerikanischen Regierung ein Memorandum über die Friedensprobleme entworfen, in dem es heißt: "Reduzierung Österreichs auf die alten Grenzen unter dem Titel eines Erzherzogtums. Einverleibung des Erzherzogtums in den Bundesstaat des Deutschen Reiches." Ebenso sehen die namens des Auswärtigen Ausschusses des Senates Mitte Dezember 1918 für die Friedenskonferenz von Senator Lodge aufgestellten 21 Richtlinien die Vereinigung Tirols mit Bayern, Restösterreichs mit dem deutschen Bundesstaat vor. Dem entsprechend verzeichnet auch die bisher nicht veröffentlichte, von der amerikanischen Sachverständigenkommission unter Seymour ausgearbeitete Denkschrift für die Pariser Verhandlungen den Anschluß als einen Punkt des amerikanischen Friedensprogramms.

Weit weniger klar war in den Tagen vor Beginn der Pariser Friedenskonferenz die Haltung Großbritanniens. Während im [52] November 1918 Northcliffe schrieb, es sei selbstverständlich, daß das Recht der freien Selbstbestimmung auch "den deutschen Provinzen Österreichs, falls sie Deutschland als Bundesstaat beitreten wollten, nicht streitig gemacht werden könne", Keynes, der spätere Hauptvertreter des englischen Schatzamtes in Paris, schon damals offen für den Anschluß eintrat, hüllte sich Lloyd George völlig in Schweigen, schmiedete wie immer zwei oder gar drei Eisen im Feuer. Eine direkt anschlußgegnerische Politik trieb jedoch der Vorsitzende der englischen Militärkommission in Wien, Oberst Cunningham, der stets von möglichen Zugeständnissen sprach, die Österreich in Paris erwarten könne, wenn es auf den Zusammenschluß verzichte.

Eine Strömung für den Anschluß gab es in der italienischen Öffentlichkeit, freilich, wie sich erst während der Verhandlungen in Paris herausstellen sollte, um diese Forderung gegen die französischen (Donauföderations-) Bestrebungen in Mitteleuropa ausspielen zu können und sofort dann fallen zu lassen, nachdem die italienische Schlacht in Paris verloren war. Jedenfalls waren nicht nur der Minister Bissolati Ende Dezember 1918 für den Anschluß Österreichs einschließlich Südtirols an den "neu zu errichtenden deutschen Volksstaat", sondern – ohne Südtirol – auch viel weiter rechts gerichtete Persönlichkeiten der italienischen Politik eingetreten. Wenn auch vorerst nicht offen, so doch tatsächlich ablehnend gegen den Anschluß scheint die Haltung der italienischen Delegation in Paris gewesen zu sein, um so mehr, als Sonnino – wie auch Frankreich, wenn auch aus anderen Gründen – wegen der Annexion Südtirols eine gemeinsame Grenze zwischen dem Deutschen Reich und Italien fürchtete.

Über die Stellungnahme der kleinen Staaten, vor allem der Tschechoslowakei, Südslawiens und Rumäniens, zur Anschlußfrage braucht hier kein Wort verloren zu werden. Denn erstens bewegten sich deren Vertreter nur in den Vorzimmern der Pariser Beratungsräume, und dann war ihre Stellung ebenso klar und eindeutig gegen den Anschluß wie die Frankreichs. Obwohl Paris in der Note vom 29. November und 2. Dezember 1918 über den vorläufigen Verhandlungsplan für die Friedenskonferenz an die amerikanische Regierung "die vorläufige Annahme der Verfassung neuer, unabhängiger Staaten aus den Gebieten der ehemaligen russischen und österreichisch-ungarischen Kaiser- [53] reiche" vorgeschlagen hatte, bedeutete dies natürlich für Frankreich in keiner Weise eine auch nur vorläufige Billigung der deutschösterreichischen Verfassung vom 12. November 1918. Faktisch anerkannten die alliierten und assoziierten Mächte erst in der Note vom 29. Mai 1919 "die neue deutschösterreichische Republik unter der Bezeichnung Österreich". Bereits am 29. Dezember 1918 hielt der damalige französische Minister für Äußeres, Stephan Pichon, in der französischen Kammer unter Zustimmung aller Parteien, mit Ausnahme der äußersten Linken, eine Rede, in der er scharf gegen den Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten Stellung nahm (siehe Dokumentensammlung in meinem Buche über den großdeutschen Gedanken). Unter allen alliierten "Sachverständigen" hatte eigentlich nur Tardieu und mit ihm Clemenceau ein fertiges Friedensprogramm und das sah die staatliche Selbständigkeit Österreichs unter wirtschaftlicher Anlehnung an die neuen Staaten des Donaubeckens vor. Hand in Hand mit dem englischen Oberst Cunningham trieb in Wien der französische Oberst Vyx eine militärische Intrigenpolitik, die Frankreich sogar durch Errichtung eigener Nachrichtenagenturen gegen die Anschlußbewegung in Österreich (z. B. die Agence Centrale in Basel) besonders pflegte. Es fällt aus dem Rahmen dieser Ausführungen, würde aber einer mit bitterster Ironie getränkter Feder bedürfen, um das zu schildern, was sich damals durch Frankreichs Politik und die seiner kleinen Verbündeten unter Führung des Gesandten Allizé hinter den Kulissen da und dort in Wien abgespielt hat. Raffinierte und ungeschickte Beeinflussungsversuche der öffentlichen Meinung des hungernden Landes, der sich gewisse Boulevardorgane Wiens aus naheliegenden Gründen bis zum heutigen Tag noch nicht zu entziehen vermochten. Wenige Tage vor Beginn der am 18. Jänner 1919 eröffneten Friedenskonferenz in Paris schrieb der Temps: "Wir wollen Zentraleuropa in Übereinstimmung mit den französischen Interessen wieder aufbauen." Was Frankreich damit verfolgte, war nichts anderes, als was aus dem Erbe Ludwig XIV. seit Jahrhunderten seine Politik bestimmte: Schwächung der Mitte Europas zum Vorteil der eigenen nationalen und imperialistischen Politik. Denn – so urteilt der Chef des amerikanischen Pressebureaus bei der Pariser Konferenz, Ray Stannard Baker – "falls sich Deutschösterreich Deutschland anschließen würde, so würde dieser Zu- [54] wachs gerade den Verlust von Elsaß-Lothringen und vom linken Rheinufer ausgleichen, außerdem bedeutete das auch für Deutschland eine äußerst gefährliche Ausbreitung rund um Südböhmen und in sehr reiche Gebiete. Ein abgetrenntes Österreich hingegen würde diesen Weg versperren und könnte sogar, wie Diplomaten alten Stiles hofften, zu einem weiteren Trabanten Frankreichs gemacht werden. So wurde das Verbot jeder Art der Vereinigung Österreichs mit Deutschlands zu einem festen Element des französischen Planens".

Noch ist der Schleier nicht von jenen internsten Vorgängen auf der Pariser Friedenskonferenz gehoben, um klarer erkennen zu lassen, welche Rolle das Anschlußproblem bei dem Feilschen der Sieger um die reiche Beute gespielt hat. Immerhin kann aus den bisher veröffentlichten Dokumenten, Memoiren und Informationen, die der Verfasser bei maßgebenden Persönlichkeiten der Pariser Konferenz einholen konnte, mit ziemlicher Sicherheit geschlossen werden, daß in Paris drei Lösungen des österreichischen Problems, wenn auch nicht als ein nur irgendwie bedeutender Punkt der oft heiß umstrittenen Tagesordnung, so doch erwogen und diskutiert wurden: Erstens eine föderative, wirtschaftliche Union Neuösterreichs mit einem oder mehr Nachbarstaaten, also eine Art Donauföderation; zweitens der Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich und schließlich drittens die Errichtung eines unabhängigen "Österreichs" unter eventuellem Schutze des Völkerbundes. Der ersten Lösung neigten Briand, Tardieu u. a. zu; der zweiten standen die amerikanische und englische Delegation nahe. Die Amerikaner bezeichnenderweise aber nicht zuerst deshalb, weil dies ihren Grundsätzen von einem "gerechten Frieden" entsprochen hätte, sondern – wie Seymour in seinem mit House herausgegebenen Buche verrät – weil sie glaubten und hofften, daß der deutschösterreichische Volksstamm im deutschen Staat eine "ausgleichende Tendenz" gegenüber dem "Preußentum" zeigen würde. Die dritte Lösung trat erst in den Vordergrund als der erste Lösungsversuch vor allem auf den Widerstand der kleinen Staaten und ihrer französischen Helfershelfer gestoßen war. Dazwischen lagen natürlich verschiedene Spielarten der Lösung, die sich untereinander – von dem jeweiligen politischen Zweckwillen ihres Vertreters bestimmt – unterschieden. Im Dezember 1918 veröffentlichte der Buren- [55] general Smuts, das einzige nichtenglische Mitglied des britischen Kriegskabinetts – ein in der britischen Geschichte noch nie dagewesener Fall – Vorschläge für einen Völkerbund, betitelt: The League of Nations, a Practical Suggestion, wo er für die Gebiete, die von den besiegten Mächten abgetrennt werden sollten, ein "System der Mandate" vorschlug. Auch er sah eine Art Donauföderation, einen Bund der Donaustaaten vor, der jedoch Deutschösterreichs Anschluß noch nicht ausschloß, zumal Smuts bekanntlich zu den entschiedensten Anhängern des Selbstbestimmungsrechtes der Völker gehört. Lord Robert Cecils Mißtrauen gegen die staatspolitischen Fähigkeiten der jungen Völker hinderte ihn vor dem Optimismus eines Smuts, obwohl auch er folgerichtig den Gedanken des Selbstbestimmungsrechtes vertrat. Besonders Smuts Entwurf für einen Völkerbund hat auf Wilson einen tiefen Eindruck hinterlassen, so daß er erst durch dessen Vorschläge auf den Gedanken kam, das Mandatssystem auf die deutschen Kolonien zu übertragen. Von Lloyd George besitzen wir aus der kritischen Zeit der Pariser Friedens Verhandlungen "einige Betrachtungen für die Friedenskonferenz vor dem endgültigen Entwurf ihrer Bedingungen", das sogenannte Dokument von Fontainebleu vom 26. März 1919, das zwar nichts über das Schicksal der deutschen Teile Österreichs verrät, aus dessen III. Teil B man aber schließen kann, daß der damalige britische Premierminister zumindestens nicht gegen den Anschluß gewesen ist, zumal er in dieser von Clemenceau voll bitterstem Hohn aufgenommenen Denkschrift "auf das schärfste dagegen" Stellung nimmt, "mehr Deutsche als unerläßlich notwendig ist, der deutschen Herrschaft zu entziehen, um sie einer anderen Nation zu unterstellen", wie Lloyd George ja überhaupt scharf gegen die "elenden Ambitionen" der "politischen und militärischen Satelitten Frankreichs" gewesen ist. Aber England war, wie Guglielmo Ferrero in seinen Erinnerungen berichtet, "bei europäischen Angelegenheiten – Rhein, Österreich, Böhmen, Polen usw. – wie abwesend, halb verschlafen ohne eine klare und bestimmte Meinung, als ob es sich um einen anderen Planeten handelte".

Wie kam es nun aber bei dieser auf der Pariser Friedenskonferenz verhältnismäßig günstigen Stimmung für den Anschluß Deutschösterreichs an das Deutsche Reich dennoch zu jenen Artikeln 80 und 88 der Friedensverträge? Es ist heute eine infolge [56] der Politik des allzufrüh verstorbenen Reichsaußenministers Dr. Stresemann – eines warmen Anschlußfreundes – vielfach vergessene Tatsache, daß Frankreich auf der Pariser Konferenz nicht nur die Annexion Elsaß-Lothringens und des Saargebietes forderte, sondern auch die Lostrennung des linken Rheinufers als eines selbständigen, von Frankreich abhängigen Pufferstaates. Und zwar sah Frankreich die Möglichkeit dieser Politik nicht allein in der, besonders von Foch und Poincaré, immer wieder eifrig vertretenen direkten Annexion, sondern in einer langjährigen Okkupation, in einer Politik, die mit dem Ruhreinbruch im Jahre 1923 ihren Höhepunkt erreicht hat. Diese von Frankreich mit großer Zähigkeit verteidigten Forderungen waren es, die die Friedenskonferenz beinahe gesprengt hätten. Denn schon war am 7. April 1919 Wilsons Schiff nach Brest befohlen worden, um den amerikanischen Präsidenten ohne Frieden in seine Heimat zurückzubringen! Schon schien es, als ob durch diese Forderungen Frankreichs auf das linke Rheinufer die aus allen Wunden blutende Welt in ein noch größeres Chaos gestürzt werden sollte! Endlich, Anfang April 1919, mußte Clemenceau nachgeben. Aber dafür, daß Frankreich der Monroedoktrin in den Völkerbundstatuten zugestimmt, auf eine direkte Annexion des Saargebietes, auf eine mehr als 15jährige Besetzung des linken Rheinufers verzichtet hatte, mußten Wilson und Lloyd George Clemenceau ganz bedeutende Zugeständnisse machen. So entstanden der Garantievertrag der Mächte für Frankreichs Sicherheit, der allerdings später infolge Amerikas Widerstand wieder scheiterte, das Recht des Völkerbundes, die deutschen Rüstungen zu überwachen, das für Frankreich günstige Kompromiß in den syrisch-armenischen Fragen, die polnischen Grenzen und schließlich das Anschlußverbot. Mit dem Abkommen über das linke Rheinufer vom 16. April 1919 war aber auch über das Verbot der Wiedervereinigung Deutschösterreichs mit dem Deutschen Reich tatsächlich die Entscheidung gefallen, wenn auch noch einmal während der italienischen Krise diese Frage eine Rolle spielen sollte. So erhielt bereits am 3. Mai 1919 das deutschösterreichische Staatsamt für Äußeres aus Paris die amtliche Mitteilung, daß die Alliierten beschlossen hätten, Deutschösterreich in einen neutralisierten Freistaat unter Garantie des Völkerbundes umzuwandeln. Es ist wesentlich, daß das Anschluß"verbot" schon [57] zu einer Zeit festgelegt war, als die von Wilson und Lloyd George weit unterschätzten Fragen Mittel- und Südosteuropas überhaupt noch nicht geklärt waren. Das heißt, man betrachtete dieses Verbot in erster Linie als eine gegenüber der deutschen und nicht der deutschösterreichischen Republik zu erhebende Forderung, was sich auch, wie wir noch sehen werden, aus der Entstehung und Textierung der Artikel 80 und 88 nachweisen läßt.

Der Konflikt mit Italien, der abermals die Pariser Verhandlungen zum Scheitern zu bringen drohte, brach am 14. April aus, als man beschlossen hatte, die deutsche Delegation nach Versailles zu rufen, ehe die aus der Erbmasse der Österreichisch-ungarischen Monarchie sich ergebenden Fragen geregelt waren, Italien somit mit Recht fürchten mußte, daß seine weitgespannten Forderungen nach einem Friedensschluß mit dem Deutschen Reich keine Erfüllung finden werden. Diese Krise hatte Wilsons berühmten "Aufruf an die Völker" vom 23. April 1919 zur Folge, in dem er in diesem Zusammenhang aus nicht erklärlichen Gründen indirekt gegen den Anschluß Stellung nahm (siehe Dokumentensammlung in meinem oben erwähnten Buch), ebenso wie er Südtirol in der Hoffnung, Fiume und Dalmatien dem südslawischen Staat erhalten zu können, den Italienern mit leichter Hand überließ. In dieser Lage versuchte die italienische Delegation die Anschlußfrage gegen den Widerstand des nun in allen Fragen einigen Dreierrates gegen die italienischen Adriaforderungen auszuspielen, um sie aber sofort wieder fallen zu lassen, als sich zeigte, daß damit nichts mehr zu erreichen war. Am 18. Mai 1919 beschloß ein in Rom zusammengetretener Ministerrat unter dem Vorsitz Sonninos bezüglich der bevorstehenden, tatsächlich aber nur mehr formellen Entscheidung über die Anschlußfrage sich der Mehrheit der alliierten Mächte zu fügen, vorausgesetzt, daß Italiens Ansprüche in Südtirol und Fiume anerkannt werden.6

[58] Aber noch ehe die italienische Regierung am 18. Mai diese ihre endgültige Zustimmung zur Aufnahme des Anschlußverbotes in dem Friedensvertrag von Versailles gegeben hatte, war nicht nur, wie schon erwähnt, die tatsächliche Entscheidung über diese Bestimmung bereits gefallen, sondern es waren schon am 7. Mai 1919 der deutschen Delegation die Friedensbestimmungen übermittelt worden, in denen die Unantastbarkeit der "Unabhängigkeit" Österreichs im Artikel 80 festgelegt war. Allerdings hatte dieser Artikel in dem ersten Entwurf des Versailler Vertrages noch einen anderen Wortlaut als in dem endgültigen Vertrag vom 28. Juni 1919. Er lautete dort: "Deutschland erkennt unbedingt die Unabhängigkeit Österreichs in den durch den gegenwärtigen Vertrag festgesetzten Grenzen an und wird sie als unabänderlich achten, außer in Übereinstimmung mit dem Rat des Völkerbundes." Wenige Tage später, am 16. Mai übermittelte Clemenceau der deutschen Friedensdelegation einige Berichtigungen zum Friedensvertragsentwurf, durch die der Artikel 80 geändert folgende schärfere Fassung erhielt: "Deutschland anerkennt die Unabhängigkeit Österreichs und wird sie streng in den durch den gegenwärtigen Vertrag festgesetzten Grenzen als unabänderlich beachten, es sei denn mit Zustimmung des Rates des Völkerbundes." Die dritte und letzte Fassung erhielt dieser Artikel durch die Antwort der Alliierten und Assoziierten auf die Bemerkungen der deutschen Delegation zu den Friedensbestimmungen vom 16. Juni 1919, die ja allgemein bekannt ist und heute – vor allem von Frankreich damals allerdings als ein dauerndes Verbot verstanden – die wichtigste völkerrechtliche Grundlage für die Durchführung des Zusammenschlusses bildet. Aus welchen Gründen dieser Artikel des Versailler Vertrages nicht weniger als dreimal geändert wurde, ist nach den spärlichen Quellen über die Pariser Friedenskonferenz nicht ganz ersichtlich. Im wesentlichen dürfte wohl auch hier der Kampf zwischen Clemenceau und Wilson, zwischen der Machtpolitik Frankreichs und der von dem amerikanischen Präsidenten vertretenen Ideologie entscheidend gewesen sein, in dem immer, wie Keynes mit besonderem Hinweis auf die Anschlußfrage betont, "der Imperialismus in der [59] Sache und die Demokratie in der Ausdrucksweise siegte". Es ist immerhin interessant festzustellen, daß die Alliierten ursprünglich beabsichtigten, den Artikel 80 nur dem Versailler Vertrag einzuverleiben, nicht aber auch dem mit Deutschösterreich zu schließenden Friedensvertrag. Tatsächlich enthalten die zwei ersten Entwürfe des Staatsvertrages von St. Germain-en-Laye vom 2. Juni, respektive 20. Juli 1919 keinerlei Bestimmung gegen den Anschluß. Erst im dritten und letzten Wortlaut vom 2. September 1919 erscheint im Artikel 88 jene gleiche, dem Deutschen Reich – und auch Ungarn im Trianoner Vertrag – auferlegte Bestimmung. Temperley begründet diese Haltung der Entente damit, daß der Artikel 61 der deutschen Reichsverfassung die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten vorsah. In Wirklichkeit scheint man in Paris aber unter Benesch' Einfluß befürchtet zu haben, der Anschluß könne doch von österreichischer Seite vollzogen werden, eine Tatsache, die man weder damals noch heute gerne wahr haben möchte.

Als am 26. Mai 1920 der Staatsvertrag von St. Germain in der französischen Kammer zur Debatte stand, rechtfertigte Andre Tardieu, der als Unterhändler Frankreichs an der Ausarbeitung des Vertrages teilgenommen hatte, das "Anschlußverbot" damit, daß "der Vertrag mit seinem Artikel 88, der die Vereinigung Österreichs mit Deutschland untersagt, von fünf Sechsteln der österreichischen Versammlung angenommen" worden ist. Man muß es offen aussprechen: Wohl eine der schamlosesten Heuchelei, die jemals über die Lippen eines verantwortlichen Staatsmannes gekommen ist und über die kein Wort verloren zu werden braucht, denn jeder weiß, daß dem schon durch die Waffenstillstandbedingungen und durch den allgemeinen Zusammenbruch des alten Staates völlig entwaffneten, zum Teile vom Feinde besetzten, aller Rohstoffe und Lebensmittel baren, dem Verhungern nahen Deutschösterreich nichts anderes übrig geblieben war, als sich unter einstimmigem Protest der Gewalt der Gegner zu beugen.

Deutschösterreichs Staatsgebiet nach der ursprünglichen Staatserklärung und in den heutigen Grenzen.
[60]      Deutschösterreichs Staatsgebiet nach der ursprünglichen Staatserklärung und in den heutigen Grenzen.

War die Wiedervereinigung Deutschösterreichs mit dem Deutschen Reich 1918/19 möglich? Diese Frage kann ohne eine sehr gründliche Untersuchung aller innerpolitischer Umstände der damaligen Anschlußbewegung nicht beantwortet werden. Nach den hier unternommenen Untersuchungen über die Ent- [60] stehung der Anschlußfrage als eines europäischen Problems muß sie aber verneint werden. Verkörpert die deutsche Geschichte nach Hebbels bitterem Ausspruch den Grundsatz aller Tragik, hier standen wir einer vis major gegenüber, gegen die wir damals, arm an äußeren wie an inneren, seelischen Kräften, völlig machtlos waren. Es unterliegt keinem Zweifel, daß des letzten kaiserlichen deutschen Botschafters in Wien, des Grafen Wedel, ernste Warnung an Deutschösterreich, den Anschluß sofort zu vollziehen, sonst drohe dem Gesamtvolke im Westen eine ungeheure Gefahr, in Erfüllung gegangen wäre, hätte Österreich dem heißen Impuls seines Herzens nachgeben können. Der 1918/19 vollzogene Zusammenschluß hätte von Frankreich und der Friedenskonferenz kaum wieder rückgängig gemacht werden können. Aber es ist fast sicher, daß die Opfer dieses Zusammenschlusses damals die Saar und der Rhein gewesen wären. Diese Feststellungen sollen die schweren Fehler der in jenen Tagen verant- [61] wortlichen Reichsregierung nicht entschuldigen, sondern nur Tatsachen klarlegen, die ausgesprochen werden müssen, um aus ihnen für eine bessere Zukunft zu lernen.


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1Siehe besonders: Glaise-Horstenau: Die Weltkatastrophe, Zürich-Wien-Leipzig 1929. – Opocensky: Konec Monarchie Rakousko-Uherské, Prag 1928. – Masaryk, Th. G.: Die Weltrevolution, Berlin 1925. – Benesch, Edv.: Der Aufstand der Nationen, Berlin 1928. – Sisic: Dokumenti o postanku kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca 1914–1919, Zagreb 1919. ...zurück...

2Im Widerspruche zu dieser immer wieder zu beobachtenden Tatsache der Überraschung der Ententestaaten über den Zusammenbruch der Österreichisch-ungarischen Monarchie steht der Umstand, daß heute Äußerungen und Dokumente aus den Ententeländern lange vor dem Weltkriege bekannt sind, die von einem möglichen Zerfalle des Donaustaates sprechen. So wurde z. B. die 1892/93 geschlossene französisch-russische Konvention, wie Poincaré selbst berichtet (Les origines de la guerre), 1899 in einer Klausel nur deshalb geändert, weil man in Paris und Petersburg nach dem Tode des Kaisers Franz Joseph I. oder nach einem "Zerfall Österreichs" mit der Möglichkeit einer Auflösung des Dreibundes rechnete. ...zurück...

3Der Verfasser dankt diese Information Herrn Universitätsprofessor Doktor Charles Seymour in New Haven, zur Zeit der Friedenskonferenz Chef der österreichisch-ungarischen Abteilung der amerikanischen Sachverständigenkommission in Paris. ...zurück...

4Siehe Näheres darüber in dem ausgezeichneten Buch des französischen Gesandten Alcide Ebray: Der unsaubere Friede, Berlin 1925, und Churchill, Winston: Nach dem Kriege (deutsche Ausgabe), Zürich/Leipzig/Wien 1930, S. 103 ff. ...zurück...

5Auch diese Mitteilung dankt der Verfasser Professor Dr. Charles Seymour. ...zurück...

6Die in Paul Herres verdienstvollem Buch über die Südtiroler Frage und in einigen Tageszeitungen vom Juni 1919 angeführte Stellungnahme des damaligen römischen Kabinettes zu einer die Annexion Südtirols betreffenden Note Deutschösterreichs vom 16. Juni 1919 an die italienische Regierung scheint, wie der damalige Staatssekretär für Äußeres, Dr. Otto Bauer, dem Verfasser auch bestätigt, den Tatsachen nicht zu entsprechen. Nach dieser angeblich von dem damaligen politischen Kommissär der italienischen Regierung in Wien mitgeteilten Version soll sich die italienische Regierung bereit erklärt haben, möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkte die von Deutschösterreich übermittelte Note als Grundlage für Konzessionen in der Südtiroler Frage zu benützen, vorausgesetzt, daß der Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich erfolge. ...zurück...

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Die Anschlußfrage
in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung

Friedrich F. G. Kleinwaechter & Heinz von Paller