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Erstes Kapitel
Entwicklung der Deutsch-Polnischen Beziehungen

A. Der Kampf gegen das Deutschtum in Polen
und gegen Danzig von 1919 bis 1933

I. Zur Lage der deutschen Volksgruppe in Polen

Nr. 1
Aus dem Memorandum des Britischen Premierministers Lloyd George,
25. März 1919

"Einige Erwägungen für die Friedenskonferenz,
ehe sie ihre Bedingungen endgültig festsetzt"

(Übersetzung)

..... Die Aufrechterhaltung des Friedens wird davon abhängen, daß keine Ursachen zur Verzweiflung vorhanden sind, die dauernd den Geist des Patriotismus, der Gerechtigkeit oder des "fair play" aufstacheln. Unsere Bedingungen dürfen hart, sogar grausam und selbst erbarmungslos sein, um Genugtuung zu erlangen, aber gleichzeitig können sie so gerecht sein, daß das Land, dem sie auferlegt werden, in seinem Herzen fühlen wird, daß es kein Recht zur Klage hat. Aber Ungerechtigkeit und Anmaßung, ausgespielt in der Stunde des Triumphes, werden nie vergessen und vergeben werden.

Aus diesen Gründen bin ich auf das schärfste dagegen, mehr Deutsche, als unerläßlich nötig ist, der deutschen Herrschaft zu entziehen, um sie einer anderen Nation zu unterstellen. Ich kann mir keine stärkere Ursache für einen künftigen Krieg vorstellen, als daß das deutsche Volk, das sich zweifellos als eine der kraftvollsten und mächtigsten Rassen der Welt erwiesen hat, rings von einer Anzahl kleiner Staaten umgeben werden soll, von denen viele aus Völkern bestehen, die noch nie vorher eine stabile Regierung aufgestellt haben, aber jeder breite Massen von Deutschen einschließt, die die Vereinigung mit ihrem Heimatland fordern. Der Vorschlag der polnischen Kommission, 2.100.000 Deutsche der Aufsicht eines Volkes von anderer Religion zu unterstellen, das noch niemals im Laufe seiner Geschichte die Fähigkeit zu stabiler Selbstregierung bewiesen hat, muß meiner Beurteilung nach früher oder später zu einem neuen Krieg in Osteuropa führen.....




Nr. 2
Aus den Bemerkungen der Deutschen Friedensdelegation
zu den Friedensbedingungen, 29. Mai 19191

..... Durch die in Artikel 27 und 28 vorgesehene Regelung der territorialen Fragen im Osten werden dem polnischen Staat mehr oder minder große Teile der preußischen Provinzen Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen und [4] Schlesien zugeteilt, die nicht von unbestreitbar polnischer Bevölkerung bewohnt werden. Unbekümmert um ethnographische Gesichtspunkte werden zahlreiche deutsche Städte, weite rein deutsche Landstrecken zu Polen geschlagen, nur damit Polen günstige militärische Grenzen gegen Deutschland oder wichtige Eisenbahnknotenpunkte erhält. Unterschiedslos werden Gebiete, die in verschiedenen Jahrhunderten von Polen losgelöst sind oder in denen es überhaupt nie geherrscht hat, jetzt ihm zugesprochen. Die Annahme der vorgeschlagenen Regelung würde deshalb eine Vergewaltigung von großen unbestreitbar deutschen Gebieten bedeuten. Eine solche Regelung würde außerdem den Wilsonschen Grundsätzen widersprechen, daß bei Ordnung der nationalen Fragen vermieden werden soll, "neue Elemente des Zwistes und der Gegnerschaft zu schaffen oder alte derartige Elemente zu verewigen, die wahrscheinlich mit der Zeit den Frieden Europas und somit der Welt stören würden".....




Nr. 3
Der Vorsitzende des Obersten Rates der Alliierten
und Assoziierten Hauptmächte Clemenceau
an den Polnischen Ministerpräsidenten Paderewski

Auszug
(Übersetzung)
Paris, den 24. Juni 1919

..... Im Namen des Obersten Rates der Alliierten und Assoziierten Hauptmächte habe ich die Ehre, Ihnen hiermit den Text des Vertrages in seiner endgültigen Form mitzuteilen, um dessen Unterzeichnung Polen auf Grund von Artikel 93 des Vertrages mit Deutschland bei Gelegenheit der Bestätigung der Anerkennung Polens als unabhängiger Staat und der zu seinen Gunsten erfolgten Übertragung der Gebiete, welche dem ehemaligen Deutschen Reich angehörten und Polen durch den genannten Vertrag zugeteilt werden, ersucht werden wird.

..... Gleichermaßen muß ich Ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, daß die polnische Nation die Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit den Anstrengungen und Opfern der Mächte verdankt, in deren Namen ich mich an Sie wende. Es ist der Entscheidung dieser Mächte zu danken, daß die Wiederherstellung der polnischen Souveränität über die in Frage stehenden Gebiete und die Einbeziehung der Bewohner dieser Gebiete in die polnische Nation im Begriffe sind verwirklicht zu werden. Um diese Gebiete in voller Sicherheit besitzen zu können, wird Polen in Zukunft weitgehend von der Unterstützung abhängig sein, die die Hilfsmittel dieser Staaten dem Völkerbund gewähren werden. Hieraus erwächst daher für diese Mächte die Verpflichtung, welcher sie sich nicht entziehen können, in der dauerhaftesten und feierlichsten Form die Garantie gewisser wesentlicher Rechte sicherzustellen, welche den Einwohnern einen notwendigen Schutz geben werden, welches auch immer die Veränderungen sein mögen, die in der inneren Verfassung des polnischen Staates eintreten könnten.

..... Um dieser Verpflichtung nachzukommen, ist Artikel 93 in den Friedensvertrag mit Deutschland eingesetzt worden.

..... Es ist eine neue Lage, die die Mächte jetzt zu erwägen haben, und die Erfahrung hat gezeigt, daß neue Bestimmungen notwendig sind. Die Gebiete, [5] welche jetzt an Polen und andere Staaten übergehen, umfassen unvermeidlicherweise eine beträchtliche Bevölkerung, welche andere Sprachen spricht und anderen Rassen angehört als das Volk, welchem sie einverleibt wird. Unglücklicherweise sind die Rassen durch lange Jahre bitterer Feindschaft getrennt gewesen. Es ist anzunehmen, daß diese Bevölkerungsteile sich leichter in ihre neue Lage finden werden, wenn sie von Anfang an wissen, daß sie sicher sein können, in wirksamer Weise gegen jedes Risiko einer ungerechten Behandlung oder Unterdrückung geschützt und sichergestellt zu sein. Die bloße Tatsache, zu wissen, daß diese Garantien vorhanden sind, wird hoffentlich die von allen gewünschte Verständigung wirklich erleichtern und in der Tat dazu beitragen, zu verhindern, daß es notwendig wird, sie mit Gewalt aufzuerlegen.

Was die individuellen Bestimmungen des vorliegenden Vertrages betrifft, so garantiert Artikel 2 allen Bewohnern die Grundrechte, die in allen zivilisierten Staaten tatsächlich gewährleistet sind.

Die Bestimmungen 3 bis 6 bezwecken, jeder Person, welche tatsächlich in dem unter die polnische Souveränität kommenden Gebiet wohnt, alle die Privilegien zu sichern, welche dem Mitbürger gebühren. Die Artikel 7 und 8 bestimmen im Einklang mit dem Vorhergehenden, daß kein Unterschied in der Behandlung gemacht werden soll zum Nachteil der polnischen Bürger, welche durch ihre Religion, ihre Sprache oder ihre Rasse von der großen Menge der polnischen Bevölkerung verschieden sind. Wir glauben zu wissen, daß die Polnische Regierung, weit davon entfernt, irgendeinen Einwand gegen den Inhalt dieser Artikel zu erheben, bereits ihrerseits ihre feste Entschlossenheit erklärt hat, die in ihnen zum Ausdruck gebrachten Grundprinzipien zu den Grundlagen ihrer Einrichtungen zu machen.

Die folgenden Artikel haben einen etwas andersartigen Charakter, indem sie gewissen Minderheitengruppen noch weitere besondere Rechte zugestehen.....




Nr. 4
Vertrag zwischen den Alliierten und Assoziierten Hauptmächten
und Polen, Versailles, 28. Juni 1919

Auszug
(Übersetzung)

Artikel l
Polen verpflichtet sich, die in den Artikeln 2 bis 8 dieses Kapitels enthaltenen Bestimmungen als Grundgesetze anzuerkennen mit der Wirkung, daß kein Gesetz, keine Verordnung und keine amtliche Handlung im Gegensatz oder Widerspruch zu ihnen stehen und daß kein Gesetz, keine Verordnung und keine amtliche Handlung gegen sie Geltung beanspruchen darf.

Artikel 2
Die Polnische Regierung verpflichtet sich, allen Einwohnern ohne Unterschied der Geburt, Nationalität, Sprache, Rasse oder Religion vollen und ganzen Schutz ihres Lebens und ihrer Freiheit zu gewähren.

Alle Einwohner Polens sollen das Recht auf freie, öffentliche und private Ausübung jedes Bekenntnisses, jeder Religion oder jedes Glaubens haben, deren Betätigung nicht mit der öffentlichen Ordnung und den guten Sitten unvereinbar ist.

[6]

Artikel 7
Alle polnischen Staatsangehörigen sind vor dem Gesetze gleich und genießen die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte, ohne Unterschied der Rasse, Sprache oder Religion.

Der Unterschied der Religion, des Glaubens oder des Bekenntnisses darf keinem polnischen Staatsangehörigen im Genusse der bürgerlichen oder politischen Rechte schaden, insbesondere bei der Zulassung zu öffentlichen Ämtern, Tätigkeiten und Ehrenstellungen oder bei der Ausübung der verschiedenen Berufe und Gewerbe.

Es darf keine Bestimmung erlassen werden, die die polnischen Staatsangehörigen im freien Gebrauch irgendeiner Sprache irgendwie beschränkt, weder in ihren privaten oder wirtschaftlichen Beziehungen, noch auf dem Gebiete der Religion, der Presse oder bei Veröffentlichungen jeder Art, noch in öffentlichen Versammlungen.

Unbeschadet der Festsetzung einer Staats- und Amtssprache durch die Polnische Regierung müssen den fremdsprachlichen polnischen Staatsangehörigen angemessene Erleichterungen für den mündlichen oder schriftlichen Gebrauch ihrer Sprache vor den Gerichten gewährt werden.

Artikel 8
Die polnischen Staatsangehörigen, die einer völkischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit angehören, sollen die gleiche Behandlung und die gleichen rechtlichen and tatsächlichen Sicherheiten genießen wie die anderen polnischen Staatsangehörigen. Sie sollen insbesondere das gleiche Recht haben, auf ihre Kosten Wohlfahrts-, religiöse oder soziale Einrichtungen, Schulen und andere Erziehungsanstalten zu errichten, zu leiten und zu beaufsichtigen und in ihnen ihre Sprache frei zu gebrauchen und ihre Religion frei auszuüben.

Artikel 9
Auf dem Gebiete des öffentlichen Unterrichtswesen soll die Polnische Regierung in den Städten und Bezirken, in denen in beträchtlichem Verhältnis fremdsprachige polnische Staatsangehörige wohnen, angemessene Erleichterungen schaffen, um sicherzustellen, daß in den Elementarschulen den Kindern dieser polnischen Staatsangehörigen der Unterricht in ihrer eigenen Sprache erteilt wird. Diese Bestimmung soll nicht ausschließen, daß die Polnische Regierung in diesen Schulen die polnische Sprache zum Pflichtfach macht.

In den Städten und Bezirken, in denen in beträchtlichem Verhältnis polnische Staatsangehörige wohnen, die einer völkischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit angehören, soll für diese Minderheiten ein gerechter Anteil an dem Genuß und an der Verwendung der Summen sichergestellt werden, die in den staatlichen, kommunalen und anderen Haushaltsplänen für Zwecke der Erziehung, der Religion oder der Wohltätigkeit ausgeworfen werden.

Die Bestimmungen dieses Artikels finden nur auf die polnischen Staatsangehörigen deutscher Sprache in den Teilen Polens Anwendung, die am 1. August 1914 deutsches Gebiet waren.

Artikel l2
Polen ist damit einverstanden, daß, insoweit die Bestimmungen der vorstehenden Artikel Personen einer völkischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit betreffen, diese Bestimmungen Verpflichtungen von internationalem Interesse begründen und unter die Garantie des Völkerbundes gestellt werden. [7] Sie können nur mit Zustimmung der Mehrheit des Völkerbundsrates geändert werden. Die Vereinigten Staaten von Amerika, das Britische Reich, Frankreich, Italien und Japan verpflichten sich, keiner Abänderung der bezeichneten Artikel ihre Zustimmung zu versagen, wenn sie von der Mehrheit des Völkerbundsrates formgerecht angenommen worden ist.

Polen ist damit einverstanden, daß jedes Mitglied des Völkerbundsrates befugt ist, die Aufmerksamkeit des Rates auf jede Verletzung oder jede Gefahr einer Verletzung irgendeiner dieser Verpflichtungen zu lenken, und daß der Rat befugt ist, alle Maßnahmen zu treffen und alle Weisungen zu geben, die nach Lage des Falles zweckmäßig und wirksam erscheinen.

Polen ist ferner damit einverstanden, daß im Falle einer Meinungsverschiedenheit zwischen der Polnischen Regierung und einer jeden Alliierten und Assoziierten Hauptmacht oder jeder Macht, die Mitglied des Völkerbundsrates ist, über die rechtlichen und tatsächlichen Fragen, die diese Artikel betreffen, diese Meinungsverschiedenheit als Streit anzusehen ist, der im Sinne des Artikels 14 der Völkerbundssatzung internationalen Charakter trägt. Die Polnische Regierung ist damit einverstanden, daß jeder Streit dieser Art auf Verlangen des anderen Teils vor den Ständigen Internationalen Gerichtshof gebracht wird. Diese Entscheidung des Ständigen Internationalen Gerichtshofes soll endgültig sein und dieselbe Kraft und Wirkung haben wie eine auf Grund des Artikels 13 der Völkerbundssatzung gefällte Entscheidung.




Nr. 5
Durch den Deutschen Gesandten in Warschau
im Polnischen Außenministerium übergebene Aufzeichnung,
20. November 1920

Auszug

..... Bisher ist von einer Sammlung und Einreichung des deutscherseits zahlreich vorliegenden Beschwerdematerials abgesehen worden, weil die Deutsche Regierung der Hoffnung lebte, die infolge der damaligen kriegerischen Ereignisse erregte Stimmung an den beiderseitigen Grenzen würde durch besonnene Haltung der Bevölkerung und der amtlichen Stellen sich allmählich beruhigen. Deswegen ist auch vermieden worden, durch Bekanntmachung besonders belastender Fälle in der Presse die Öffentlichkeit in Deutschland erneut zu erregen.

Nunmehr sieht sich die Deutsche Regierung aber genötigt, angesichts der dauernden amtlichen Schritte der Polnischen Gesandtschaft in Berlin und der meist gleichzeitig erscheinenden Ankündigung solcher Schritte in der polnischen Presse sowie mit Rücksicht auf die hierdurch stark beunruhigte deutsche öffentliche Meinung, aus dem vorliegenden Material einige besonders schwerwiegende Tatsachen zur Kenntnis der Polnischen Regierung zu bringen. Sie bemerkt dabei, daß sie sich bei dem Umfange dieses Materials versagen muß, Einzelfälle anzuführen, daß aber die Unterlagen für die geschilderten Tatsachen auf Wunsch jederzeit zur Verfügung gestellt werden können.

Willkürliche Verhaftungen von Deutschen sind in allen Teilen des abgetretenen Gebietes bis in die allerletzte Zeit vorgekommen. Mitunter wird ein willkürlicher Grund vorgeschützt, der sich nachher als nicht stichhaltig erweist. In einigen Fällen ist den Betreffenden sogar der Grund der Verhaftung überhaupt nicht bekanntgegeben worden. Eine Vernehmung findet häufig erst nach längerer Haft statt.

[8] Verschiedentlich sind solche ohne ersichtlichen Grund verhafteten Deutschen aus ihrer Heimat abtransportiert worden; über ihren Verbleib wurden die Angehörigen nicht unterrichtet, so daß sie keine Nachforschungen anstellen konnten.

Die Behandlung der Inhaftierten läßt oft sehr zu wünschen übrig. Über Unterbringung in Räumen, welche zur Aufnahme von Menschen nicht geeignet erscheinen, sowie über zu enge Belegung dieser Räume, mangelnde Lüftung und Heizung, unzureichende Kost und gänzlich mangelnde Bewegungsfreiheit wird verschiedentlich geklagt. Daß die Verhafteten häufig mit allerlei Gesindel und Verbrechern niedrigster Sorte zusammen eingesperrt werden, verursacht um so stärkere Erregung der öffentlichen Meinung, als es sich in den meisten Fällen um angesehene Bürger, Beamte, Geistliche und führende Männer des Wirtschaftslebens handelt.

Völlig schutzlos bleiben die Gefangenen oft gegenüber Beschimpfungen, Mißhandlungen, Beraubungen und Erpressungen durch das untere Gefängnispersonal oder durch Militärpersonen.

In verschiedenen Fällen hat die Verhaftung und die mit ihr verbundene schlechte Behandlung das Ziel der wirtschaftlichen Verdrängung des Betreffenden erreicht und ihn zum Verkauf seines Besitztums gefügig gemacht.

Obwohl die Polnische Regierung das feierliche Versprechen abgegeben hatte, die Bevölkerung deutscher Abstammung nicht zum Heeresdienst heranzuziehen, ehe sie nicht allgemein von ihrem Optionsrecht Gebrauch machen konnte, haben in verschiedenen Bezirken Musterungen stattgefunden, in denen die Deutschen, falls sie nicht in das polnische Heer eingereiht werden wollten, zur vorzeitigen Abgabe einer Optionserklärung gezwungen wurden. Hierbei waren die Optanten in zahlreichen Fällen Beschimpfungen und Mißhandlungen ausgesetzt. Verschiedentlich sind Optionsberechtigte in das polnische Heer eingestellt worden, obwohl sie erklärten, für Deutschland optieren zu wollen. In mehreren Bezirken wurden diejenigen, welche für Deutschland optiert hatten, deswegen ausgewiesen. Auch hierbei sind Mißhandlungen und Beraubungen vorgekommen. Derartige Beschränkungen des Optionsrechtes haben sich noch bis in die letzte Zeit wiederholt, obgleich inzwischen Weisungen der Polnischen Regierung zur Abstellung dieses Mißbrauches ergangen sind.

Auf der Durchfahrt durch den Korridor werden selbst in den Durchgangszügen noch immer Reisende wegen angeblicher abfälliger Äußerungen über den polnischen Staat oder wegen Unregelmäßigkeiten bei der Paßrevision aus dem Zuge heraus verhaftet und ohne Grund über Gebühr lange unter unwürdiger Behandlung festgehalten; verschiedentlich sind solche Reisende beschimpft, mißhandelt und ihrer Habe beraubt worden.

Aber auch den in Polen verbliebenen Deutschen ergeht es vielfach nicht besser. Auch hier liegen zahlreiche Fälle von Beschimpfungen vor. Auf die berechtigten Empfindungen der deutschen Minderheit wird häufig nicht die erforderliche Rücksicht genommen; Denkmäler, die der alteingesessenen Bevölkerung heilig und teuer waren, sind in Thorn und anderen Orten besudelt und beschädigt worden; Deutsche werden unter Drohungen gezwungen, polnische Lieder zu singen; Verhaftete müssen sich bei Revision der Zelle als "Deutsches Schwein" melden; Leute, die soeben für Deutschland optiert haben, werden gezwungen, Polen hochleben zu lassen; Evangelische müssen an Stelle ihrer Konfession angeben, sie seien "verrückt". Große Erbitterung hat die körperliche Untersuchung angesehener Frauen und Mädchen in Soldau nach dem Abzüge der Bolschewisten hervorgerufen. Beraubungen und Mißhandlungen von Deutschen sind an der Tagesordnung. Polnische Beamte dulden solche Vergewaltigungen, ohne einzuschreiten.

[9] Verschiedentlich ist die Tatsache, daß die Deutschen um ihres Deutschtums willen verfolgt werden, von amtlichen Organen ganz offen zugestanden worden. So hat der Distriktskommissar in Argenau einem für Deutschland optierenden Landwirt angedroht, daß man seinen in Polen verbleibenden Vater, einen einarmigen Invaliden, nicht lange auf seinem Anwesen belassen werde.

Vom Starosten in Putzig wurde Ende August der verschärfte Belagerungszustand verhängt, weil die dortigen Militärpflichtigen größtenteils für Deutschland optiert hatten. Weiter hatte er verfügt, daß alle ansässigen Deutschen ihre Optionserklärung bis Ende September d. J. abzugeben hätten, widrigenfalls sie der sofortigen militärischen Einziehung unterliegen würden. Die für Deutschland Optierenden müßten binnen 12 Monaten das Land verlassen.

Der Starost von Graetz hat vor kurzem die deutschen Bürger der Stadt in einem Saale versammelt und sie durch Militär mit vorgehaltenem Bajonett zwingen lassen, ein von ihm verfaßtes Telegramm an die Deutsche Regierung zu unterzeichnen, in dem gegen die angebliche Bedrückung polnischer Bürger in Deutschland Stellung genommen wird.

Eine systematische Deutschenhetze betreibt der Starost von Kulm, indem er in öffentlichen Versammlungen auf dem Marktplatze zu Kulm die Volksmenge gegen die Deutschen aufhetzt. Hierbei hat er unter anderem erklärt, wenn ein Deutscher wage, irgend etwas gegen den polnischen Staat zu sagen, so solle man ihn mit Stricken binden und ihn durch die Straßen zur Starostei oder aufs Gericht schleifen. Ende August hat er die Reichsdeutschen und diejenigen, welche die Optionserklärung für Deutschland abgegeben hatten, kurzerhand ausgewiesen und sie bei ihrem Abzuge aufs ärgste gepeinigt. Die von ihm angeordneten willkürlichen Verhaftungen haben unter der deutschen Bevölkerung große Beunruhigung und Erbitterung hervorgerufen.

In einer ganzen Reihe von Fällen sind Deutsche von Polen ermordet worden. Manche dieser Verbrechen sind bisher ungesühnt geblieben. In anderen Fällen ist die erbetene Aufklärung bisher nicht erfolgt.

Wo es sich um Erschießungen durch Grenzsoldaten handelt, haben diese in mehreren Fällen die deutsche Grenze überschritten und auf deutschen Boden widerrechtlich von ihrer Waffe Gebrauch gemacht. Um sich der Strafe zu entziehen, haben sie sogar mehrfach die Leiche auf polnisches Gebiet geschafft. Die meisten Fälle lagen so, daß ein Waffengebrauch überhaupt nicht gerechtfertigt war.

Die vorstehende Zusammenstellung erbringt den erdrückenden Beweis dafür, daß der Deutsche in Polen z. Z. keineswegs die feierlich zugesagte Gleichberechtigung genießt, daß er vielmehr fast überall geradezu als vogelfrei gilt.....




Nr. 6
Rede des Volksdeutschen Abgeordneten Spickermann
vor dem Polnischen Sejm, 23. Januar 19232

Auszug

"Hoher Sejm! Im Namen der Deutschen Fraktion habe ich die Ehre, folgende Erklärung abzugeben:

..... Wir bedauern feststellen zu müssen, daß der Herr Ministerpräsident in seinem Exposé eine Wendung gebraucht hat, die es beinahe so erscheinen [10] läßt, als wenn auch ihn dieses tagein tagaus gespritzte chauvinistische Gift ein klein wenig infiziert hätte. Er hat, wie wir meinen, mit vollem Vorbedacht seine Ausführungen über die völkischen Minderheiten mit der Feststellung eingeleitet: 'Polen ist ein Nationalstaat!' Das ist ein verhängnisvolles Wort. Diese Auffassung hat ja gerade die großen Massen unserer polnischen Mitbürger zu der Schlußfolgerung gelangen lassen: 'Also haben die Fremdstämmigen hier nichts zu suchen, sie sind - was in tausend Varianten immer wiederholt wurde - nur geduldete Gäste. Wollen sie sich als mehr betrachten, so müssen sie aus dem Lande gedrängt werden.' Wir haben lange genug unter dem unerträglichen Zustand gelitten, den solche Argumentation geschaffen hat. Der gesamte Apparat der inneren Verwaltung hat ausgesprochenermaßen unter der Parole gestanden: Kein Mittel ist unversucht zu lassen, die polnischen Bürger deutschen Stammes aus dem Lande zu treiben, das Land zu entdeutschen, zu purifizieren, wie man das so geschmackvoll auszudrücken beliebte. Auch das brutalste Mittel ist zu diesem Zwecke erlaubt. Selbst der gesetzgebende Sejm hat sich nicht gescheut, sich bei seiner gesetzgeberischen Arbeit von solchen Gedankengängen leiten zu lassen. Er hat damit in den breitesten Massen das Gefühl für Recht und Unrecht auf das schwerste erschüttert. Wird es gesetzlich sanktioniert, einen Deutschen um seines Volkstums willen aus seinem Eigentum zu entfernen, und das unter Modalitäten, die ihn um sein gesamtes Vermögen bringen und die ihn als bettelarmen Flüchtling in die Fremde ziehen lassen, dann kann man es dem Manne von der Straße nicht verübeln, wenn auch er das Gefühl für die Unverletzlichkeit des Eigentums verliert. Was Wunder, wenn bis weit hinauf in die Oberschichten die Moral auf das schwerste erschüttert ist.

Wir gehen vielleicht nicht zu weit, wenn wir gerade in der Klassifizierung der Staatsbürger, die eben zurückgeht auf den irrigen Begriff des Volksstaates, die letzte Wurzel alles Übels auf allen Gebieten des Staatswesens erblicken. Und nicht zuletzt auch die Ursache dafür, daß vielfach das Vertrauen des Auslandes zu unserem Wirtschaftsleben verlorengegangen ist. Es gilt heute - auch in den Zentralinstanzen - als reine Selbstverständlichkeit, daß die Unternehmungen Deutscher mit ihren Angeboten und Forderungen ausscheiden, wenn sie mit polnischen Unternehmungen in Konkurrenz stehen. Wenn es als patriotische Pflicht gilt, den verdienstvollsten und kenntnisreichsten Leitern industrieller Werke den Laufpaß zu geben und in den großen gesellschaftlichen Organisationen die deutschen Teilhaber rücksichtslos auszumerzen, wenn jedes, aber auch jedes Mittel willkommen ist, den deutschen Gewerbetreibenden, den deutschen Fabrikherrn zur Abgabe seines Unternehmens an einen Polen zu zwingen, mußte da nicht unser gesamtes Wirtschaftsleben aufs schwerste erschüttert werden, mußte da nicht unter den neuen Herren die Produktivität der Betriebe und mit ihr die Steuerkraft zurückgehen, mußte nicht das Vertrauen der langjährigen ausländischen Geschäftsfreunde verlorengehen? ....

Leicht wird es nicht sein, alle die Eiterbeulen auszubrennen, die das Gift des nationalen Chauvinismus am Volkskörper hat aufquellen lassen; es wird auch kaum genügen, die äußeren Krankheitserscheinungen zu bekämpfen, wenn nicht gleichzeitig der Krankheitserreger, das im Dunkeln fortwirkende Gift, beseitigt wird. Darum ist heute die klipp und klare Beantwortung der Frage unabweislich: Ist Polen ein Nationalstaat oder ist es ein Nationalitätenstaat?

Wir hätten vielleicht der Feststellung des Herrn Ministerpräsidenten - Polen ist ein Nationalstaat - nicht eine so entscheidende Bedeutung beigelegt, [11] wenn nicht der Herr Ministerpräsident im unmittelbaren Anschluß an diese Feststellung die Sonderrechte der Minderheiten allzu eng dahin umgrenzt hätte, daß sie befugt wären, ihre sprachliche und religiöse Eigenart frei zu pflegen. Da fehlt das Wesentlichste! Für uns Deutsche in Polen kommt aber kaum die Pflege religiöser Eigenart in Frage, denn wie wir Deutschen einerseits den verschiedenen Religionsgemeinschaften angehören, sind wir auf der anderen Seite allesamt mit unseren polnischen Mitbürgern in den gleichen Religionsgemeinschaften verbunden, in Gemeinschaften, die einen Unterschied der völkischen Zugehörigkeit nicht kennen. Daß es die Episkopate der größten Religionsgemeinschaften mit den von ihnen gelehrten christlichen Lebenswahrheiten für vereinbar halten, die ihnen anvertrauten Deutschen zur Aufgabe ihres Deutschtums zu bestimmen, und daß der nationale Chauvinismus auch in die Amtsstuben der polnischen Geistlichkeit beider Bekenntnisse und auf die Kanzeln seinen Weg gefunden hat, steht auf einem anderen Blatte.

Ebenso ist die Pflege der deutschen Muttersprache losgelöst von den staatlichen Belangen. Unerhört zwar, daß sich polnische Chauvinisten noch immer für befugt halten, unter Verletzung des Postgeheimnisses ohne jede gesetzliche Ermächtigung unsere Korrespondenz zu öffnen und zu kontrollieren, bedauerlich, daß man es für geboten hält, uns nach wie vor mit Spitzeln und Spionen zu umgeben. Aber sei's! Wir haben nichts zu verheimlichen. Wen unser Familienleben interessiert, mag ruhig in unsere Interna Einblick haben. Aber so weit ist wohl bisher noch niemand gegangen, daß er uns im eigenen Heim im Gebrauche der Muttersprache behindern wollte.

Sollte indessen der Herr Ministerpräsident unter dem freien Gebrauch der Muttersprache ein Recht verstehen, das über die Grenzen des Privatlebens hinausreicht, ein Recht, das sich in der Öffentlichkeit auswirkt, so bitten wir, dieses Recht für uns praktisch werden zu lassen.

Aus den Gemeindekörperschaften in den westlichen Woiwodschaften sind wir fast restlos hinausgedrängt wegen angeblich ungenügender Kenntnis der polnischen Sprache; im oberschlesischen Sejm ist dieser Tage ein Gesetz zur Annahme gelangt, das den ausschließlichen Gebrauch der polnischen Sprache auch in solchen Gemeindevertretungen vorschreibt, die sich in der Hauptsache aus Deutschen zusammensetzen, und das 5 Monate, nachdem Oberschlesien an Polen gefallen ist, also nach Ablauf einer Periode, in der es beim besten Willen nicht möglich war, die polnische Sprache zu erlernen. Wir stellen nur ungern Vergleiche mit der Vergangenheit an, aber wir können es nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, daß in den polnischen Kreisen der ehemaligen Provinz die polnische Sprache neben der deutschen noch drei Menschenalter nach Einverleibung dieser Provinz in den preußischen Staat als Amtssprache zugelassen war. Wir dürfen ferner darauf hinweisen, daß in diesen Tagen der Senat den Gebrauch der Minderheitensprache selbst für die Kommissionssitzungen abgelehnt hat. Mit dem 'freien' Gebrauch der Muttersprache ist es also ein eigen Ding.

Was uns aber der Minderheitsschutzvertrag als höchstes Gut gegeben hat und was für uns die Magna Charta unserer Existenz ist, das ist die Möglichkeit, auch im polnischen Staat an unserem Volkstum festhalten zu dürfen, ohne daß uns deshalb eine differentielle Behandlung zuteil werden darf....

Wenn uns der Minoritätenschutzvertrag zur Erhaltung und zur Pflege unseres Volkstums besondere Rechte auf kulturellem Gebiete zuerkannt hat, Rechte, die - worauf der Herr Ministerpräsident ja hinwies - auch in unserer Verfassung verankert sind, so sind alle diese Sanktionen papierene Lettern ge- [12] blieben. Der Minoritätenschutzvertrag datiert vom Jahre 1919, die Verfassung vom Jahre 1921! Entgegen aber den dort feierlichst verbrieften Rechten ist in den vergangenen Jahren bis auf den heutigen Tag alles getan worden, die deutsche Schule zu zerschlagen. Sei es, daß die Lokalinstanzen entsprechende Instruktionen der Zentrale in der Hand hatten, sei es, daß sie nationalistisch eingestellt, den Intentionen ihrer Vorgesetzten am besten zu entsprechen glaubten, wenn sie den offiziellen Weisungen entgegenhandelten: tatsächlich ist der Erfolg ihrer systematischen, zielsicheren Arbeit, daß das insbesondere in den Westmarken einst so blühende deutsche Schulwesen in Trümmern liegt. Man hat uns unsere Schulgrundstücke, unsere Schulgebäude, die wir und unsere Väter aus eigenen Mitteln aufgebaut hatten, weggenommen; man hat uns immer wieder daran gehindert, andere Gebäude zur Einrichtung von deutschen Privatschulen zu erwerben, man hat die alten deutschen Lehrer dadurch zur Abwanderung veranlaßt, daß man von ihnen in kürzester Frist die Erlernung der polnischen Sprache verlangte - eine Unmöglichkeit für alle die, die in überwiegend oder gar rein deutschen Gemeinden amtierten. Und heute, nachdem wir uns, so gut es gehen wollte, Hilfskräfte für die Unterrichtserteilung herangebildet haben, bestreitet man ihnen die Lehrbefähigung; den seminaristisch vorgebildeten Deutschen aber werden Schwierigkeiten bei der Anstellung gemacht. Endlich sollen vollqualifizierte Lehrpersonen, die deutsche Reichsangehörige sind, auch an deutschen Privatschulen nicht mehr unterrichten dürfen. Dazu kommen die bekannten Machenschaften, die uralte Schulsysteme in einzelne Ortschaften auseinanderreißen, damit die Schülerzahl unter 40 herabgedrückt wird und so der Anspruch auf eine öffentliche Schule wegfällt.

So sieht die Freiheit in der Pflege unserer kulturellen Eigenart und die Fürsorge des Staates für das deutsche Schulwesen aus!

Wir hoffen, Herr Ministerpräsident, daß es jetzt anders werden wird. Es gehört in der Tat ein eiserner Besen dazu, hier Wandel zu schaffen! Eine grundlegende Änderung des ganzen Systems! Wenn Starosten, Polizeibeamte und Schulmänner weiter dem Okazistenverein angehören dürfen, einem Verein, der sich als Hochburg nationalistischer Tendenzen die Entdeutschung des Landes zum Ziele gesetzt hat, so ist es ausgeschlossen, daß die andersgerichteten Intentionen des Herrn Ministerpräsidenten ihre Verwirklichung finden...."




Nr. 7
Der Deutsche Generalkonsul in Posen an das Auswärtige Amt
Bericht
Posen, den 12. April 1923

Am 10. d. M. ist Ministerpräsident General Sikorski in Posen eingetroffen und hat im Schloß Wohnung genommen.

Bereits vor der Ankunft Sikorskis wurde der Zweck seiner Reise nach Posen in der hiesigen Presse lebhaft besprochen. Der Kurjer Poznanski bringt die Reise des Ministerpräsidenten mit der Westmarkenpolitik in Zusammenhang. "General Sikorski will", so schreibt der Kurjer, "sich die Sympathien des nationalen Lagers sichern, und zwar dadurch, daß er die Entdeutschung der Westmarken im Sinne der Forderung der Bevölkerung Großpolens und Pommerellens vorschiebt." Der Dziennik Poznanski erklärt, daß der Aufenthalt des Ministerpräsidenten in Posen vermutlich zur Lösung der brennenden Fragen, unter anderem der Liquidation deutscher Güter, beitragen würde.

[13] Nach den Audienzen fand am Abend im Rathaus ein feierlicher Empfang für den Ministerpräsidenten statt. Er wurde dort von dem Stadtpräsidenten Ratajski mit einer Begrüßungsrede empfangen, in der Ratajski hervorhob, daß die deutsche Gefahr nicht nur an den Grenzen bestehe, sondern auch im Inlande. Sie werde nicht eher beseitigt sein, bis alles deutsche Land in polnische Hände übergegangen sei und der Feind nicht mehr unnötig im eigenen Lande ernährt zu werden brauche. Großpolen könne ferner nicht mehr ertragen, daß als Folge der Politik der Polnischen Regierung auf jeden deutschen Eindringling einige 10 Morgen Land mehr als auf einen polnischen Bürger fielen.

Den Ton, den der Stadtpräsident Ratajski angeschlagen hatte, nahm Sikorski in seiner Antwortrede auf. Die Rede wird in einem Zeitungsabschnitt der Posener Neuesten Nachrichten, dessen Inhalt sich mit der durch die polnische Presse erfolgten Wiedergabe deckt, gehorsamst beigefügt. Die Rede hat hier einen starken Eindruck gemacht und auf die deutschen Kreise sehr alarmierend und deprimierend gewirkt. Es erscheint mir dringend erforderlich, daß von deutscher Seite eine Entgegnung erfolgt, damit das hiesige Deutschtum von einer überstürzten Massenabwanderung zurückgehalten wird.

Ganz besonders scharf wird in der Rede die Liquidationsfrage behandelt. Die Regierung werde spätestens binnen eines Jahres die Liquidation deutscher Güter und die Entdeutschung der westlichen Woiwodschaften rücksichtslos durchführen. - Auffallend ist auch der scharfe Ton, den er gegen die Freie Stadt Danzig gebrauchte. "Danzig ist nur eine freie Stadt, und seine ganze Zukunft hängt von Polen ab. Die Polnische Regierung hat nicht die Absicht, die bisherige Nachgiebigkeit weiterzuüben."

In der Pressekonferenz hat Sikorski nochmals die Liquidationsfrage eingehend berührt und zugesichert, daß die Regierung für Liquidationen deutscher Güter, die unverzüglich durchgeführt werden müßten, materielle Mittel in Form von langfristigen Krediten gewähren würde.

Am 11. d. M. hat General Sikorski Posen wieder verlassen.

Stobbe

Anlage
Auszug aus den Posener Neuesten Nachrichten vom 12. April 1923

Bei dem feierlichen Empfang im Rathaus hielt Ministerpräsident Sikorski folgende Rede:

"..... Es liegt im unmittelbaren Interesse der Minderheit, daß dieser historische Prozeß, nach langer Bedrückung durch die Preußische Regierung, dieser Prozeß, den man Entdeutschung der westlichen Woiwodschaften nennt, in einem möglichst kurzen und raschen Tempo vollführt werde. Es wurden in dieser Hinsicht übrigens ganz entschuldbare Fehler begangen. Solange Polen kein näher bezeichneter Wert war, konnte es sich nicht erlauben, elementare Gerechtigkeit auszumessen, weil jeder Justizakt auf internationalem Boden als Gewaltakt gehindert wurde.

Der Starke hat immer Recht, und der Schwache wird als besiegt angesehen, und man schiebt ihn auf den zweiten Plan. Ich stelle fest, daß am Vortage der Aufnahme der Liquidierungsaktion deutscher Güter, die der Herr Stadtpräsident erwähnte, unsere bisherige Nachgiebigkeit und unser Schwanken [14] einer radikalen Änderung unterliegen müssen. Die Regierung, die ich repräsentiere, will, daß diese Angelegenheit innerhalb eines Jahres bestimmt geregelt wird.

Die, welche in der Zeit der Gefahr, in der sich das Vaterland befand, zugunsten eines fremden Staates optiert haben, müssen auch die Konsequenzen dieser Option tragen. Je schneller diese Angelegenheit erledigt wird, desto eher wird auch die für unseren inneren Frieden notwendige Konsolidierung der Verhältnisse eintreten.

Was nun die deutschen Kolonisten, die Eindeutschung der Städte und die Liquidierung der dazu bestimmten Industrieunternehmen betrifft, so betone ich, daß wer immer uns vor der Welt des Mangels an Humanität bezichtigt, nicht im Einklang ist mit der tatsächlichen Lage. Polen war human, ist human, und es ist möglich, daß sogar allzu große Humanität unseren Staat öfters verschiedenen Gefahren ausgesetzt hat....."

Unmittelbar nach dem Empfang im Rathaus fand im Kabinett des Stadtpräsidenten eine Pressekonferenz statt, an der die Vertreter fast aller Posener Zeitungen teilnahmen. Der Ministerpräsident gab hier mehrere Informationen über den Stand der Liquidierung.

Was die Optanten betrifft, so erklärte General Sikorski, daß die Regierung diese Angelegenheit in sehr verwickeltem Zustande übernommen habe. ..... Über die Kolonisten äußerte sich der Ministerpräsident, daß die gegenwärtige Politik der schnellen Liquidierung weitergeführt werden wird und daß es im Interesse der Kolonisten selbst liege, die Liquidierung selbst am raschesten durchzuführen. Die Ausweisung von 160.000 Optanten wird das polnische Element in Posen und Pommerellen stärken.




Nr. 8
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amts an den Polnischen Gesandten
Berlin, den 18. Juli 1923

Herr Gesandter!

Auf die Note vom 16. Juni d. J. Nr. 3630/233 beehre ich mich folgendes zu erwidern:

Seit dem Zeitpunkt, in welchem einige früher preußische Provinzen an die Polnische Republik übergegangen sind, hat weit über eine halbe Million Deutscher, die zum größten Teil dort seit langem angesessen waren, dieses Gebiet verlassen. Die Umstände dieser Abwanderung, die für die Betroffenen vielfach Verarmung und Elend mit sich brachte, beweisen, daß sie in der Mehrzahl der Fälle nicht freiwillig vor sich ging. Daß diese Entdeutschung der westlichen Provinzen Polens planmäßig geschieht und ein politisches Ziel bildet, das nicht nur von nationalistischen polnischen Parteien, sondern auch von den polnischen Behörden bis zu den höchsten Spitzen hinauf angestrebt und gefördert wird, hat der frühere Ministerpräsident Polens, Sikorski, in seiner Rede im Rathaus in Posen am 10. April d. J.4 unzweideutig ausgesprochen.

[15] Die Haltung der nachgeordneten Behörden in Polen entspricht diesem Grundsatz und diese Äußerungen von autoritativer Seite verbunden mit dem Vorgehen der unteren Behörden haben in der Tat in Deutschland den Eindruck erwecken müssen, daß die Toleranz der Polnischen Regierung, von der die Note vom 16. Juni spricht, auf die deutsche Minderheit in Polen keine Anwendung findet.

Im übrigen gestattet sich die Deutsche Regierung darauf hinzuweisen, daß das Vorgehen der Polnischen Regierung auch mit den bestehenden Verträgen und den allgemeinen Regeln des Völkerrechts nicht in Einklang steht. Über die Frage der Rechtmäßigkeit des polnischen Vorgehens wird in einer wichtigen Beziehung der Ständige Internationale Gerichtshof im Haag sich demnächst gutachtlich äußern. Mit Bedauern muß aber die Deutsche Regierung feststellen, daß polnische Behörden, obwohl seit einer Reihe von Monaten in Dresden Verhandlungen über die Regelung der Staatsangehörigkeitsfragen schweben, fortfahren, auch in solchen Fällen Ausweisungen vorzunehmen und sogar zur Liquidation des Eigentums zu schreiten, in denen strittig ist, ob der Betroffene deutscher oder polnischer Staatsangehöriger ist. Gerade dieses Vorgehen, das auf das Bestreben schließen läßt, auch in ungeklärten Fällen vollendete Tatsachen zu schaffen, nur um jene Entdeutschungsaktion möglichst schnell durchzuführen, dürfte den Herrn Preußischen Ministerpräsidenten zu seinen Ausführungen veranlaßt haben.

Das Auswärtige Amt beehrt sich weiter nachdrücklich der in der Note vom 16. Juni zum Ausdruck gebrachten Auffassung zu widersprechen, als seien die Äußerungen des Herrn Preußischen Ministerpräsidenten der Ausfluß einer "conviction hostile" oder einer "agressivité évidente". Wenn in Deutschland an irgendeiner Stelle unfreundliche Stimmen gegen Polen laut waren, so sind sie stets nur die Reaktion auf Kundgebungen und Maßnahmen von polnischer Seite. Das Auswärtige Amt darf in diesem Zusammenhange daran erinnern, daß der Polnische Außenminister Herr Seyda in seinem Exposé vor der Senatskommission für auswärtige Angelegenheiten am 8. Juni, also unmittelbar vor der Rede des Herrn Preußischen Ministerpräsidenten, Ausführungen gegenüber Deutschland gemacht hat, die notwendig einen scharfen Widerhall wecken mußten. Am 19. Juni hat ferner der Polnische Staatspräsident Herr Wojciechowski in Kattowitz eine Rede gehalten, in der die deutsche Kultur als perfide und Deutschland als ein Staat hingestellt wird, dem Gewalt über Recht geht. Auf zahlreichen Kundgebungen hervorragender polnischer Politiker in Wort und Schrift, die sogar das Verbleiben Ostpreußens in deutschem Besitz als eine Gefahr für Polen bezeichnen, darf in diesem Zusammenhange ebenfalls kurz hingewiesen werden. In allen diesen Äußerungen kommt tatsächlich ein Geist der Aggressivität und der Feindseligkeit zum Ausdruck, der gelegentlichen deutschen Äußerungen über die Entdeutschungspolitik Polens durchaus nicht innewohnt.

Den verantwortlichen Stellen des Deutschen Reiches liegt daran, die nachbarlichen Beziehungen zu Polen zu regeln und Reibungsflächen zwischen beiden Staaten zu beseitigen. Die parallelgehende Geldentwertung in Deutschland und in Polen hat neuerlich wiederum bewiesen, wie eng beide Staaten wirtschaftlich verbunden und wie sehr sie beide an einer Herstellung korrekter Verhältnisse interessiert sind. Die Deutsche Regierung benutzt die Gelegenheit festzustellen, daß ihrerseits nichts unternommen ist, was irgendwie der Entwicklung derartiger Beziehungen zwischen den beiden Staaten hinderlich sein könnte. Wenn Zwischenfälle wie der vorliegende trotzdem eintreten, so kann [16] das Auswärtige Amt die Ursache nur in jenen Kundgebungen und Maßnahmen von polnischer Seite finden, die in allen deutschen Kreisen als speziell gegen Deutschland gerichtet empfunden werden müssen.

Genehmigen Sie, usw.

Frhr. von Maltzan




1Anlage zur Note des Vorsitzenden der Deutschen Friedensdelegation in Versailles an den Präsidenten der Konferenz von Versailles vom 29. Mai 1919. ...zurück...

2Die Rede wurde namens der Deutschen Fraktion im Verlauf der Debatte über eine Regierungserklärung des Polnischen Ministerpräsidenten Sikorski gehalten. ...zurück...

3In dieser Note hatte der Polnische Gesandte gegen eine Erklärung protestiert, in der sich der Preußische Ministerpräsident am 9. Juni im Preußischen Landtag gegen die Minderheitenpolitik Polens gewandt hatte. ...zurück...

4Vgl. Nr. 7. ...zurück...


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