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Deutschland und der Korridor

 
Das Korridorproblem
in der internationalen Diskussion (Teil 2)

Ulrich Wendland

Die internationale Diskussion 1925-1933 (Teil 2)

Die schriftlich niedergelegten Zeugnisse

Frankreich

Schon am 15. April 1925 war in der Pariser Information zu lesen: "Die Verfassung von Danzig, Ostpreußen und dem Weichselkorridor, so wie sie das Ergebnis des Versailler Vertrags ist, kann nicht als etwas Endgültiges betrachtet werden." Bald darauf griff der französische Politiker A. Ebray in seinem Buch La Paix malpropre (1925) den Korridor [285] als eine moralisch wie juristisch ungerechtfertigte und für Deutschland untragbare Schöpfung an. Damals drahtete auch der Pariser Korrespondent des Manchester Guardian seinem Blatt, Frankreich würde einen Verzicht Polens auf den "als unhaltbar geltenden" Korridor begrüßen. Entgegen den stetigen Behauptungen der französischen Zeitungen Temps, Matin und Figaro, daß der Korridor rechtmäßig und für Deutschland kaum nachteilig sei, bezeichnete L. Claudon in der Revue des deux mondes (1926) die Lage Danzigs und seines Hinterlandes als änderungsbedürftig und fand damit schließlich auch bei den Pariser Blättern Petit Parisien, Populaire, Paris midi, Echo de Paris,
 
Korridorbeispiele
in fremden Ländern
als Vorstellung

Der Korridor, wie er in Versailles für Polen geschaffen wurde, steht in der Welt ohne Beispiel da. Er ist zu einem Begriff geworden, der als gegeben und damit vielleicht vielfach als selbstverständlich hingenommen wird. Der Widersinn dieses Korridors wird aber vollends klar, wenn man sich ähnliche Korridore in anderen Teilen der Welt vorstellt. Solche Korridorbeispiele als Vorstellung werden in diesen acht Karten gezeigt.
Ein schwedischer Korridor durch Norwegen
Ein schwedischer Korridor
durch Norwegen

Ein Schweizer Korridor durch Frankreich
Ein Schweizer Korridor
durch Frankreich

Ein Schweizer Korridor durch Italien
Ein Schweizer Korridor
durch Italien

Ein bolivianischer Korridor durch Chile
Ein bolivianischer Korridor
durch Chile

Ein tibetischer Korridor durch Indien
Ein tibetischer Korridor
durch Indien

Ein Korridor Paraguays durch Brasilien
Ein Korridor Paraguays
durch Brasilien

Ein afghanischer Korridor durch Indien
Ein afghanischer Korridor
durch Indien

Ein südslawischer Korridor durch Griechenland
Ein südslawischer Korridor
durch Griechenland

Soir
und Volonté Zustimmung. Dieser Zeit gehören die recht bezeichnenden Äußerungen aus dem Munde zweier französischer Politiker an, daß der Korridor "ein Pfahl im Fleische Deutschlands" (Senator M. Cheneboit) und "das Europa zu verseuchen drohende Geschwür" (A. Dauzat) sei. Trotz seiner offensichtlichen Sympathie für Polen gab A. Fabre-Luce in seinem bekannten Buch Locarno sans rêves (1927) zu, daß die in Versailles geschaffene Lage an der Weichselmündung höchst besorgniserregend und für Polen im Grunde nur eine Belastung sei. Während die pro-polnischen Journalisten vom Schlage W. d'Ormessons und J. Sauerweins gelegentlich ein baldiges Schwinden des "Mißvergnügens" an der deutsch-polnischen Grenzziehung zu wünschen für nötig erachteten, forderten die Zeitungen Information, Quotidien, L'Ordre und République beharrlich eine schnelle Lösung des Korridorproblems. "Das ist tatsächlich die schwere Frage, welche die beiden Länder (Deutschland und Polen) trennt und immer trennen wird," schrieb G. Peytavi Faugère in seinem Buch Vive la Pologne, Monsieur! (1928). Der Chefredakteur des sozialistischen Le Soir R. Tourly brachte von seinen östlichen Studienreisen die in zwei Büchern (Le Conflit de demain: Berlin - Varsovie - Danzig, 1928 und Derrière les Brumes de la Vistule, 1929) eindrucksvoll vertretene Überzeugung mit, daß die Grenzziehung an der unteren Weichsel "die Zerstückelung eines lebendigen Körpers" und "ein Unding" sei, das schleunigst verschwinden müsse. Völlig einer Meinung mit Tourly erklärt sich in der Broschüre Et demain? France, Allemagne et Pologne (1929) der Professor P. Valmigère, der schon 1926 in der großen französischen Zeitung Dépêche de Toulouse ein Ostlocarno gefordert hatte. Auf der Suche nach einem den Korridor "unsichtbar machenden" Kompromiß und vielfach verschwommen sind die Schriften von I. Bainville: Les Conséquences politiques de la Paix, G. Blun: L'Allemagne mise en nu, M. Pernot: L'épreuve de la Pologne und L'Allemagne d'aujourd-hui und G. Roux: Les Alpes ou le Rhin? (1928). Durch die polnische Brille sehen R. Martial: La Pologne jadis et de nos jours (1928) und vor allem E. Pezet: Où va la Pologne? (1930). Wie stark und wirksam die polnische Propaganda in Frankreich der Revisionsarbeit entgegenarbeitete, zeigt am deutlichsten das von der Polnischen Bibliothek herausgegebene Sammelwerk La Pologne et la Baltique (1931), worin sogar angesehene französische Gelehrte (Bourgeois, Pagès, Hauser usw.) geradezu kritiklos die polnischen Thesen nachsprechen. Dagegen bezeichnete der Pariser Professor G. Raphael (Allemagne et Pologne, 1932) die deutschpolnische Grenzziehung als einen die ganze Welt beunruhigenden, eingewurzelten Konflikt, und Anfang 1933 äußerte ein anderer französischer Gelehrter, Professor A. Bayet, dem Vertreter der République gegenüber: "Seit fünf Jahren trete ich... vor allem für die Beseitigung des Korridors ein, der einen unhaltbaren Zustand in Europa geschaffen hat. Während ich anfangs auf Proteste und Verständnislosigkeit stieß, stimmen mir heute die Zuhörer rückhaltlos bei: 'Man solle den Deutschen den Korridor zurückgeben.' Wenn ich ein Deutscher wäre, gäbe es für mich keine andere Frage als die Beseitigung des Korridors."

[286]
England

Sieht man von den rein polnisch orientierten Referaten in The new Republic (August 1924), English Review (1925) und Fortnightly Review (1925 ff.) ab, so ist eine ernsthafte Beschäftigung mit der Korridorfrage in England zuerst in den gemäßigten Linksblättern festzustellen. Schon im Februar und März 1925 schrieb der Chefredakteur des Observer J. L. Garvin, der Korridor, um den England nie einen Krieg führen werde, sei höchst revisionsbedürftig, und fügte im Winter 1925 hinzu, es handele sich hier um eine "unhaltbare Anomalie" und in England wie Frankreich "träte jeder Mensch mit gesundem Verstand für die Abänderung der deutsch-polnischen Grenze ein". Ähnlich befürwortete der Manchester Guardian unablässig die sofortige Wiedergutmachung des durch die Versailler Weichselgrenzen angerichteten Schadens. Das Blatt Daily News forderte sogar Lloyd George auf, sich für die Beseitigung des "nach der Meinung des letzten Engländers unhaltbaren Korridors" einzusetzen. Im Mai 1925 befaßte sich sogar das englische Parlament mit einer für Außenminister Chamberlain vom Auswärtigen Amt eigens hergestellten Denkschrift, worin die Ersetzung des Danziger durch einen Memel-Korridor erwogen wurde. Die Zeitschrift The Nation and Athenaeum (September 1926) riet ernstlich, eilends die ständige Unruhe bereitende Danziger Frage zu lösen, ehe Deutschland stark genug sei, selbst darüber zu verhandeln, wobei dann das "Verhandeln" allerdings einen anderen Sinn haben werde. Eine abwartende, zum Teil sogar deutlich polenfreundliche Haltung zeigten indessen die konservativen Organe Morning Post und Daily Telegraph sowie die Times, obwohl in ihnen mancherlei revisionsfreudige Zuschriften veröffentlicht wurden. Offen Partei für die Polen nahm zunächst der linksradikale Daily Herald, der seine Informationen aus Warschau allerdings auch von einem polnischen Sozialisten bezog. Das erste einschlägige englische Buch, R. B. Hansens Poland's Westward Trend (1926), deckte Polens auf die Oderlinie hinstrebende Expansionsgelüste auf. Größtes Verständnis für die durch Versailles in Ostdeutschland geschaffene Lage bewies der dem Unterhaus als Labourabgeordneter angehörende frühere Marineoffizier J. M. Kenworthy (heute Lord Strabolgi) in seinem Buch Will Civilisation Crash? (1927), aus dessen neuntem Kapitel hier folgende Sätze zitiert seien: "Mit der Zuweisung rein deutschen Gebiets im Osten an die Polen werden sie (die Deutschen) sich nie abfinden.... Ich halte es nicht für notwendig, mich zu entschuldigen, wenn ich immer wieder betone, wie nachteilig und aufreizend für Deutschland der polnische Korridor ist.... Eins aber kann man Europa mit unfehlbarer Sicherheit voraussagen: Die gegenwärtigen polnischen Grenzen werden nicht bestehen bleiben. Sie können entweder auf friedlichem Wege oder durch Kampf geändert werden." Bald darauf stellt der seine loyale Polenfreundschaft betonende englische Abgeordnete F. C. Linfield in einem eindringlichen Aufsatz (Current History, New York, Februar 1928) die bange Frage: "Wird Großbritannien in den Krieg ziehen zur Aufrechterhaltung einer Grenze, die in einer Atmosphäre der Leidenschaft von Männern mit zerrütteten Nerven gezogen und vom Weltgewissen verurteilt worden ist?" Gegen Kenworthys und Linfields ernste, sachliche Darstellung sticht sehr unvorteilhaft ab die einseitig propolnische, zum Teil geradezu frivole Veröffentlichung Eagles Black and White (1929) von Poliakow, der jahrelang für die Times und andere englische Blätter unter dem Decknamen "Augurs" geschrieben hat. Zur Kennzeichnung dieser Schrift genüge "Augurs" ebenso gerechte wie humane Schlußfolgerung, daß man, da doch keine wirklich beide Teile befriedigende Lösungsmöglichkeit bestände, den Korridor unter Ignorierung der Forderungen des machtlosen Deutschlands am besten im gegenwärtigen Zustand belasse. Das Jahr 1930 brachte ein beträchtliches Anwachsen der Revisionsbewegung in England. Zwei dieser Zeit angehörende Bücher Britain and the Baltic von Major E. W. Polson-Newman und The Fruits of Folly von einem ungenannten Verfasser (vermutlich dem englischen Journalisten Lyon) gingen ausführlich auf das Korridorproblem ein. "Zurückblickend kann man schwer einsehen, warum Deutschland zerrissen und die Saat so vieler künftiger Konflikte gesät wurde, nur um Ambitionen zu befriedigen, die weder rechtlich noch logisch begründet waren. Tatsächlich bedarf Polen weder eines freien Zugangs zur See noch der Kontrolle über den Danziger Hafen", heißt es in Fruits of Folly; und weiter: "Das ist eine offene Wunde, welche die Zeit nie heilen wird.... Es ist aber auch gewiß, daß in einem geeigneten, möglicherweise noch in ziemlicher Ferne liegenden Augenblick die Deutschen bis zum letzten Atemzug dafür kämpfen werden, um gerade diese Änderung (der Korridorverhältnisse) herbeizuführen, nicht auf Antrieb einer Militärclique, nicht aus Eroberungslust sondern einfach und allein, weil die gesamte Nation aufrichtig glaubt, daß die Zerschneidung Deutschlands ein unerträgliches Unrecht darstellt.... Daß Deutschland der Sieger sein würde, ist unvermeidlich." Einen ähnlichen Standpunkt vertritt, freilich in gedämpfterer Tonart, Polson-Newmans Buch. Für eine Neutralisierung des Korridorgebiets setzte sich anläßlich der Tagung des Pen-Clubs in Warschau Anfang Juli 1930 sogar der berühmte Schriftsteller J. Galsworthy ein, während der bekannte Kriminalschriftsteller E. Wallace seine mißbilligende Äußerung über den Korridor alsbald widerrief. Von Greenwall erschien in dem zunächst der Korridorerörterung fernstehenden Daily Express (Mai 1932) eine auf eigenen Erfahrungen beruhende Artikelreihe über "Die klaffende Wunde im Osten Deutschlands", und im Evening Standard (Oktober 1932) schilderte der Parlamentarier Crossley unter der Überschrift "Das Pulvermagazin Europas" den "unerträglichen Zustand" an der unteren Weichsel. Schließlich ließen sich sogar der Deutschland nicht eben günstig gesonnene W. Steed (Sunday Times, 1932) und der Franzosenfreund Brigadegeneral Spears (Daily Telegraph, 1932) dazu herbei, die Berechtigung der Deutschen zu ihren Beschwerden über die Ostgrenze anzuerkennen. In dem Buch Germany Under the Treaty (1933) ging der Oxforder Professor W. H. Dawson dem Korridorproblem mit wissenschaftlicher Gründlichkeit zu Leibe und empfahl den Polen dringend, auf diese besonders unheilvolle Versailler Schöpfung mit Ausnahme etwa von Gdingen und einem gewissen Landstreifen zugunsten Deutschlands zu verzichten. Selbst in den lange Zeit indifferenten oder geradezu revisionsfeindlichen Blättern Englands mehrten sich die Stimmen für die Bereinigung der Korridorfrage. So gestand der frühere Berater der Reparationskommission L. Ditmas (Morning Post, Mai 1933), die Korridorschaffung sei ein "scheußlicher Fehler" gewesen, und gleichzeitig schrieb das konservative Unterhausmitglied M. W. Beaumont (Times, Mai 1933), daß seiner Ansicht nach keine deutsche Regierung je die Rechtmäßigkeit der gegenwärtigen Korridorregelung anerkennen werde und daß sie dafür auch sehr gute Gründe habe. Allerdings verteidigte wenig später an der gleichen Stelle (Times, Juni 1933) der an der Pariser Konferenz beteiligt gewesene ehemalige britische Diplomat Lord Howard of Penrith die Rechtmäßigkeit der Korridorschaffung mit den alten, längst tausendfach widerlegten Argumenten von 1919.

 
Italien

In Italien ergriff am frühesten das Wort für eine Beseitigung des von ihm mehrfach unhaltbar, widersinnig und lächerlich genannten Korridors der schon erwähnte frühere Finanzminister und spätere Ministerpräsident des demokratischen Systems F. Nitti in mehreren, in fast allen Weltsprachen erschienenen Büchern, von denen hier namentlich Das friedlose [288] Europa (1922) und Der Niedergang Europas (1923) angeführt seien. Bald (1925) nahmen auch größere Zeitungen wie Corriere della serra und Epoca in gleichem Sinne ausführlich Stellung. Eine Leistung von Niveau und bleibendem Wert ist das ebenfalls aus dieser Zeit stammende Buch La Risurrezione della Polonia von F. Tommasini, der aus eigener Kenntnis und nach intensivem Studium den Korridor als "hybrides Gebilde" und "unheilbare Wunde im lebenden Fleisch Deutschlands" kennzeichnete. Nicht müde geworden ist das faschistische Italien, die dringende Notwendigkeit einer Änderung der Weichselgrenzen zu betonen. Mussolini selbst sagte bereits im Herbst 1930 dem Sonderberichterstatter der Saturday Review: "Die Polen täten gut daran, ihre Haltung zu ändern, um nicht ihre Existenz aufs Spiel zu setzen." Damals erschienen die trotz verschiedenster Einstellung übereinstimmend die "gefährliche Absurdität" des Korridors betonenden Arbeiten 1919-1929. Da Versailles all'Aja von dem Turiner Gelehrten A. Cabiati und Balcani di Nord-Est von S. de Cesare, der übrigens bald darauf in der Zeitschrift Critica fascista (1930) die Entscheidung in der Korridorfrage bereits für das Jahr 1932 voraussagen zu können glaubte.

 
Verschiedene

Auf die zahlreichen, natürlich sehr verschiedenartigen, aber seit 1930 wachsendes Verständnis für eine Änderung aufbringenden Beiträge zum Korridorproblem, die aus Skandinavien, Holland, der Schweiz, Ungarn und anderen europäischen Ländern stammen, kann hier nicht eingegangen werden, um nicht ins Uferlose zu geraten. Nicht unerwähnt bleiben darf aber das in Frankreich 1920 viel Aufsehen erregende und französisch geschriebene geistvolle Buch Quo vadis, Polonia? Sein Autor, der frühere russische Diplomat W. K. von Korostowetz, ein ausgezeichneter Kenner der Verhältnisse, gelangte zu der Schlußfolgerung: "Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Grenzziehung des Versailler Vertrags in Osteuropa unhaltbar ist und daß die Großmächte über kurz oder lang dazu kommen werden, daß Danzig und der Korridor seinem rechtmäßigen geschichtlichen Besitzer Deutschland zurückgegeben werden müssen."

 
Amerika

In Nordamerika ist eine wirkliche Diskussion über den Korridor erst gegen 1930 in Gang gekommen. Allerdings wies der keineswegs deutschfreundliche Amerikaner I. Bakeless (The Origin of the Next War, 1926) schon früh auf diese denkbar mißliche und verdrießliche, für ein wieder wehrhaftes Deutschland ganz unerträgliche Lösung von Versailles hin. Ebenso nannte der Amerikaner F. H. Simonds schon 1928 (How Europe Made Peace Without America) den Korridor eine von den Briten eigentlich nie angenommene und für beständig gehaltene Paradoxie und sprach vier Jahre später vom polnischen Korridor als der Versinnbildlichung der Mißstände im gegenwärtigen Europa. Sonst beruhten vorerst fast alle Veröffentlichungen ausschließlich auf dem Material, das die in Amerika ungemein rege polnische Propaganda den Autoren freigiebig zuleitete. Das gilt auch von dem ersten größeren Spezialwerk America and the New Poland (1928) von H. H. Fisher, der bei allem Streben nach Objektivität doch immer wieder im Dickicht des propolnischen Materials sich verfängt. Unermüdlich und schließlich auch erfolgreich war für die Aufklärung seiner Landsleute über die Korridorfrage im revisionistischen Sinne der derzeitige Vorsitzende des Auswärtigen Senatsausschusses, Senator Borah, tätig. Seine Meinung teilten im wesentlichen dann (1931) auch [289] Präsident Hoover und der Deutschland zumindest kühl gegenüberstehende frühere Staatssekretär des Äußeren, Stimson. Viel gelesen wurde das Buch Embattled Borders (1931) von Oberst E. A. Powell, einem jahrelang in Europa als Kriegsberichterstatter tätig gewesenen, sachkundigen Beobachter, der "das Pulverfaß" des Korridors "eine politische Mißgeburt und eine strategische Unsinnigkeit" hieß und sogar in ziemlich deutschfeindlichen Zeitschriften für die Rückgabe wenigstens des deutschen Danzigs und des nördlichen Korridorteils an das Reich eintrat. Ein sicheres Zeichen für die Aktualität der Korridorfrage war es, daß die Versailler Weichselgrenzen zum beliebten Gegenstand der von der "New England Model League of Nations Assembly" veranstalteten akademischen Disputationen wurden. In der Presse erschienen jetzt Aufsätze von Amerikanern, die sich an Ort und Stelle über die Korridorverhältnisse informiert hatten und ihren amerikanischen Lesern ein von dem üblichen, polnisch gefärbten, wesentlich abweichendes Bild vermittelten. In Rundfunkvorträgen kamen gelegentlich sogar deutsche Sachkenner neben Polen zu Wort. G. N. Shuster, der Leiter der amerikanischen katholischen Zeitschrift The Commonwealth, zog sich zwar bissige Angriffe von den amerikanischen Polen zu, gab aber sicher der Meinung Ungezählter seiner Volksgenossen Ausdruck, wenn er 1932 in seinem Buch The Germans. An Inquiry and an Estimate folgende Sätze schrieb: "Ein Blick auf die Landkarte genügt, um zu zeigen, daß grundsätzlich das Wesen von Deutschlands (östlichen) Grenzverlusten darin liegt, daß sie der Wehrpolitik Frankreichs zugute kommen.... Auf jeden Fall hat der Korridor, so wie er jetzt besteht, die Welt mit politischen und wirtschaftlichen Problemen, wie sie schwerer überhaupt nicht sein können, belastet.... Gebiete, die fraglos dem Recht und der Geschichte nach deutsch sind, sind abgeschnitten worden.... Kein ausländischer Journalist hat jemals das Gebiet (des Korridors) besucht, ohne genug zu sehen und zu erfahren, was ihn erschrecken müßte." In seinem gleichzeitigen Buch The Cauldron Boils faßte der amerikanische Publizist E. Lengyel seine polnischen Reiseeindrücke so zusammen: "Polen ist das Land vieler Probleme. Überall, wohin der Beobachter sich wendet, steht er vor einem neuen Problem. Der Korridor ist das schlimmste von ihnen, weil dort die Feindschaft stärker und das Gefühl der Ungerechtigkeit brennender ist als sonst irgendwo."



 
Nachlese und Schluß

Seit 1934 ist die internationale Diskussion der Korridorfrage zum Stillstand gekommen. Hin und wieder aufklingende Zeitungsstimmen drangen kaum durch. Wohl mehr als ein Versuchsballon zu bewerten sind die im Spätherbst 1938 in der englischen Presse auftauchenden, immerhin bemerkenswert leidenschaftslosen Erwägungen, daß nun nach der Münchener Begegnung Deutschland und Polen in der Danziger und Korridorfrage wohl bald einen Vergleich erzielen würden. Sonst erschienen nur einige wenige Veröffentlichungen vornehmlich von angelsächsischer Seite, ohne jedoch wirklich neue Gesichtspunkte zu bringen; meist ist sogar ein merkbarer Rückgang der Revisionsfreudigkeit festzustellen. Hier sei nur die materialreiche, belesene Arbeit von I. F. D. Morrow The Peace Settlement in the German-Polish Borderlands genannt, die vom Königlichen Institut für Internationale Angelegenheiten in London 1936 herausgebracht wurde. Darin wird wohl gelegentlich von der "Crux" des Korridors, von der polnischen "Torheit", den Hafen Gdingen zu errichten, und von dem verhängnisvollen Versagen der angeblich zu stark von idealistischen Grundsätzen und optimistischen Anschauungen erfüllt gewesenen Pariser Konferenz gesprochen. Auch wird zugegeben, daß die Abtrennung Danzigs und Westpreußens für den deutschen Nationalstolz nur schwer erträglich ist. Andererseits ist es für [290] Morrows Buch bezeichnend, daß er nicht das geringste Verständnis für das neue Deutschland aufbringt und Behauptungen aufstellt wie die, daß der Korridor wirtschaftlich eigentlich nur die "ostelbischen Junker" schädige. Resigniert stellt der Verfasser abschließend fest, daß es "am Ausgang des zweiten Jahrtausends der Christlichen Aera tragisch ist", zugeben zu müssen, daß alteingewurzelte völkische (racial) Gegensätze im Ostraum eine wirkliche Befriedung und eine verständnisvolle Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Polen verhindert haben.

Dem Irrtum, daß die Anfang 1934 von Adolf Hitler angebahnte deutsch-polnische Verständigung auch Deutschlands Aufgabe seiner berechtigten Forderungen auf eine angemessene Lösung der östlichen Grenzprobleme bedeute, huldigt Morrows Werk allerdings nicht. Dieser Täuschung aber gab man sich vielfach in Europa wie in Amerika hin. Daher, ferner aus der an Deutschland gewiß nicht zuschanden gewordenen Hoffnung, daß diese deutsch-polnische Verständigung zu einer reibungslosen und vernünftigen Lösung der Korridorfrage führen werde, und vor allem aus der von interessierten internationalen Kreisen gesäten Saat der Verleumdung und des Hasses gegen das Dritte Reich erklärt sich der zunächst unbegreifliche Umstand, daß die offenbare Revisionsfreudigkeit des Auslands in der Korridorfrage nicht nur einschlief sondern schließlich sogar ins Gegenteil umschlug.

Die schwerste Verantwortung jedoch trifft die maßgeblichen Staatsmänner der Welt - Italien ausgenommen -, daß sie nicht schon längst die Konsequenzen aus den von ihren eigenen Ländern weitestgehend als berechtigt anerkannten deutschen Ansprüchen gezogen haben. Heute aber ist das neuerstandene Deutschland, so sehr es den Frieden liebt und im Gefühl seiner Stärke zu einer seinen Belangen angemessenen Verständigung stets bereit ist, zur Erlangung seines heiligen Rechts nicht mehr auf Appelle an das einstweilen imaginäre Weltgewissen und auf die schwankende Gunst des Auslands angewiesen.


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